Henryk Sienkiewicz
Sintflut
Henryk Sienkiewicz

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9. Kapitel.

In Warschau wirtschafteten schon seit langem die Schweden. Da Wittemberg, der eigentliche Gouverneur der Stadt und Befehlshaber der Garnison, gerade, als Kmicic dort ankam, in Krakau war, so vertrat ihn Radziejowski. Mehrere tausend Soldaten lagen in der Stadt selbst und in den mit herrlichen Palästen bebauten Vororten. Überall sah Kmicic die Spuren räuberischer Hände. Am meisten hatten die Einwohner der Stadt unter den Plünderungen der Schweden zu leiden, die bei ihrem Einmarsch geflohen waren oder ihnen Widerstand entgegengesetzt hatten. In der Weichsel lagen dreißig ungeheure Flußkähne, die die geraubte Beute nach Schweden bringen sollten.

Die Physiognomie Warschaus hatte sich völlig geändert. Man hörte auf den Straßen fast gar nicht polnisch reden; immer drangen die Laute fremder Sprachen an Kmicic' Ohr. Wohin er sich wandte, überall stieß er auf Soldaten: auf schwedische, deutsche, französische, englische und schottische. Überall fremde Farben, fremde Gesichter, fremde Lieder!

Inmitten dieser vielsprachigen Menge verlor sich die einheimische Bevölkerung fast gänzlich; viele waren geflohen, andere wieder saßen zu ihrer eigenen Sicherheit fest eingeschlossen in ihren Häusern und zeigten sich nur in ganz notwendigen Fällen auf der Straße. Hin und wieder nur erinnerte ein herrschaftlicher, von national polnisch gekleideten Dienern oder Soldaten umringter Wagen Kmicic daran, daß er sich in einer polnischen Stadt befinde.

Da Kmicic niemand in Warschau kannte, dem er sein bedrücktes Herz ausschütten konnte, so trieb es ihn bald von dort fort. Zwar hatte er hier und da in öffentlichen Gebäuden mit Schlachtschitzen gesprochen, aber was er von ihnen gehört hatte, hatte ihn aufs tiefste erbittert. Alle Edelleute gaben sich für große Verehrer der Schweden aus, die in Abwesenheit Karl-Gustavs den Schweden um den Bart gingen, in der Hoffnung, bei der Konfiskation privater und geistlicher Güter etwas einzuheimsen.

Einzig und allein die Kleinbürger waren es, die das unglückliche Vaterland und den verdrängten, gutherzigen König bedauerten. Man erzählte, daß die Zünfte Waffen versteckt hätten, und daß die Büchsenmacher, Metzger, Gerber und die Schneider mit Ungeduld auf Jan-Kasimirs Rückkehr warteten, und bei der geringsten Hilfe bereit wären, gegen die Schweden vorzugehen.

Kmicic traute seinen Ohren nicht. Es war ihm unbegreiflich, daß diese einfachen Leute mehr Vaterlandsliebe und Treue zu ihrem Könige besitzen sollten, als die Schlachta, die dazu durch ihre Stellung vor Gott und ihrem Gewissen verpflichtet war. Aber mehr und mehr mußte er sich davon überzeugen, daß gerade die Schlachta und die Magnaten auf seiten der Schweden standen, während die Bürger mehr Neigung zum Widerstand zeigten. Es kam vor, daß Handwerker, die von den Schweden zu den Befestigungsarbeiten gezwungen wurden, Schläge, Gefängnis, ja selbst den Tod vorzogen, ehe sie die Hand dazu boten, die verhaßte Sache des Feindes zu fördern.

Hinter Warschau sah Kmicic nur noch Soldaten und Schlachtschitzen, die in schwedischen Diensten standen. Alle, die den Schweden zu widerstehen gewagt hatten, waren niedergemetzelt oder irgendwie unschädlich gemacht worden. Niemand glaubte an eine Rettung des Vaterlandes; niemand dachte an Widerstand, und Anordnungen der Schweden, die zu jeder anderen Zeit die hartnäckigste Opposition hervorgerufen hätten, wurden mit Eifer und Eile ausgeführt. Die Panik ging so weit, daß selbst schwer Geschädigte den gnädigen Protektor rühmten. Am allerschlimmsten aber trieben es die schwedischen Parteigänger und Verräter des Vaterlandes. Da ihnen alles erlaubt war, so erinnerten sie sich früherer Streitigkeiten und alter Beleidigungen und zahlten sie unter dem schwedischen Schutze hundertfach heim. Räuberbanden, polnisches, schwedisches, deutsches Gesindel überfielen die ruhigen Einwohner und legten überall Feuer an. Auf den Städten lastete die eiserne Hand der Soldaten, und auf dem Lande und in den Wäldern die der Wegelagerer.

