Henryk Sienkiewicz
Sintflut
Henryk Sienkiewicz

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3. Kapitel.

Es war ein eigenartiger Frühling, der in jenem Jahre seinen Einzug in Polen hielt: Während im Norden der Republik der Schnee schon weggetaut war, und die Flüsse ihre Winterdecke abwarfen, herrschte im Süden der Winter noch in seiner ungebrochenen Kraft. Endlich kam auch hier der langersehnte Frühling; aber er kam plötzlich und überraschend. Fluten heißer Strahlen sandte die Sonne auf die Erde, und die Eisrinde, die auf den Wiesen und Feldern lag, zerschmolz in wenigen Stunden; Bächlein verwandelten sich in wasserreiche Flüsse, Straßen in unwegbare Sümpfe.

Und auf diesen Wegen, von dem unbeugsamen Willen ihres Feldherrn geführt, zogen die schwedischen Reiter weiter und weiter gen Süden.

Aber wie wenig ähnelte diese Menge, die ihrem Untergange bewußt entgegeneilte, der glänzenden Armee, die einstmals unter der Führung Wittembergs in Groß-Polen einbrach! Der Hunger hatte den Gesichtern der alten Krieger seinen Stempel aufgedrückt. Sie marschierten ermüdet, erschöpft und wohl wissend, daß ihnen am Schlusse des Marsches keine Ruhe, es sei denn die des Todes, winke.

In Eisen geschmiedet saßen Skelette von Menschen auf Pferdeskeletten. Die Infanteristen konnten sich kaum noch auf den Füßen halten, konnten kaum mit ihren zitternden Händen die Spieße und Musketen regieren. Ein Tag folgte dem anderen, und immer ging es vorwärts. Krankheiten wüteten im Heere; Soldaten, vom Fieber erschöpft, fielen tot zu Boden.

Und der schwedische Alexander verfolgte noch immer den polnischen Darius.

Wie einem kranken Büffel Dutzende von Schakalen nachziehen, die abwarten, wann er zusammenbricht, so folgten auch den Schweden Schlachtschitzen und Bauern-Parteien, die mit jedem Tage frecher und wagemutiger wurden. Dann erschien auch der schrecklichste der Feinde: Czarniecki. Die schwedische Avantgarde sah seine Reiter bald hinten am Horizonte, bald ganz in der Nähe, nur mehrere Musketenschüsse entfernt, auftauchen.

Die Schweden ersehnten leidenschaftlich eine Entscheidung, eine Schlacht; aber Czarniecki wich ihnen noch aus. Er wartete auf den günstigen Moment; vorläufig ließ er einzelne Abteilungen auf den Feind los, die sich wie Geierfalken auf Wasservögel stürzten.

Zuweilen umging Czarniecki die Schweden und verlegte ihnen den Weg. Dann hörte man im schwedischen Lager fröhliche Trompetenstöße, und es schien, daß neue Kräfte, neuer Wagemut die Reihen der Skandinavier durchströmte. Krank, entkräftet, durchnäßt stellten sie sich mit glühenden Gesichtern und brennenden Augen in Reihen auf. Aber sobald die schwedischen Kanonen zu sprechen begannen, trat Czarniecki den Rückzug an, nichts als getäuschte Hoffnungen und tödliche Mattigkeit als Beute zurücklassend.

Und wieder begann Wittemberg den König anzuflehen, zurückzugehen und die Truppen nicht dem gänzlichen Untergange zu weihen, aber als Antwort wies Karl-Gustav mit zusammengepreßten Lippen und funkelnden Augen gen Süden, wo er Jan-Kasimir und eine offene Arena für Siege und Ruhe und Beute zu finden hoffte.

Um das Unglück voll zu machen, fingen die polnischen Regimenter, die bis dahin in Karl-Gustavs Diensten standen, an ihn zu verlassen. Zbrozek ging, ihm folgte Kalinski, und Sapieha wurde immer unzufriedener und versank tief in Gedanken; er selbst blieb zwar noch, aber seine Banner schmolzen mit jedem Tage zusammen.

Jan-Kasimir jedoch zeigte keine Neigung, den Schweden den rettenden Sieg zu verschaffen. Er blieb in Lemberg und wartete auf Sapieha. Seine Regimenter wuchsen von Tag zu Tag, während Karl-Gustavs Kräfte zusehends abnahmen.

