Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Die Spinnerin vom Gamsgebirge

    Beim Rocken sitzt die Maid und spinnt,
    Und läßt nicht ab vom Spinnen;
Und Tag und Woch' und Mond verrinnt,
Und was sie tut, und was sie sinnt,
    Geht stets nur aufs Gewinnen.

Kein Samstagabend wird geehrt,
    Kein Psalmbuch gilt dem Mädchen:
Für sie hat nur der Rocken Wert,
Ihr Altar ist der Bleichen Herd,
    Ihr Rosenkranz das Fädchen.

Und wie die Schwestern flehn und flehn,
    Und wie die Freund' im Orte;
Sie heißt ihr Rad nur schneller drehn,
Und will vor Ärger fast vergehn,
    Und schwört die sünd'gen Worte:

»Ich spinn', und tät' ich's auch allein,
    Und mag die Vesper klingen:
Ich will nicht stets die Ärmste sein,
Ein Gut, wie keine bring' ich ein,
    Und will den Herrgott zwingen.

Dem Psalm und Betbuch bleib' ich gram,
    Und keine Mette hör' ich:
Bis von Sankt Zell der letzte kam
Von all' den Pilgern, lobesam, –
    Vernehm es, Gott, das schwör' ich!«

Sie spricht's in ihrem Frevelmut,
    Und zerrt an Rad und Rocken:
Ihr Will' ist bös, ihr Fleiß ist gut;
Es weiß ihr habbegierig Blut
    Von Andacht nichts und Glocken.

Da strafte Gott die Frevlerin
    Durchs eigene Gelüste:
Noch immer ziehen Pilger hin
Nach Zell, zu läutern ihren Sinn; –
    Wer doch den letzten wüßte?!

Und immer spann die Trotz'ge fort
    In andachtlosem Treiben,
Bis sie, verkümmert und verdorrt
Ein steinern Standbild an dem Ort,
    Zur Warnung mußte bleiben.

Da saß nun hoch am Felsenhaupt
    Die Spinnerin beim Rade:
Kein Sturmwind hat ihr's weggeraubt,
Und wer sie sah, der hat's geglaubt:
    »Daß sündig Treiben schade!«

Zwar hat die Zeit das Bild gefaßt
    Mit ihren mächt'gen Streichen;
Doch steht noch ganz des Rades Last;
Der Sturmwind läßt ihm keine Rast,
    Und saust durch seine Speichen.

 


 


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