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Eduard Grisebach (1845–1908)

Ein neues Mädchen

(Aus dem Neuen Tannhäuser)

Ein neues Mädchen! Und sie wohnt
In einer neuen Gegend;
Durch fremde Straßen wandr ich zu ihr,
Ein weiter Weg, und es regent.

Die Gaslaternen brennen schon,
Denn es beginnt zu schummern.
Ich sehe die hohen Häuser hinauf
Und spähe nach den Nummern.

Und näher und näher komm ich jetzt,
Da steht schon Nummer siebzig,
Und neunundfünfzig wohnt sie ja,
In die mein Herz verliebt sich.

Das Fenster ist hell, sie ist zu Haus,
Nun kling! ich leise, leise ...
»Wer ist da?« – Liebe Klara, ich!
Sie öffnet heimlicherweise. –

Kennst du mich noch, so küsse mich!
Sie küßt mich ohne Zaudern.
»Nun komm! s ist warm und schön bei mir,
Nun wollen wir traulich plaudern.«

Es dampfte der Kaffee auf dem Tisch,
Schneeweiß war die Serviette,
Und weil an Stühlen Mangel war,
So setzten wir uns aufs Bette.

Sie sprach so lieblich, so klug und gut,
Die Lippen lachten so blühend.
Wie zart war ihre schmale Hand!
Die schwarzen Augen wie glühend!

Der Efeu rankt am Fenster hinauf,
Man kann nichts sehen von drüben,
Drum leuchte, zitternde Kerze, nur
Auf unser zitterndes Lieben.

Da hat ihr Leib mit meinem Leib
Zwiesprache heimlich gepflogen,
Da wurden wir eins, wie zwei Wellen im Meer
In eine zusammenwogen.

Ich war in ihr, sie war in mir:
Wie ineinander brennen
Zwei Flammen, ein Körper, eine Seel,
Wir waren nicht zu trennen.

Ein Schmerzensseufzer, ein Ruf der Lust,
Notschrei und Wonnebeben –
Erlösung und die Sünde ist das.
Das ist der Tod und das Leben!


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