»Keine Armee mehr, sondern ein Trauerzug kommt durchs Land gezogen,« sprachen die alten Soldaten des polnischen Königs, und die Schweden mußten widerwillig dem zustimmen.

Karl-Gustav selbst behauptete, er zöge nach Lemberg; aber er täuschte sich selbst und seine Armee. An Lemberg durfte er nicht mehr denken, sondern nur an seine eigene Rettung. Und stand es denn fest, daß er Jan-Kasimir in Lemberg treffen würde? Konnte dieser sich nicht nach Podlachien zurückziehen und den Feind nach sich locken, bis in die Steppen, wo er sicherlich umkommen mußte?

Ein Versuch des Generals Douglas, die kleine Festung Przemysl zu nehmen, scheiterte gänzlich. Die Katastrophe nahte langsam, aber unerbittlich ihrem Ende. Früher, wenn der König vor seinen Truppen erschien, pflegte man ihn mit Jubel zu begrüßen, jetzt aber empfingen ihn die Regimenter mit unheilvollem Schweigen. Desto mehr unterhielten sich die Soldaten über Czarniecki, als wenn er ihr König wäre. – Überall war Czarniecki mit seinen Truppen zu sehen. Und merkwürdig, als während zweier Tage keine einzige Abteilung vernichtet wurde, als mehrere Nächte ohne Überfall verflossen, wuchs die Unruhe im schwedischen Lager noch mehr.

»Czarniecki ist verschwunden und bereitet Gott weiß was vor!« sprachen die Soldaten untereinander.

In Jaroslaw machte Karl-Gustav mehrere Tage Rast; er schickte den Oberst Kanneberg mit tausend Reitern auf Erkundigungen aus.

»Vielleicht hängt von Ihnen unser ganzes Schicksal ab,« sagte der König zu dem Obersten beim Abschied.

Und wirklich hing von dem Erfolg dieses Streifzuges vieles ab. Man hoffte, daß Kanneberg zum wenigsten das schwedische Lager mit Proviant versorgen, oder vielleicht gar auskundschaften würde, wo sich der Polenkönig aufhalte. Dann wollte sich der schwedische König mit seiner ganzen Macht auf ihn stürzen und seine Armee zertrümmern.

In heiterster Stimmung, beim Abschiede mit den Kameraden scherzend und ihnen versprechend, Czarniecki einzufangen, machte sich Kanneberg mit seinen Reitern auf den Weg. – Toren! Sie wußten nicht, daß sie wie Stiere zur Schlachtbank gingen!

Sie überschritten auf einer unfertigen Brücke die San. Kaum hatten sie das andere Ufer erreicht, als schwedische Pioniere die Bretterbrücke auseinandernahmen, um eine starke, auch für den Übergang der schweren Artillerie geeignete zu bauen.

Die Abteilung verschwand in der Tiefe des angrenzenden Waldes. Ringsum herrschte Schweigen, der Wald schien in diesem tiefen Schweigen wie versunken. Diese Ruhe begann Kanneberg zu quälen. Plötzlich entdeckten zwei der vordersten Soldaten einen Reiter. Es war ein klarer, sonniger Tag; der Reiter war deutlich zu erkennen. Er war von kleiner Statur und ritt langsam, als wüßte er nicht, daß der Feind in der Nähe wäre.

»Das ist ein Hund aus dem polnischen Hundezwinger,« sagte einer der schwedischen Reiter.

Der kleine Ritter warf sein Pferd herum, als wenn er den Weg versperren wollte.

»Da ist noch einer, ein dritter, ein vierter!« erscholl es in den schwedischen Reihen.

Wirklich, von beiden Seiten der Straße kamen Reiter. Die vorderen ritten je zu zweien, die Hinteren zu dreien, alle gesellten sich dem ersten Reiter zu.

In diesem Moment kamen Kanneberg und Major Sweno zu den Soldaten.

»Ich kenne diese Leute,« rief der Major, »sie gehören zu Czarnieckis Armee. Er selbst muß dann auch hier in der Nähe sein! Herr Oberst, kehren wir um!«

Kanneberg zog die Brauen zusammen.

