Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

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Der Schlaf

Schlafen! – Vielleicht auch träumen! –
                Shakespeare, Hamlet III.

       

Schlafen, schlafen, ach! ja schlafen,
Ruhig, wie ein schuldlos Kind,
Mit dem sanftgehobnen Atem,
Mit den Wangen rot und lind;

Mit den süßen Wunderträumen
Von den Engeln, lieb und hold,
Von den bunten Weihnachtsbäumen
Mit dem schönen Flittergold!

Schlafen, noch sich freuen können
Der so lieben, stillen Nacht,
Schmeichelnd noch das Polster streicheln,
Das uns gar so glücklich macht!

Und mit immer matterm Auge
Nicken, blinzen, bis sich's schließt,
Und die reine Seel', entfesselt,
Ihres Elements genießt! –

Schlafen, schlafen – Himmelswonne!
Schlafen, schlafen, – Höllenpein!
Wenn die Augen, weit geöffnet,
Starren in die Nacht hinein;

Wenn sich's auf dem schwarzen Grunde
Wie in roten Ringen dreht,
Wenn die Uhr eintönig hämmert,
Oder plötzlich stille steht;

Wenn der Holzwurm pickt im Pfosten,
Wenn der Wind im Schornstein heult,
Wenn's wie Diebesschritt die Gassen
Schlurrend auf und nieder eilt;

Wenn der Mond, aus Wolken tretend,
Durch den weißen Vorhang strahlt,
Daß des Fensterrahmens Schatten
Drauf als schwarzes Kreuz sich malt;

Wenn sich dann Erinnerungen,
Bilder, Ahnungen, Ideen,
Neckend jagen, sinnlos kreuzen,
Und wie bunter Schaum zergehn;

Wenn sich jeder Schmerz des Tages
Zum gigantischen erhebt,
Bis zuletzt ein dumpfer Taumel
Seel' und Leib in Schlaf begräbt. –

Und es dämmert – und zerfoltert
Wacht man auf beim Morgenschein; –
Schlafen, schlafen – Himmelswonne!
Schlafen, schlafen – Höllenpein!

 


 


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