Henryk Sienkiewicz
Sintflut
Henryk Sienkiewicz

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15. Kapitel.

Keine Geschichte verzeichnet auf ihren Blättern, wieviele Schlachten die Republik noch mit ihren Feinden auszufechten hatte. Man kämpfte in den Wäldern, auf den Feldern, in den Dörfern, Flecken und Städten; in Preußen, Masovien, in Klein- und Groß-Polen, in Litauen und Smudien. Man rang um die Freiheit, ohne zu rasten, weder am Tage noch in der Nacht.

Jeder Zoll der Erde tränkte sich mit Blut. Die Namen der Ritter, die übermenschliche Tapferkeit, die Selbstlosigkeit des Volkes, alles ging spurlos verloren, – kein Chronist hat es verzeichnet. Aber im Volke selbst singt und erzählt man von diesen Helden, deren tapferer Verteidigung die feindliche Macht schließlich weichen mußte.

Und wie ein mächtiger Löwe, der von den Schlägen des Feindes zu Boden gestürzt eine Zeitlang wie tot daliegt, sich plötzlich erhebt, seine königliche Mähne schüttelt und durch sein Gebrüll Schrecken in die Herzen der Jäger einflößt, so erhob sich die Republik, bereit, der ganzen Welt Trotz zu bieten. Ihre Feinde hörten auf, an Beute zu denken, und fingen an zu sinnen, wie sie sich retten und unversehrt wieder nach Hause kehren könnten.

Alle neuen Bündnisse waren vergeblich, das Eindringen von neuen Heeren von Ungarn, Siebenbürglern, Kosaken und Walachen half nichts. Jeder neue Ansturm prallte an den Brüsten der Polen ab.

Nachdem Karl-Gustav sich von der Nutzlosigkeit, den Krieg fortzusetzen, überzeugt hatte, zog er sich als erster nach Dänemark Zurück. Der wetterwendische Kurfürst warf sich der Republik zu Füßen und begann selbst gegen die Schweden zu kämpfen. Die räuberischen Regimenter Rakoczys, die von Pan Lubomirski verfolgt wurden, rannten aus Leibeskräften in ihr schilfreiches Land zurück.

Friede und Ruhe begann wieder in die Ebenen Polens einzuziehen. Der König belagerte preußische Festungen, und Pan Czarniecki traf für einen Feldzug nach Dänemark Vorbereitungen, da die Republik sich nicht darauf beschränken wollte, nur den Feind aus ihrem Gebiete zu verjagen.

Städte und Dörfer fingen an wieder aus ihrer Asche aufzuerstehen; die Einwohner kehrten in ihre Häuser zurück, und der Pflug begann die verwilderten Fluren zu durchfurchen.

Der Herbst des Jahres 1657, nach dem ungarischen Kriege, verlief still. Still war es auch in Smudien. Die Laudaer, die mit Pan Wolodyjowski fortgezogen waren, waren noch im Felde; aber man erwartete sie stündlich zurück.

Währenddessen pflügten in Wolmontowicze und Pacunele die Greise und der halberwachsene Nachwuchs beider Geschlechter den Acker. Sie säten Winterkorn und bauten mit vereinten Kräften die durch den Krieg verheerten Dörfer wieder auf, damit die Krieger bei ihrer Rückkehr irgend welche Zuflucht und ein Stück Brot vorfänden.

Alexandra wohnte seit einiger Zeit in Wodokty mit Anna Borzobohata und dem Miecznik zusammen. Pan Billewicz wollte die jungen Mädchen nicht allein lassen und baute eifrig Wodokty wieder auf. Denn Wodokty mußte in möglichst guten Zustand gebracht werden, da es mit Mitruni zusammen die Einzahlung der Panna Alexandra für das Benediktinerkloster werden sollte. Zu Neujahr schon gedachte Alexandra den Nonnenschleier anzulegen. All ihr Kummer und all die erlittenen Schicksalsschläge hatten das junge Mädchen zu der Überzeugung gebracht, daß es Gottes Wille sei, daß sie den Freuden der Welt entsage. Sie fühlte sich von einer unbekannten Hand in die Nonnenzelle gestoßen, und eine unbekannte Stimme redete ihr zu: »Nur da wirst du Ruhe und das Ende aller deiner Qualen finden.«

Sie hatte beschlossen, dieser Stimme zu folgen. Aber da sie fühlte, daß ihre Seele noch nicht imstande war, mit allem Irdischen abzubrechen, so wollte sie sich durch Gebete und gute Taten für die Zukunft vorbereiten. Doch die verschiedenartigsten Nachrichten, die von allen Seiten nach Smudien kamen, störten wieder ihre guten Absichten, der Welt zu entsagen. So begann man zu munkeln, daß der berühmte Babinicz kein anderer als der berüchtigte Kmicic wäre. Alexandra glaubte das nicht. In ihr lebte noch frisch die Erinnerung an all seine Vergehen und an seinen Dienst bei Radziwill, so daß sie sich Pan Andreas keinen Augenblick in der Rolle eines solchen Patrioten denken konnte. Nichtsdestoweniger war ihre Ruhe wieder dahin, und Bitterkeit und Schmerz erwachten von neuem auf dem Grunde ihrer Seele. Gern wäre sie nun so schnell als möglich in ein Kloster eingetreten, aber alle Klöster der Umgegend waren zerstört, und die Nonnen, die sich gerettet hatten, begannen erst jetzt, sich langsam wieder zu sammeln. Und je mehr die innere Unruhe Panna Alexandras wuchs, desto eifriger suchte sie sie durch rastlose Tätigkeit zu ersticken. Sie begleitete oft den Miecznik, der die Vorwerke und umliegenden Güter bereiste, um überall nach dem Rechten zu sehen.

