Johann Gabriel Seidl
Gedichte
Johann Gabriel Seidl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Stadt

              Als ich auf meinen Wanderwegen
Dies Städtchen sah zum erstenmal;
Wie traurig starrt' es mir entgegen,
Ein Zwerg von Schutt voll Wust und Qual.

Ein moos'ger Mauernkranz umschnürte
Die Häuser fast bis an den Hals,
Daß man beinahe Lust verspürte,
Sie zu entled'gen dieses Walls.

Wie abgegriffne Hüte klebten
Die Dächer ihnen auf dem Ohr,
Und nur zwei graue Türme strebten
Mit banger Scheu zur Luft empor.

Kein Fenster sah man aus der Ferne,
Die Häuser schienen blind zu sein,
Und doch blickt man auch Städten gerne,
Wie Menschen, in das Herz hinein.

Und träg' umschlich mit dumpfem Gären
Ein trüber Fluß den trüben Ort,
Als führt' er die geheimen Zähren
Unglücklicher Bewohner fort. –

Und wenig Jahre sind vergangen,
Das Städtchen, wieder liegt's vor mir;
Die Mauern, die es einst umfangen,
Sie schwanden bis zur Hälfte schier.

Kein Wall umschnürt mehr bang und peinlich
Der steinernen Gefangnen Chor,
Schon sehen Häuser, blank und reinlich,
Frei bis an Brust und Arm, hervor.

Schon lassen sie, so mag's mir langen,
Sich offen in die Herzen schaun,
Und sehen frisch mit klaren Augen
Hinaus auf Berg und Strom und Aun.

Schon tragen sie, wie Kirmeshüte,
Die roten Dächer, leicht und kühn,
Indes, wie eine goldne Blüte,
Die Turmknäuf' in der Sonne glühn.

Und auch der Strom, der träg' geschlichen,
Beschleunigt munter seinen Lauf;
Der alte Zauber scheint gewichen,
Ein neues Leben dämmert auf. –

Was gilt's, wenn ich nach Jahren wieder
Vorüberzieh' an dieser Stadt,
So fiel der letzte Wall schon nieder,
Der sie so lang' umkerkert hat.

Frei von dem Scheitel bis zum Fuße,
Steht sie enthüllt, wie eine Braut,
Und lacht entgegen froh dem Gruße,
Vor dem, aus Zwang, ihr einst gegraut.

Frei, mitten unter grünen Hügeln,
Im Sonntagsschmucke, wird sie stehn,
Und sich mit ihren jungen Flügeln
Im klaren Strom entzückt besehn. –

So, Städtchen, so enthülst im Leben
Allmählich alles sich wie du;
Hinaus, empor geht alles Streben,
Dem Lichte zu, der Freiheit zu!

 


 


 << zurück weiter >>