Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Morgengruß

        Es war noch in frühester Frühe,
Noch still lag alles umher,
Die Sonne stieg mit Mühe
Durchs wogende Nebelmeer.

Noch sah man keinen Wipfel,
Noch keinen fernen Pfad,
Vom Berge noch keinen Gipfel,
Im Tale noch keine Saat.

Die Dämpfe schweiften und streiften
Bald auf-, bald niederwärts,
Aus ihren Fittichen träuften
Den Blumen Demanten ins Herz.

Da zuckt' es mit einem Male
Durch mich und durch alles um mich,
Und regsam wurd' es im Tale,
Die Höhen ermunterten sich.

Da kam ich zu einer Fichte,
So schlank, wie ich keine noch sah;
Drum stand sie im werdenden Lichte
Zuerst auch vergoldet da.

»Frisch auf, du luftige Leiter,
Wozu denn sähst du hervor?«
So rief ich und kletterte heiter
Zum goldigen Wipfel empor.

Da saß ich auf kühliger Warte,
Ein König des kommenden Tags,
Und sah ihm entgegen und harrte
Des reichen Rubinenertrags;

Und harrte der schimmernden Perlen,
Womit er das Laub erquickt,
Der Rosen, womit er der Erlen
Erhobene Häupter schmückt.

Da harrt' ich – und endlich kam er,
Und neigte sich meiner Macht,
Und hob sich in wundersamer,
Äonen durchblitzender Pracht.

Und meiner Rolle vergaß ich,
Daß ich sein Beherrscher sei,
Und laut ihn preisend saß ich,
Und grüßt' ihn mit heiliger Scheu.

Und wie ich so sang, ihn zu grüßen,
Da flattert's um mich her mit eins:
Viel trauliche Vöglein ließen
Ihr Liedchen ertönen in meins!

 


 


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