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Viertes Kapitel

Ich wohne in der Nachbarschaft der Geistlichkeit, was mich veranlaßt, zu predigen. – Ich nehme das Wort für den gemeinen Mann und beweise, daß der Geringe und Demüthige nicht nothwendig schlecht sein muß – ein Kapitel also, das man nicht gerade zu lesen braucht.

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Unter dem Eintauchen, dem Portwein, der Chinarinde und dem Doktor Buck fingen, als ich vier Jahre alt wurde, meine Glieder an, sich gebührend auszudehnen, während mein Gesicht nachgerade die Farbe der Gesundheit erhielt. Ich habe den Tod meiner Milchschwester Marie berichtet, aber um diese Zeit begann der Brettschneider, der die Dynastie der Brandons fortzusetzen wünschte, in einer sehr ungebührlichen Weise den pater familias zu spielen. Das war nun freilich nicht recht, aber dennoch muß man in Milderung seines gottlosen Versündigens an dem göttlichen Gebote »zu wachsen und sich zu mehren« zugeben, daß damals Herr Malthus den Irrthum des Allwissenden noch nicht gut gemacht, dergleichen auch Miß Harriett Martineau ihre Pilgerfahrt nicht mit züchtiger Zurückhaltung begonnen hatte. Da nun weiter kein Grund vorhanden war, daß ich in Bath blieb, oder mein würdiger Nährvater sich von der Arbeit dispensirte, so begaben wir uns in unserem Spähen nach Sägegruben und Glück nach einem der besten Häuser in Felix-Street, unfern von Lambeth-Marsh. Dieser Platz erwies sich in Folge der Erfahrung einer kurzen Zeit nicht sehr segensreich für uns, weßhalb wir nach Paradiese-Row zogen, das dem Vater in Gott, Seiner Gnaden dem Erzbischof von Canterbury, etwa um eine Viertelmeile näher lag. Ich besaß den löblichen Stolz, zu zeigen, daß ich einen achtbaren – ich bitte um Verzeihung, das Wort ist nicht anwendbar – wollte sagen, einen großen Nachbar hatte. »Ich bin nicht die Rose,« sagt eine Blume in dem persischen Gedicht, »aber ich habe in der Nähe der Rose gelebt.« Ich blühte nicht in dem Garten des Erzbischofs, gedieh aber doch an der Außenseite der Mauer. Diese Mauer ist nun niedergerissen, und Reihen von Häusern stehen an ihrer Stelle. Ich hätte nun große Lust, mich über die Veränderlichkeit in Menschendingen zu ergehen; aber wie ich die Feder ansetze, kömmt mir's anders: dies ist ein praktischer Kommentar zu meiner beabsichtigten Rede, weshalb ich mir die Mühe ersparen will, sie niederzuschreiben.

Da unsere Wohnung in Paradise-Row größer war, als wir's für unsere Bequemlichkeit nöthig hatten, so nahmen wir wieder den alten Ford zu uns; es war wohl das einzige Paradies, das zu bewohnen er sich zu erfreuen hoffen durfte. Mein Pathe, der alte Ford, war ein entsetzlicher Mann. Er mischte Gebete und Gotteslästerungen, Psalmen und Schelmenlieder, Trotz und Zerknirschung, Stöhnen und Gelächter in so schauerlicher Weise unter einander, daß ihm alles aus dem Wege ging. Das höllische Feuer, behauptete er ohne Unterlaß, brenne stets vor seinen Augen; und da es in dem neuen Testamente eine Stelle gibt, welche behauptet, daß es keine Rettung für den gebe, der dem heiligen Geist fluche, so konnte er oft stundenlang diesen geheimnißvollen Theil der Dreieinigkeit verwünschen, unmittelbar darauf aber mit reuiger Zerknirschung seine Brust zerschlagen. Viele mögen glauben, daß dies eitel Wahnsinn war; er war jedoch nicht verrückter, als die meisten heißköpfigen Methodisten, deren Prediger gleichwohl unbeschränkt über die große Masse des Volkes herrschen, die sich in den bescheideneren Lebenswegen hinschleppt. Zwei Abende in der Woche fand in unserem Hause eine fromme Versammlung statt, und obgleich ich damals nicht älter als fünf Jahre gewesen sein kann, so erinnere ich mich doch lebhaft, daß bei solchen Gelegenheiten unsere Vorderstube mit glühenden Fanatikern erfüllt war. Der alte Ford befand sich in der Mitte, und zu jeder Seite des gottlosen Menschen beteten ein paar schlichthaarige Heuchler, bis ihnen der Schweiß von der Stirne strömte, um den Teufel aus ihm hinauszubeten. Die Achs und das Stöhnen der Zuhörer waren schrecklich, die ganze Scene aber, obgleich sehr erbaulich für die Auserwählten, eine wahre Schmach für ein civilisirtes Volk.