Einmal kehrten sie beide durch Wolmontowicze und Lubicz nach Hause zurück. Kaum sah Alexandra die ersten Häuser von Lubicz, als sie ihre Augen senkte, und zu beten anfing, um ihre schmerzlichen Gedanken zu verjagen.

»Eine Prachtbesitzung!« sagte der Miecznik nach langem Schweigen. »Sie ist zweimal so viel wert als Mitruni.«

Alexandra fuhr fort leise zu beten.

Aber in dem Miecznik erwachte der leidenschaftliche Landwirt, vielleicht auch die allen Schlachtschitzen eigne Sucht zu prozessieren.

»Mit ruhigem Gewissen kann man sagen, daß das unser ist, altes Eigentum der Billewicz', die Früchte unserer Mühen. Jener Ärmste wird wohl längst umgekommen sein, da er ja bis jetzt nicht wieder erschienen ist. Und selbst wenn er käme, so wäre das Recht doch auf unserer Seite. – Wie denkst du darüber?« »Eine verfluchte Stätte ist das! Mag aus ihr werden, was will!«

»Aber siehst du, das Recht ist auf unserer Seite. – Verflucht war sie in bösen Händen, gesegnet wird sie in guten sein! – Das Recht ist für uns.«

»Niemals! Ich will nichts dergleichen mehr hören! Der verstorbene Großvater hat sie ihm vermacht, – ihm, – ohne jede Bedingung.«

Sie schlug ihr Pferd mit der Gerte und schwieg, bis sie das offene Feld erreichten. Es war schon spät; über dem Walde stieg der Mond auf und beleuchtete das Feld mit seinem silbernen Licht.

Plötzlich erschien an einer Biegung des Weges ein Wagen, vor den ein paar Pferde gespannt waren. Mehrere Reiter umgaben das Gefährt.

»Wen fahrt ihr da?« rief der Miecznik.

Einer der Reiter hielt sein Pferd an und antwortete:

»Den Pan Kmicic. Er ist in einer Schlacht mit den Ungarn verwundet worden.«

Alexandra wurde es dunkel vor den Augen, ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen.

»Jesus, Maria!« flüsterte sie und verlor fast die Besinnung.

Sie faßte krampfhaft an die eine Seite des offenen Lastwagens und sah hinein. Ja, wahrhaftig, da lag er, Pan Andreas Kmicic, der Bannerträger von Orsza. Er lag mit dem Gesichte nach oben, der Kopf war verbunden, aber beim Lichte des Mondes konnte man seine schönen Züge erkennen, die von dem kalten Hauche des Todes erstarrt zu sein schienen. Seine geschlossenen Augen waren tief eingefallen, die blassen Lippen bewegten sich nicht.

»Lebt er oder ist er tot?« fragte Alexandra fieberhaft.

»Noch lebt er, aber er wird bald sterben.«

Der Miecznit blickte auf Kmicic' Gesicht und sagte:

»Ihr werdet ihn wohl nicht mehr lebend bis nach Lubicz bringen.«

»Er befahl uns, ihn nach dort zu bringen. Dort wollte er sterben.«

»Dann mit Gott! Verliert keine Zeit!«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Der Miecznik und Alexandra ritten nach der entgegengesetzten Seite. Alexandra schwieg während des ganzen Weges. Als sie zu Hause anlangten, sagte sie:

»Man muß einen Geistlichen zu ihm schicken. Es soll jemand gleich nach Upita fahren.«

Pan Billewicz ging, um den Befehl zu geben; Alexandra aber eilte auf ihr Zimmer und fiel vor dem Bilde der heiligen Jungfrau nieder.

Zwei Stunden später hörte sie am Tore ihres Hauses ein Glöcklein klingen, es war der Geistliche, der mit dem heiligen Abendmahl nach Lubicz fuhr.

»Gott! Vater! rechne es seinen Sünden an, daß er von Feindeshand stirbt! Herr, vergib ihm! Erbarme dich sein!« wiederholte sie fortwährend.

Der Geistliche blieb bis zum Morgen in Lubicz, und auf dem Rückwege kehrte er in Wodokty ein. Alexandra lief ihm entgegen.

»Ist alles –« Weiter kam sie nicht, ihre Kräfte versagten.

»Er lebt noch!« antwortete der Geistliche.