»Sie geben mir da einen schönen Rat! – Vorwärts!«

Die Schweden bewegten sich in größter Ordnung weiter vor. Die Entfernung zwischen den Feinden wurde immer kleiner. Plötzlich sprengten die Polen, sich nach allen Richtungen zerstreuend, fort.

»Vorwärts!« rief Kanneberg. Der Wald hallte von den Rufen der Verfolger und Verfolgten wieder. Aber auf einmal geschah etwas Merkwürdiges. Die Polen trafen wieder alle zusammen und nahmen eine geordnete Aufstellung ein.

Sweno bemerkte das und ritt zu Kanneberg.

»Herr Oberst, das ist keine Schar, sondern eine reguläre Truppe, die absichtlich flieht, um uns in den Hinterhalt zu locken.«

»Aber welcher Deubel soll sich denn hier verstecken?« antwortete Kanneberg unwillig.

Plötzlich beschrieben die Polen einen mächtigen Halbkreis und wandten sich in tadelloser Ordnung den Schweden zu, so daß sie sogar die Bewunderung des Feindes hervorriefen.

»Ja,« sagte Kanneberg, »das ist eine reguläre Truppe. – Wie auf dem Paradefelde! – Was wollen sie nur hier, zum Teufel?«

»Sie rücken gegen uns vor!« rief Sweno.

Wirklich, das Banner ritt im Trab vorwärts. Der kleine Reiter, auf einem Falben sitzend, rief seinen Leuten etwas zu und fuchtelte mit dem Säbel in der Luft. Er war augenscheinlich der Kommandeur.

»Gott mit uns! Feuer!« kommandierte Kanneberg, indem er den Säbel zog und ihn hochhielt.

Musketenschüsse krachten; aber schon im gleichen Augenblick warf das polnische Banner die vorderen schwedischen Reihen noch rechts und links und schob sich, wie ein Keil in ein gespaltenes Stück Holz, in ihre Mitte. Das Geschrei und Gestöhn der Sterbenden erweckte das im Walde schlafende Echo.

In dem ersten Augenblicke waren die Schweden verwirrt, dann kamen sie aber bald zu sich und nahmen den Kampf tapfer auf. Die beiden Flügel schlossen sich zusammen, und das polnische Banner war schnell von allen Seiten umringt. Die Mitte der Schweden wich zurück, die Seiten drangen mehr und mehr gegen das Banner vor, vermochten es jedoch nicht zu zersprengen: im Handgemenge war die polnische Reiterei fast unbesiegbar. Und dennoch fing der Sieg an, sich allmählich den Schweden zuzuwenden, als plötzlich aus der Waldestiefe ein zweites Banner erschien und sich auf die Schweden stürzte.

Der rechte schwedische Flügel unter dem Befehl Major Swenos wandte seine Front dem neuen Feinde zu, in dem die erfahrenen Soldaten gleich die Husaren erkannten.

Dieses Banner führte ein auf einem Schimmel reitender Mann an, der mit einem Filzmantel und einer mit Reiherfedern geschmückten Luchsmütze bekleidet war.

»Czarniecki! Czarniecki!« ging es durch die schwedischen Reihen. Bald erschien noch ein drittes und viertes Banner. Pan Czarniecki wies einem jeden mit dem Stab seinen Platz an, und als endlich ein fünftes erschien, stellte er sich selbst an seine Spitze und führte es ins Gefecht.

Kanneberg begriff, daß er in einen Hinterhalt gelockt worden war und befahl, das Signal zum Rückzuge zu geben. Die Schweden sprengten den soeben gekommenen Weg zurück, die Polen hinter ihnen her.

Unter solchen Umständen konnte der Rückzug nicht geordnet vor sich gehen. Die besten Pferde galoppierten bald voraus, und schnell verwandelte sich die glänzende Abteilung Kannebergs in eine formlose Menge. – Schweden und Polen mischten sich untereinander, und der Weg bedeckte sich mit Hunderten von Leichen. Einige Schweden sprangen von ihren Pferden und flohen in den Wald, wo sie in die Hände der polnischen Bauern gerieten, die sie unter schrecklichen Martern töteten; andere baten um Gnade, aber zumeist vergeblich. Ein jeder zog es vor, den Feind niederzumetzeln, um einen neuen zu verfolgen.