Solche Marodeure hatten auch das Gut eines Pan Luszczewski überfallen, gerade, als Kmicic' Weg ihn dort vorüberführte. Der Pan Luszczewski, ein alter Soldat, hatte tapferen Widerstand geleistet, aber er wäre doch unterlegen, wenn Kmicic ihm nicht im kritischen Momente zu Hilfe geeilt wäre. Der Gutsherr dankte seinem Befreier herzlich, und Pan Andreas gestand ihm seinen tödlichen Haß gegen die Schweden. Er hoffte in seinem Innern, daß der alte Soldat seine gemarterte Seele durch einen Funken Hoffnung laben würde, aber er sah sich bitter getäuscht.

»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen würde, wenn ich um dreißig Jahre jünger wäre; aber die Erfahrungen eines fünfundsiebzigjährigen Lebens sind nicht spurlos an mir vorübergegangen. An der Schwelle des Grabes stehend, sehe ich alles klar. Und ich sehe, daß nicht Polen allein, sondern auch ganz Europa unfähig ist, die schwedischen Macht zu brechen.«

»Was Sie sagen? – Und warum eigentlich?« rief Kmicic aus, »seit wann sind die Schweden denn unbesiegbar? Ist unser Land denn weniger bevölkert? Können wir nicht ein größeres Heer stellen?«

»Wie könnten wir die Schweden besiegen, da Gottes Wille dagegen ist, wie die Prophezeiungen es vorher gesagt haben! Ach, nach Czenstochau sollten die Leute wallfahren, ja, nach Czenstochau sollten sie gehen und ihre Sünden bereuen!«

Und Pan Luszczewski versank in Schweigen.

Die untergehende Sonne beleuchtete mit ihren Strahlen einen Teil des Zimmers, während der übrige Teil in der Dämmerung verschwamm. Kmicic wurde es recht unbehaglich zumute.

»Von welchen Prophezeiungen sprechen Sie?« fragte er, um das ungemütliche Schweigen zu unterbrechen.

Pan Luszczewski wandte statt einer Antwort seinen Kopf nach der entgegengesetzten Richtung und rief laut:

»Alexandra! Alexandra!«

»Mein Gott! Wen rufen Sie?«

Die Tür tat sich auf, und ins Zimmer trat ein junges Mädchen herein. Es sah sehr bleich aus, wahrscheinlich von der soeben erlittenen seelischen Erregung. Leicht und behende schritt Alexandra durchs Zimmer, so daß sie eher einer Erscheinung als einem lebenden Wesen glich.

»Meine Tochter,« stellte Pan Luszczewski vor. »Meine Söhne sind nicht zu Hause, sie sind bei Pan Czarniecki. Mein Kind, danke zuerst diesem Ritter für die Dienste, die er uns geleistet hat, dann lies uns die Prophezeiungen der heiligen Brygida.«

Das Mädchen verbeugte sich vor Pan Andreas, ging dann aus dem Zimmer und kehrte gleich darauf mit einer Papierrolle wieder.

Mit einer weichen, klangvollen Stimme begann sie zu lesen:

»Fünf Könige und ihre Reiche werden zuerst sein: Gustav, Erichs Sohn, ein träger Esel, er wird den heiligen Glauben verlassen und zu dem unrechten übertreten.«

»Hören Sie?« fragte Pan Luszczewski, indem er den Daumen der linken Hand umbog. »Das ist der erste.«

»Erich, Gustavs Sohn, ein Wolf von unersättlicher Gier. Er wird sich den Haß aller Leute und den seines Bruders zuziehen. Er wird seinen Bruder besiegen und ihn samt seiner Frau vier Jahre gefangen halten. Schließlich wird Jan sich befreien, und nachdem er Hilfe erhalten, wird er Erich für alle Ewigkeit ins Gefängnis werfen.«

»Merken Sie sich's gut,« unterbrach Pan Luszczewski wieder das Mädchen, »das ist schon der zweite.«

Die Panna fuhr fort zu lesen.

»Jan, Erichs Bruder, ist ein mächtiger Adler, der Besieger Erichs, des Dänen. Sein Sohn, Sigmund, wird auf den polnischen Thron gewählt, er ist voll von Tugenden, ein Ruhm für seine Nachkommen.«

»Verstehen Sie?« fragte Pan Luszczewski.

»Möge Gott Jan-Kasimirs Jahre verlängern!« antwortete Kmicic.

»Karl, der Fürst von Sudermanland, ein Hammel; denn wie die Hammel ihre Herde leiten, so leitet er Schweden zum falschen Glauben.«

»Das ist also der vierte!«

»Der fünfte, Gustav-Adolf, wird getötet werden, sein Blut war die Ursache von viel Kummer und Elend.«

»Jetzt, mein Kind, lies den Schluß, er bezieht sich auf die jetzigen Zeiten,« sprach der alte Luszczewski.

