Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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An Wien

        Ein Meer von Häusern kenn' ich euch
    Und einen Dom darin,
Der einem Riesenfinger gleich
    Weist gegen Himmel hin.
Die nahen Sterne grüßen ihn,
    An ihm erlahmt der Sturm:
Und dieses Häusermeer ist Wien
    Mit seinem Stephansturm.

Und trieb mich Sehnsucht oft zurück
    Aus ferner fremder Flur,
Und sieht, ja ahnt ihn dann mein Blick
    In fernster Ferne nur:
Da möcht' ich stets mit Kindeslust
    Den Dom – o, ging' es an! –
Umarmen, pressen an die Brust,
    Und herzlich weinen dann.

Wer sagt mir, wie das kommen mag,
    Daß ich dann weinen muß,
Woher des Blutes schnellrer Schlag
    Beim Abschied und beim Gruß!
Ist's, weil der Turm so groß und frei
    Sein greises Haupt erhebt?
Ist's, weil die Stadt so schön und treu,
    Den Wächterdom umwebt?

Nein, nein, und schrumpft' auch dieser Dom
    Zu einem Quader ein,
Und schmölze dieser Häuserstrom
    Zu Hüttchen, still und klein,
Und ränn' auch ab zum Rieselbach
    Der Donau Riesenband:
Doch blieb in meiner Seele wach
    Derselbe Liebesbrand!

Es ist ein andres Hochgefühl,
    Ist eine reinre Kraft,
Die dich, mein Wien, zu meinem Ziel,
    Zu meiner Freude schafft:
Du bist ja meine Vaterstadt,
    Der Name spricht es aus:
Hegst aller meiner Hoffnung Saat,
    Umfängst mein Elternhaus!

Bist meiner Freunde Freundin, weißt
    Um meine stillste Lust,
Und trägst getreuen Sinn und Geist
    Als Orden auf der Brust.
Drum üb' ich auch des Sohnes Pflicht,
    Weil du mir Mutter bist,
Und wer dich schmäht, der ist ein Wicht,
    Wenn er ein Wiener ist!

 


 


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