Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Dichterleiden

(An Nikolaus Lenau)

               

Im Irrenhaus, am Fenster
Lehnt oft ein blasser Mann
Und starrt durchs Eisengitter
Zum Himmel still hinan.

Erloschen ist sein Auge,
Das einst voll Seele war,
Ein leeres Blatt die Stirne
Und welkes Laub sein Haar.

Das Herz, dem einst entlodert
Manch Lied, der Welt zur Lust,
Als ausgebrannte Kohle
Liegt's nun in kalter Brust.

Wo bist du, lohe Flamme,
Die hell zum Äther schlug?
Wo bist du, Stolz der Seele,
Verachtend Lug und Trug?

Wo bist du, Macht des Sanges,
Sein heilig Eigentum,
Womit er sich erobert
Das höchste: Lieb' und Ruhm?

Wo bist du, frisches Leben,
Das Blüt' um Blüte trieb?
Der Falter ist entflohen,
Die dürre Puppe blieb.

Noch leben seine Lieder
Und freuen sich des Lichts:
Doch er ist tot, umnachtet,
Er weiß von ihnen nichts.

Sie rücken ihm vors Auge
Die Sträuße, die er band,
Er läßt sie achtlos gleiten
Aus seiner schlaffen Hand.

Die Lettern, die's verkünden,
Was er gefühlt, gedacht,
Er zählt sie mit den Fingern,
Ein töricht Kind, – und lacht.

Sie scheinen ihm zu rufen:
›O sieh, wir sind's, ja, wir!
Du bist's, der uns geschaffen,
Wir sind ein Stück von dir‹.

Er schaut – es schaut so reglos
Kein Baum im tiefsten Tann –
Die abgehaunen Äste
Zu seinen Füßen an.

»Das tat die Hand des Wahnsinns!«
So klagt es um ihn her;
»Was er so schön gesungen,
Er weiß, er kennt's nicht mehr«.

Das tat die Hand des Wahnsinns?!
Das tut auch die der Zeit.
Wer sagt, ob nicht den Dichter
Zu größrer Qual sie weiht?!

Wenn abgeblüht die Jugend,
Die Liebesglut versprüht,
Wenn kalte Spätherbstschauer
Durchfrösteln sein Gemüt;

Wenn er im weiten Walde,
Den einst sein Lied durchweht,
Von all den ältern Bäumen
Schon bald als letzter steht;

Wie sehn, wenngleich kein Wahnsinn
Die Seel' ihm noch umspann,
Die Lieder seiner Jugend
Den Altgewordnen an?

Was jetzt noch frisch und innig
Zu aller Herzen spricht,
Er weiß, das er's gesungen,
Doch er begreift es nicht.

 


 


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