Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Winterlied

              Das Leben hat nach innen sich geflüchtet,
Von Melodien erklingt's in Stub' und Saal,
Die Wände glühn, von Kerzenschein umlichtet,
Und seine Fahne schwingt der Karneval.

Ein andrer Lenz, ein Traumlenz junger Herzen
Mit Wangenblüt' und Augensonnenschein,
Mit Seufzerlispeln und mit Liebesscherzen
Zog in die wohlverschlossnen Häuser ein.

Und außen auf der Straß' im Schneegeflocke,
Da wandelt auf und ab ein hagrer Greis,
Der Nordwind saust ihm um die Silberlocke,
Den Leib umhüllt ein Mantel starr von Eis.

Es ist der Winter, der im Mondenstrahle
Als frost'ger Wächter durch die Straße zieht,
Er hört es schallen dumpf aus Stub' und Saale,
Er bleibt ergriffen stehn und horcht dem Lied.

Er wächst empor und streckt den Hals begierig
Zu den erhellten Fenstern rings hinan,
Und guckt hinein; das Leben rasch und rührig
Bringt Leben fast in den erstarrten Mann.

Vor seine Seele kehren Bilder wieder
Von längst verblichner, längst erfrorner Lust,
Vom Auge tropft es ihm wie Tränen nieder,
Und wie ein Seufzer weht's aus seiner Brust.

»Auch ich gehört' einst, »denkt er«, zu den Jungen!
«Und zeichnet still, mit wehmutvollem Sinn,
Vergangner Träume Nacherinnerungen
Als Arabesken auf die Scheiben hin.

Schon ging der Greis, die Blumen aber blieben;
Die Leute sehn sie wohl, doch keiner ahnt,
Daß seinen Schmerz damit ein Greis geschrieben,
Den er beim Anblick junger Lust empfand!

 


 


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