»Und ich werde dir den sechsten zeigen, der die Erde und das Meer in Aufregung bringen wird, und der die Kleinen verwirren wird. – Der wird mit seiner Hand die Grenze meiner Strafen weisen. Wenn er das Seine nicht erfüllen wird, so wird mein Gericht ihn ereilen, und er wird sein Reich in Verwirrung hinterlassen. Es wird geschehen, wie geschrieben steht: »Man säet Aufruhr und wird Kummer und Verzweiflung ernten. Ich werde dies Reich heimsuchen und seine reichen Städte; ich werde die Hungrigen rufen, daß sie den Überfluß auffressen. Die Unverständigen werden herrschen, die Weisen und Greise werden die Köpfe senken. Ehre und Wahrheit werden im Staub versinken, – aber einer wird kommen, der meinen Zorn erweichen wird, der wird seine Seele der Wahrheit und Liebe halber nicht schonen.«

»Das alles ist so wahr, daß auch ein Blinder es glauben muß,« sagte Kmicic.

»Deshalb, sage ich, können die Schweden auch nicht besiegt werden.«

»Aber es kommt einer, der seine Seele der Wahrheit und Liebe halber nicht schonen wird,« rief Kmicic. »Die Prophezeiung läßt doch eine Hoffnung zu. Unser wartet nicht der Untergang, sondern die Errettung!«

»Sodom wäre auch verschont worden, wenn sich zehn Gerechte dort gefunden hätten,« antwortete Pan Luszczewski. »Aber nicht mal soviel waren da. Ebenso wird sich der nicht finden, der seine Seele opfern wird, und die Stunde des Gerichts wird schlagen.«

»Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!« schrie Kmicic. Er sprang auf und begann, sich zu verabschieden. Er wollte ins Freie, um seinen brennenden Kopf zu kühlen.

»Wohin eilen Sie so?« fragte der Greis.

»Nach Czenstochau. Ich bin auch ein Sünder.«

»Dann will ich Sie nicht aufhalten, obschon ich mich ungern von Ihnen trenne. – Aber man darf nicht säumen, denn die Stunde des Gerichts ist nahe.«

Kmicic entfernte sich. Ihm folgte die Panna, um ihn an des Vaters statt hinauszugeleiten; denn der Greis konnte sich nur mühsam fortbewegen.

»Möge Gott Ihnen alles Glück schicken!« sagte Kmicic zu dem jungen Mädchen. »Sie glauben gar nicht, wie ich Ihnen dankbar bin.«

»Wenn das wahr ist, so erweisen Sie mir einen Dienst. Sie wallfahren nach Czenstochau? – Nehmen Sie dieses Goldstück und lassen Sie dafür eine Messe lesen.«

»Und auf welchen Namen?« fragte Kmicic.

Die Prophetin senkte die Augen. Ihr Gesicht nahm einen schwermütigen Ausdruck an und ihre Wangen erröteten.

»Auf den Namen Andreas, – daß Gott ihn auf den rechten Weg führen möge!« flüsterte sie kaum hörbar. Kmicic taumelte zurück und riß seine Augen weit auf.

»Um Gottes willen!« rief er mit stockender Stimme, »was ist das für ein Haus! Wo bin ich? Lauter Voraussagungen, lauter Prophezeiungen! – Sie heißen Alexandra, und Sie lassen für die Seele des armen Andreas eine Messe lesen! – Das alles kann doch nicht nur Zufall sein? – Das ist Gottes Fügung! – Das – das – wahrhaftig, ich komme von Sinnen! Ich verliere wirklich den Verstand!«

»Was ist Ihnen?«

Er ergriff stürmisch ihre Hände und drückte sie in den seinigen.

»Sagen Sie alles, prophezeien Sie zu Ende! – Wenn dieser Andreas sich bessert und alle seine Sünden gut macht, wird Alexandra ihm dann treu bleiben? – Sprechen Sie doch, antworten Sie, eher kann ich nicht fortfahren!«

»Was ist mit Ihnen?«

»Bleibt Alexandra ihm treu?« wiederholte Kmicic.

Der Panna stürzten Tränen aus den Augen.

»Bis zum letzten Atemzuge, bis zur Minute des Todes!« sagte sie schluchzend.

Kaum verklangen ihre Worte, als Kmicic wie vom Donner getroffen, ihr zu Füßen fiel. Sie wollte von dannen eilen, aber er hielt sie, küßte ihre Füße und wiederholte:

»Ich bin auch ein sündiger Andreas und dürste nach Sühne. Auch ich liebe eine Alexandra, einen kostbaren Schatz, den Trost meiner Seele. – Möge der Ihre sich bessern, und die meine mir treu bleiben! Mögen Ihre Worte Prophetenworte sein! Sie gössen Balsam in meine zerfleischte Seele. – Vergelt's Ihnen Gott! Vergelt's Ihnen Gott!«

Er stürzte davon, sprang auf sein Pferd und raste von dannen. – –


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