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Sechsundsechszigstes Kapitel

Ralph erscheint vor einer Magistratsperson, wo es sich herausstellt, daß er mehr erschreckt, als verletzt wurde, obschon auch der Schrecken das bei einem wahren Helden zulässige Maß nicht überschreitet. – Viel Wesen über ein Bischen Erde, das nicht weggeworfen, sondern zum Schlüsse niedergelegt wird.

————

Wir gingen demungeachtet vorwärts und Pigtop schüttelte kläglich den Kopf, so oft ich Halt machte, um zu Athem zu kommen. In dem ersten Hause, auf das wir trafen, traten wir ein. Wir erzählten dem Eigentümer, einem Bauer, unser Abenteuer, und der gute Mann setzte sich augenblicklich in Bewegung, um die Schaarwache und einen Konstabel davon in Kenntniß zu setzen. Mir war es namentlich darum zu thun, die Natur meiner Wunde zu untersuchen – ein Verlangen, auf das übrigens mein alter Tischgenosse keinen Augenblick hören wollte. Dabei that es ihm namentlich ganz besonders leid, daß er kein Blut sah, aus welchem Symptom er das Allerschlimmste schloß, weil nun die Blutung innerlich und ich als ein todter Mann zu betrachten sei.

Ich entschied mich für eine Postchaise, um nach London eilen und meine Angaben machen zu können; denn ich hatte mir vorgenommen, unverweilt die Spürhunde des Gesetzes gegen meinen feigen Feind loszulassen. Der Wagen war bald besorgt, und sehr zur Beruhigung Pigtops fuhren wir unmittelbar nach Bow-Street – denn der gute Bursche hatte sich's fest eingeredet, sobald sein extemporirtes Tourniquet entfernt werde, habe es auch mit meinem Athmen ein Ende. Ich theilte freilich nicht seine derartigen schrecklichen Besorgnisse.

Als wir vor dem Büreau anlangten, war der würdige Friedensrichter eben im Begriffe, seine Amtsstunden zu schließen. Das Geklapper der Chaise, die rasch an der Thüre vorfuhr, und der übertriebene Bericht des Postillons meldeten uns mit einigem Eclat. Sobald übrigens die Magistratsperson vernahm, daß sich's um einen Mord handelte, so maskirte er recht gut seinen Verdruß über die Verzögerung seines Diners.

Mr. Pigtop bestand darauf, mich zu unterstützen, obschon ich recht gut allein gehen konnte – jedenfalls so gut als er selbst, da die Wirkungen seines Trinkens nicht an ihm zu verkennen waren. Auch wollte er stets das Wort führen, obgleich ich ohne Selbstschmeichelei von mir rühmen kann, daß ich mich wenigstens hierauf jedenfalls besser verstand; denn er gehörte zu der alten Matrosenschule und war nicht im Stande, anders als in der Weise seines Berufs zu reden. Es wurde ihm sofort der Eid abgenommen. Wir wollen den Beginn seiner Angabe wortgetreu aufzeichnen, da er jener Klasse angehörte, welche jetzt schnell von der Oberfläche des Wassers verschwindet.

»Mit Erlaubniß, Euer Gestrengen, ich und meine zwei Kameraden, die dahinten in meinem Kielwasser liegen, haben, nachdem wir in Woolwich unser Holz und Wasser eingenommen, scharf für London aufgebraßt.«

»Was versteht Ihr unter Euerm Holz und Wasser?« fragte der Friedensrichter.

»Speis und Trank – (bei Seite zu mir) – das ist mir eine saubere Magistratsperson. Euer Gestrengen, wir legen wacker an, und als wir uns quer vor Tom Coxe's vorbeiarbeiten – Euer Gestrengen wissen natürlich, was dies besagen will?«

»In der That, nein, Sir.«

»Es ist der Kurs, den die Rechtsgelehrten einschlagen werden, wenn sie ihre Segel für den Himmel ausbreiten. Aber freilich, ich kann bei dem Flackern einer Zahlmeisterskerze sehen, daß Euer Gestrengen kein Rechtsgelehrter ist.«

»Dies ist das erstemal, Sir, daß Jemand die Unverschämtheit hat, mir etwas Derartiges zu sagen.«

»Nun, nun, nichts für ungut, Euer Gestrengen. Der Geschmack ist verschieden, wie der Affe sagte, als er die Katze in das Theerfaß springen sah.«

Und dann erging sich der würdige Zeuge in einer sehr unerheblichen Abschweifung über Landhayfische. Der Friedensrichter war jedoch geduldig und verständig, so daß sich denn doch zuletzt die große Schwierigkeit hob, welche aus dem Umstande entsprang, daß er nie zur See und Pigtop nie vor den Gerichten gewesen war.

