Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Schwärmerei

        Ich denke mir ein Land voll Ruh' und Schweigen,
Wo nichts des Friedens heilig Siegel bricht;
Wo kühlend sich aus duft'gen Palmenzweigen
Ein Kranz der Lieb' um alle Wesen flicht;
Dort ist ein ewig Blau des Himmels Farbe,
Und fremde Dinge sind dort Wund' und Narbe.

Wie mit den Menschen Menschen hier verkehren,
Verkehren mit den Engeln Engel dort;
Dort ist kein Zank, kein Dulden, kein Entbehren,
Dort hat die Sprache für den Haß kein Wort.
Dort ist ein ewig Schauen und Genießen,
Ein namenloses Ineinanderfließen!

Ich denke mir als Fürsten dieses Reiches
Den ew'gen Schöpfer selbst in seiner Huld,
Nicht wie er jetzt sein Angesicht, sein bleiches,
Abwendet von der Welt und ihrer Schuld, –
Nein, lächelnd, wie er einst mit Vatermienen
Die Menschen schuf und Mensch war unter ihnen.

Auch denk' ich dort den leisesten Gedanken
An das, was hier uns kaum ein Fehltritt deucht,
So fern mir außer des Begriffes Schranken
Wie uns das Ärgste, was die Sünd' erreicht;
Für Lauheit denk' ich, gilt dort unsre Tugend,
Für kaltes Alter unsre wärmste Jugend.

Was uns ein Lamm bedünkt, ist dort ein Würger,
Wer fromm uns scheint, ist dort ein Atheist,
Ein Cherub heißt dort der gemeinste Bürger
Und kaum ein Heil'ger schiene dort ein Christ;
Ja, was uns für die Seele gilt auf Erden,
Es ist zu grob, um dort ein Leib zu werden.

Doch nicht gefühllos denk' ich mir die Wesen,
Mit denen ich bevölkre jenes Land;
In ihrem Aug' ist eine Glut zu lesen,
Wie kaum das Herz des Liebendsten sie ahnt;
Des Nahseins Ahnung ist ein Blick dort, Blicke –
Sind Küsse dort, ein Kuß – vergehn im Glücke;

Vergehn im Glück – ist Wiederaufstehen,
Und ewig wiederholt sich dies Gefühl; –
Ein solches Land denk' ich vor mir zu sehen,
Doch weiter treibt noch Schwärmerei ihr Spiel:
Ich denke dich, und du stiegst, denk' ich wieder,
So wie du bist, in dieses Land hernieder.

Und unterbrochen seh' ich schnell das Schweigen,
Das seit Äonen lautlos drüber lag;
Die Palmen rauschen huld'gend mit den Zweigen,
Der alte Tag wird Nacht vorm neuen Tag;
Die Engel lernen Wund' und Narbe kennen,
Da deine Blick' in ihre Herzen brennen.

Sie drängen sich dir nach in weißen Scharen,
Die Blicke lauschen deinem Aug' sie ab,
Mit denen einst sie, nach verrauschten Jahren,
Die Toten wecken wollen aus dem Grab;
Sie üben erst an deiner Lippen Regen
Den Zug sich ein zur Fürbitt' und zum Segen.

Die Liebe tritt vor dich hin, neigt in Demut
Ihr Angesicht und sagt, sie weiche dir;
Dir naht die Lust, sieht dich, und wird zur Wehmut,
Und niegeweinte Zähren strömen ihr;
Der alte Maßstab des Gefühls verschwindet,
Denn seine Tiefen hast erst du ergründet. – –

Und wieder denk' ich dann mir, daß du schiedest,
Wie eine liebliche Erscheinung flieht;
Die Engel trauerten, seit du sie miedest,
Die duft'gen Palmen schienen abgeblüht;
Das wunderbare Licht wär' ausgeglommen
Und das Gefühl an Wert herabgekommen.

Und wie wir Menschen von den goldnen Tagen
Bewahrt uns haben manches Lied und Wort,
So lebe dort auch in Gesang und Sagen
Die goldne Zeit, wo du dort weiltest, fort!
Das denk' ich oft und kann nicht denken, Süße,
Daß, wer dich sieht, nicht Gleiches denken müsse!

 


 


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