Einige Tage vergingen. Mehrmals am Tage wurden aus Wodokty Boten nach Lubicz gesandt, und immer brachten sie dieselbe Antwort: »Er lebt noch!« Endlich kam einer von ihnen mit der Nachricht, daß der extra aus Kiejdane verschriebene Heilgehilfe gesagt habe, Pan Andreas sei auf dem Wege der Besserung. Die Wunden heilten, und die Kräfte des Ritters kehrten zurück.

Panna Alexandra schickte der Kirche zu Upita eine große Gabe; aber von dem Tage an hörte sie auf, sich nach der Gesundheit des Kranken zu erkundigen. Und eigentümlich, – im Herzen des Mädchens erwachte von neuem die Bitterkeit gegen Pan Andreas. Seine Verbrechen bestürmten wieder ihr Gedächtnis, – seine Verbrechen, für die es kein Verzeihen gab, kein Verzeihen geben konnte. Nur der Tod allein konnte sie löschen. – Nun aber, wo er zu genesen begann, hingen seine Sünden wieder wie eine drohende Wolke über ihm. Alexandra erwog alles, was zu seiner Verteidigung sprechen konnte, aber es wollte und wollte nicht ausreichen.

Diese letzten Tage hatten die Gesundheit Alexandras so mitgenommen, daß sie sehr krank aussah. Der Miecznik geriet in große Sorge, und eines Abends, als er mit der Nichte allein war, fragte er:

»Liebste, sage mir offen, was denkst du über den Orszaer Bannerträger?«

»Gott sieht es, daß ich an ihn nicht denken will,« antwortete Alexandra.

»Sieh nur, wie du dich verändert hast. Du bist abgemagert, – hm, – vielleicht willst du noch, – ich bestehe auf nichts. Ich möchte nur wissen, was mit dir vorgeht? Denkst du nicht, daß du verpflichtet wärest, den Willen des Verstorbenen –?«

»Niemals!« rief Alexandra erregt. »Der Großvater ließ mir eine Tür offen, und ich werde sie zu Neujahr benutzen. Auf diese Weise werde ich seinen Willen erfüllen.«

»Ehrlich gesagt,« sprach der Miecznik in Gedanken, »mir wollte es nie in den Kopf, daß Babinicz und Kmicic dieselbe Person sein sollten. – Aber, was du auch sagst, er ist für das Vaterland eingetreten, er hat in dem Kampfe mit dem Feinde sein Blut vergossen. Das zeigt doch seine Reue; wenn sie auch spät kommt, so ist es doch immerhin eine Reue.«

»Auch Fürst Boguslaw dient jetzt dem Könige und der Republik,« lächelte bitter Alexandra. »Möge Gott ihnen beiden verzeihen, besonders ihm, der sein Blut jetzt für sie vergoß. – Doch jedermann hat das Recht, von ihnen zu sagen, daß sie im Augenblicke des Verderbens ihre Hand wider das Vaterland erhoben haben, und daß sie erst dann bereuten, als dem Feinde das Glück untreu wurde. Das ist ihre Schuld! Jetzt gibt es keine Verräter mehr, – denn es ist unvorteilhaft, Verrat zu üben. Aber liegt denn darin irgend welches Verdienst? Ist das nicht gerade ein Beweis, daß solche Leute immer bereit sind, dem Stärkeren zu dienen? Gebe Gott, daß ich mich irre, aber ich glaube nicht, daß diese Wunden eine ausreichende Sühne für seine Schuld sind!

»Ich kann nicht streiten. Es ist wahr, was du sagst,« gab der Miecznik zu. »Eine traurige Wahrheit; aber Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Alle Verräter sind jetzt wieder auf die Seite des Königs getreten.«

»Auf dem Orszaer Bannerträger lastet eine noch größere Schuld als auf dem Fürsten Boguslaw. Er wollte Hand an den König selbst legen, worüber sogar Boguslaw erschrak. Kann eine zufällig erhaltene Wunde das alles gut machen? – Ich würde mir die Hand abhauen lassen, wenn das nicht gewesen, – aber es war, war und bleibt für alle Ewigkeit! Onkel, Onkel, wir würden uns selbst betrügen, wenn wir ihn von Schuld freisprächen! Und welchen Nutzen hätten wir davon? Wird unser Gewissen sich mit dieser Lüge aussöhnen? Möge Gottes Wille geschehen! Was einmal auseinander gerissen, das darf und kann nicht wieder zusammengebunden werden. Ich bin froh, daß der Pan Bannerträger wieder genest. Augenscheinlich hat Gott sich doch nicht ganz von ihm abgewendet und will noch seine Reue sehen. – Doch genug davon! – Ich werde glücklich sein, wenn ich höre, daß er seine Sünden gut gemacht hat. Mehr verlange, mehr wünsche ich nicht. Selbst wenn ich auch noch mehr ertragen müßte als das, was ich schon durchgemacht habe.«

Alexandra brach in Schluchzen aus; aber das waren ihre letzten Tränen, die sie über Pan Andreas vergoß. – Sie hatte alles, was sie auf ihrem Herzen trug, ausgesprochen, und seitdem begann wieder Ruhe in ihre Seele einzukehren.


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