Die Jagd ging mit fürchterlicher Erbitterung vor sich. Wolodyjowski sprengte mit seinen Laudaern voran. Er war der Reiter, der sich zuerst den Schweden gezeigt hatte, er warf sich zuerst auf sie und badete in Feindesblut, die Golember Niederlage zu rächen.

Von der glänzenden, tausendköpfigen Abteilung Kannebergs blieben allmählich nur noch hundertfünfzig Mann, die übrigen lagen in langer Reihe den Waldweg entlang.

Endlich kamen die Schweden aus dem Walde heraus. An dem blauen Himmel zeichneten sich die Umrisse der Jaroslawer Türme ab. In den Herzen der Fliehenden regte sich eine Hoffnung. In Jaroslaw steht ja der König selbst; er kann ihnen jede Minute zu Hilfe kommen.

Sie hatten vergessen, daß die Brücke nach ihrem Übergange auseinandergenommen wurde. Wußte Pan Czarniecki das durch seine Spione, oder wollte er der Abteilung vor den Augen Karl-Gustavs den Rest geben? Kurz, er stellte die Verfolgung nicht ein, als beabsichtigte er, auf Jaroslaw loszuschlagen.

Schließlich erreichten die Fliehenden die Stelle, wo vorher die Brücke lag. Aus dem Lager waren Soldaten und Offiziere an das gegenüberliegende Ufer geeilt.

»Kannebergs Abteilung,« riefen mit einem Male Tausende von Stimmen, »geschlagen, vernichtet!«

Im gleichen Augenblick erschien der König in Begleitung von Wittemberg, Forgell, Müller und anderen Generalen.

»Kanneberg!« rief dumpf der erbleichende Karl-Gustav.

»Mein Gott!« schrie Wittemberg, »die Brücke ist noch nicht fertig, sie werden alle bis auf den letzten Mann niedergemetzelt werden!«

Der König blickte zum Flußbett hinunter. Das gelbe Wasser des angeschwollenen Flusses flutete dahin; man konnte nicht daran denken, ihn zu überschreiten. – Und jenseits, am anderen Ufer, mordeten die Polen die Kannebergsche Abteilung. Die ganze schwedische Armee sah wie in einem alten römischen Zirkus dem grausigen Schauspiel mit zusammengepreßten Zähnen zu, Verzweiflung und das Bewußtsein der eigenen Machtlosigkeit im Herzen. Zuweilen hörte man gellende Schreie und wehes Schluchzen herüberhallen.

Nach einiger Zeit trat tiefes Schweigen ein, die Ruhe des Todes, die nur von dem schweren Atem der hilflos Zusehenden unterbrochen wurde. Kannebergs Reiter waren die Blüte und der Stolz der schwedischen Armee gewesen; es waren alles Kriegshelden, die sich in Gott weiß wie vielen Schlachten und Ländern mit Ruhm bedeckt hatten. Und jetzt waren sie wie eine Herde auf einer weiten Wiese herumgejagt worden und dem Messer des Schlächters zum Opfer gefallen.

Am meisten hatte auf der polnischen Seite der kleine Ritter auf dem prächtigen Falben gewütet. Jeder, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, war unvermeidlich eine Beute des Todes geworden. Pan Michail war sehr zufrieden mit sich; er erntete auch am Schlusse des Gefechtes das größte Lob.

Dann blies man bei den Polen zum Rückzuge. Ein jeder nahm seinen Platz ein. Die polnischen Truppen stellten sich am Rande des Waldes auf, als wenn sie dem Feinde eine Schlacht anbieten wollten. Auf einem Schimmel ritt ein Mann mit goldenem Stabe in der Hand die Reihen entlang.

Die Schweden erkannten ihn gleich und riefen:

»Czarniecki! Czarniecki!«

Man sah, wie er zu dem kleinen Ritter, der Kanneberg verwundet und gefangen genommen hatte, heranritt, ihm seine Genugtuung aussprach und freundlich die Hand auf seine Schulter legte. Schließlich gab er mit seinem Stabe ein Zeichen, und die Regimenter verschwanden wieder im Walde.


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