Seine Angabe wurde, nachdem sie aus dem nautischen Mystizismus in die gewöhnliche Muttersprache übertragen war, gebührend beschworen, jedoch nicht ohne Unterbrechung; denn als der Friedensrichter hörte, der Zeuge vermuthe, ich habe die Pistolenkugel noch irgendwo in meinem Leibe, so wünschte er, daß ich augenblicklich durch einen Wundarzt untersucht werde. Mr. Pigtop war der entgegengesetzten Ansicht, damit ich nicht auf dem Platze sterbe; ich gab jedoch der Magistratsperson mehr Befriedigung, indem ich ihr sagte, wie ich gute Gründe für die Annahme zu haben glaube, daß die Kugel nicht tief eingedrungen sei.

Ich wurde zuletzt verhört und brachte neues Feuer in Pigtop, als ich angab, ich kenne die Person meines mordgierigen Angreifers sehr gut, da derselbe sein anderer Mensch als Josua Daunton fei.

Auf diese Ankündigung schlug mein vormaliger Tischgenosse mit der Hand so ungestüm auf's Knie, daß es durch den ganzen Saal schallte, grinste dann und machte eine sehr ernste Miene; ich wußte es ihm übrigens Dank, daß er seine Gefühlsäußerungen nicht durch Worte, sondern nur durch ein bedeutungsvolles Kopfschütteln ausdrückte. Als ich fortfuhr, die Person des Elenden genauer zu beschreiben, wurden Blicke des Einverständnisses zwischen drei oder vier Konstabeln gewechselt, welche den Verhandlungen aufmerksam zuhörten. Sobald dieses Geschäft beschlossen war, sagte der Friedensrichter zu mir:

»Der junge Mann, der sich also gegen Eure Person vergangen hat, ist, wie wir stark zu vermuthen Grund haben, dem Gesetz noch wegen anderer Verbrechen verantwortlich. Er ist unsern thätigsten Konstabeln entwischt, so daß man vermuthete, er habe das Königreich verlassen; jetzt scheint er aber wieder zurückgekehrt zu sein. Euer Entkommen ist ein Wunder der Vorsehung zu nennen, und diese Pistole wird uns einen guten Schlüssel an die Hand geben. Ohne Zweifel sind wir jetzt bald im Stande, uns Auskunft über ihn zu erholen. Doch folgt meinem Rathe, Mr. Rattlin, und laßt Eure Wunde untersuchen. Kommt in mein Privatzimmer – der Wundarzt wird unverweilt eintreffen.«

Pigtop und ich wurden dann in ein Gemach neben dem Amtszimmer geführt. Ich machte ein sehr langes Gesicht, und war in der That fast so verwirrt, als hätte man mir ein Verbrechen zur Last gelegt. Der Wundarzt erschien bald; aber in diesem kurzen Zwischenräume hatte der Friedensrichter begonnen, mich mit Fragen über meine Persönlichkeit, meine Aussichten und die wahrscheinlichen Beweggründe zu Dauntons Versuch auf mein Leben zu bestürmen. Ich parirte sie, so gut ich konnte, ohne ihn etwas von der muthmaßlichen Verwandtschaft zwischen mir und dem Schuldigen wissen zu lassen, indem ich erklärte, ich glaube, daß die That ihren Grund in dem Wunsche habe, sich für eine wirkliche oder eingebildete Kränkung, die ihm von mir an Bord der Eos widerfahren, zu rächen.

Als ich mich eine Zeitlang weigerte, die Kleider auszuziehen, damit meine Wunde untersucht werden möge, begann der Friedensrichter ein ernstes Gesicht zu machen, und der Wundarzt deutete an, daß es vielleicht eben so gut sei, nicht zu suchen, was nicht gefunden werden könne. Die Furcht, als ein Betrüger betrachtet zu werden, überwog die Scham über die Bloßstellung meiner romanhaften Schwäche. Der arme Pigtop war aus ganz andern Gründen unruhig. Er sah mit banger Angst dem Ablösen seines Tourniquets zu und machte sich daraus gefaßt, mich als einen Sterbenden in seinen Armen aufzufangen. Seine Ueberraschung war jedoch, wie ich fürchte, weit größer, als seine Freude, als er nach Entfernung seines Schnupftuchs keine Spuren von Blutung entdeckte.

»Was, im Namen der Pharmacie, ist dies?« sagte der Wundarzt, als er meinen Erdgürtel ablöste. »Ja, da ist die Kugel – sie hat nur die Haut durchgeschlagen und zwar eine Blutung verursacht, die aber durch die Erde in diesem Schnupftuch aufgesaugt wurde. Wie immer Ihr zu dieser seltsamen Bandage gekommen sein mögt – verlaßt Euch darauf, junger Gentleman, daß sie Euch das Leben gerettet hat.«

»Ihr seid wohl ein Katholik, Mr. Rattlin, und wahrscheinlich ein schlimmer Junge gewesen?« entgegnete der Friedensrichter. »Je nun, in diesem Falle hat sich die Buße, welche Euch Euer Beichtvater auflegte, als ein Wunder der Vorsehung erwiesen, und ich will fortan eine bessere Meinung von derartigen Pönitenzwerken hegen.«

