Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Scheinleben

            Von dunklen Locken ist dein Haupt umkränzt,
Dein Mund ist rosig frisch, dein Auge licht,
Der Jugend unerschöpfte Fülle glänzt
Aus deinem makellosen Angesicht.

Und dennoch klagst du, seufzest immerdar,
Und nennst dich arm und nennst die Toten reich?
Und zürnst der Röte deiner Wangen gar,
Und wünschest dir: Ach wären sie schon bleich?

Der kranke Baum, das sieche Kind der Flur,
Sie senken Ast und Blatt der Erde zu;
Auf keiner Lüg' ertappt man die Natur, –
Gesteh, wer lügt, dein Antlitz oder du? –

»O tu nicht unrecht dem, der arm genug,
Ein Doppelhohn ist's, wenn du reich mich nennst;
Kann ich dafür, wenn du den Gauklertrug
Des grausam gnädigen Geschicks verkennst?

Sahst du das Grün auf einem Teiche nie,
Das seine Fläche wuchernd frisch umhüllt?
Weil seine Welle sumpft, drum grünet sie,
Kein Grün umspinnt den Quell, der lustig quillt!

Sahst du der Trümmer Schmuck, den Efeu, nie?
Wie rankt er sich voll Leben drüber hin,
Zu halten scheint er, und entkräftet sie,
Je frischer er, je schneller ihr Ruin!

Hast du auch nie ein Kirchhofgrab gesehn,
Worauf ein Blumenheer sich gaukelnd wiegt? –
Weißt du, warum sie drauf so üppig stehn?
Grad weil der Tod in seinem Schoße liegt!

Scheinleben ist's, was dunkel färbt mein Haar,
Klar macht mein Aug', die Lippen rosengleich,
Und zürnen muß ich meinen Wangen gar,
Mir heimlich wünschend: Wären sie schon bleich!« –

 


 


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