Die Lüge wurde mir so verlockend an die Hand gegeben, daß ich schon im Begriffe war, davon Gebrauch zu machen. Als ich aber erwog, wo ich die geheiligte Erde gesammelt, wagte ich nicht, sie durch eine Unwahrheit zu entweihen. Mit stotternder Stimme und thränenfeuchten Augen redete ich daher den Friedensrichter folgendermaßen an –

»Lacht nicht über mich, Sir, und haltet mich nicht für verächtlich, wenn ich Euch die genaue Wahrheit erzähle. Ich bin ein thörichter, romanhafter, junger Mensch, der sich nur zu leicht plötzlichen Erregungen und vielleicht falschen Gefühlen hingibt. Nach dreijähriger Abwesenheit, Sir, kehrte ich nach einer Heimath zurück, von der ich als Knabe ausgezogen war, und wo ich eine theure, gute Mutter in Schönheit, Glück und Gesundheit verlassen hatte. Als ich nach meinem früheren Aufenthalt fragte, zeigte man mir das Haus eines Fremden – ich erkundigte mich nach meiner Mutter, und man führte mich nach einem neugemachten Grabe. In einem Anfalle von Begeisterung raffte ich Einiges von der Erde über ihrer Leiche auf und knüpfte sie um meine Brust. Möge mir Gott verzeihen, es geschah unter vermessenen Gedanken. Dennoch bedaure ich diesen Akt der Verrücktheit nicht, denn es däucht mich, die geehrte Dame hat ihre Hand aus dem Grabe hervorgestreckt und sie vor das Herz ihres Sohnes gelegt, welchen sie so sehr liebte, als sie noch am Leben war.«

»Ich denke das auch,« versetzte der Friedensrichter sehr bewegt. »Indeß ist es doch besser, mein junger Freund, wenn derartige abergläubische Vorstellungen und Handlungen unterbleiben. Ich bin überzeugt, daß Ihr nicht diese Hand voll Erde braucht, um Euch an Eure Mutter zu erinnern. Außerdem muß es Eurer Gesundheit nachtheilig sein, sie auf dem Leibe mitherumzuführen, der Sonderbarkeit eines solchen Beginnens gar nicht zu gedenken. Laßt Euch daher rathen und überantwortet sie mit andächtigen Gefühlen dem nächsten besten geweihten Boden. Wir wollen die Kugel mit der Pistole hier aufbewahren und Mr. Ankins soll Euch Eure leichte Wunde verbinden. Ihr müßt wohlbehalten durch diese Geschichte kommen, und wenn es nöthig ist, wird auch die Admiralität Euern Urlaub verlängern. Es wäre mir angenehm, mehr über Eure persönlichen Verhältnisse zu vernehmen – hier ist meine Karte. Ihr seid ein sehr guter Junge, daß Ihr Eure Mutter also ehrt. Lebt wohl!«

Mit vielen Komplimenten auch von Seiten des Wundarztes und mit einigen Röllchen Baumwolle auf meiner Brust verabschiedeten wir uns gegenseitig, ohne daß der rücksichtsvolle Arzt die Guinee, welche ich ihm reichen wollte, annahm.

Ich verließ mit Mr. Pigtop und seinen beiden Begleitern das Büreau, in meiner Hand das mit Erde gefüllte Schnupftuch tragend. Was sollte ich mit ihr anfangen, da sie mit meinem Blute getränkt und mir eigentlich eine Lebensretterin geworden war? Vielleicht denken meine süßen, empfindsamen Leserinnen, ich habe sie in einer köstlichen Vase aufbewahrt, um darüber weinen zu können – ich habe mir von schönen Händen systematisch einen seidenen Gürtel machen lassen, und trage sie noch immer zunächst meinem Herzen – oder ich habe sie in einen Porzellantopf gebracht und eine Rose hineingepflanzt, die ich täglich mit meinen Thränen begieße? Leider kann ich die Freunde des Romantischen nicht zufrieden stellen, da ich nichts dergleichen that. Wie schon früher gesagt, werden alle meine Erlebnisse zu ganz gewöhnlichen Alltagsgeschichten, und ich that als ein guter Junge, wie mich der Friedensrichter geheißen hatte. Als ich in Covent-Garden an der St. Paulskirche vorbei kam. trat ich in den Friedhof, betete in meinem Herzen für die Hingeschiedene, flehte zu Gott um Verzeihung wegen der Profanation, der ich mich schuldig gemacht hatte, und schüttelte den Staub voll Ehrfurcht an einem abgeschiedenen Orte aus, worauf ich zurückkehrte und mich meinen Begleitern wieder anschloß.

Bald nachher verabschiedete ich mich von ihnen und begab mich nach dem weißen Rosse in Fetter-Lane, wo ich ein frugales Nachtessen zu mir nahm, mich frühe zu Bette legte, und also diesen sehr denkwürdigen Tag schloß.

*

 


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