Ich muß mich nun auf mein Gedächtniß verlassen und meine eigenen Gefühle schildern. Wenn ich nach den Mühen und der Unruhe meines Geistes rechnen will, so bin ich bereits ein Greis und habe Menschenalter durchlebt. Ich bin weit, sehr weit in meiner Reise vorgerückt. Laßt mich daher meine Blicke zurücksenden aus die unendliche See, die ich durchzogen – es liegt ein Nebel darüber, fast so undurchdringlich, als derjenige, welcher die Zukunft verdüstert. Laßt mich inne halten. Es ist mir, als sehe ich ihn allmählig brechen und einige Sonnenstrahlen sich durchkämpfen. Jetzt heben sich die fernen Wellen, und die Spiele der Kindheit treten rein und klar hervor. Es war der Lenztag der Unschuld. Wie nahe jene fernen Wogen dem Himmel zu sein scheinen! Sie treffen mit ihm zusammen und sind gleichsam eins mit ihm in der Linie des Horizontes. Jene funkelnden Blitze sind die Stunden, die glücklichen Gefühle meiner Kindheit. Wie die See des Lebens weiter rollt, schwellen die Wogen mehr an und werden trübe; je weiter ich von dem Horizonte meiner frühesten Erinnerungen abkomme, desto ferner wird mir der Himmel. Die Gewitterwolke steht hoch über meinem Auge, die tückischen Wasser brüllen unter mir, und vor mir steht die finstere Nacht einer unbekannten Zukunft. Wo anders könnten sich meine Augen nach Trost umsehen, als auf dem weiten Raume, den ich zurückgelegt habe? Während mein Nachen achtlos vorwärts gleitet, träume ich nicht von den Gefahren, die ich nicht sehe, oder zittere ich nicht vor Riffen, die wohlwollend meinen Blicken verborgen sind. Es ist zureichend, daß ich weiß, ich müsse endlich aus der Strand laufen und mein sterblicher Leib zerschellen, wie eine Barke am Gestade, ehe die reineren Elemente sich in die unermeßliche Unsterblichkeit emporschwingen können. Ich will Rücksprache halten mit den Tagen meiner Jugend und nur in der Vergangenheit leben. Das Gedächtniß soll den Prozeß der Medea an mir üben und mich wieder verjüngen. Ich will zurückkehren zu den Marbeln und zu einem sorglosen Herzen – zu dem Reise und zu dem glücklichen Frohsinn – wenigstens in der Einbildungskraft.

Ich werde fortan auf mein Gedächtniß bauen. Sollte dieser Theil meiner Geschichte mehr in dem Lichte einer Kette von Gefühlen, als in dem einer Reihe von Begebenheiten erscheinen, so darf der Leser nicht vergessen, daß eben diese Gefühle der frühen Jugend, wirkliche Ereignisse, die Keime der Handlungen und die Leitschnüre der Bestimmung find. Der Kreis, in welchem man sich als Knabe bewegen muß, mag für niedrig erachtet werden; die Umgebungen mögen ärmlich, die Personen, mit welchen man in steter Berührung lebt, gemein und unfläthig sein; aber der Geist, wenn er so rein bleibt, wie man ihn aus der Hand des Schöpfers erhalten hat, ist ein fleckenloser Edelstein von unschätzbarem Werthe, den die Großen und Reichen nur zu selten finden, oder doch nicht zu würdigen wissen. Nichts Geistiges ist gemein, und der Geist, der eine gemeine Scenerie gut schildert, durchaus nicht niedrig, wie auch dieser Vorwurf die Schilderung selbst nicht mit Notwendigkeit treffen muß. Dagegen bekunden Stolz und Verachtung unserer Nebenmenschen eine gemeine Sinnesart, und sind der Ausdruck einer niedrigen Seele; sie sind es, die nur zu oft Leute, welche in Seide umherprunken und in Equipagen fahren, unter den Niedrigsten herabwürdigen.

Ich habe dies gesagt, weil der erste Theil meines Lebens unter sogenannten »gemeinen Leuten« verbracht wurde. Wenn ich sie nach Wahrheit schildere, so müssen sie noch immer niedrig vor denen erscheinen, welche sich selbst das Beiwort »hoch« anmaßen, obschon ich für meine Person der Ansicht bin, daß nichts unter der Sonne niedrig ist, als die eigentliche Gemeinheit. Wer sich nützlich macht, verdient Ehre. Daß ersteres bei dem bescheidenen Arbeiter der Fall ist, wird nie in Abrede gezogen, obschon man ihn nur zu oft verachtet und ihm nur selten die gebührende Ehre erweist; aber ich habe unter dem »gemeinen Volke« einen Abscheu vor Gemeinheit, eine Selbstaufopferung, eine eiserne Geduld unter Entbehrungen aller Art und einen moralischen Muth gefunden, welche im Vornehmen Helden schaffen würden. Auch kann ich den Bewunderern der Größe sagen, daß die schlimmen Leidenschaften des gemeinen Volks eben so gigantisch, ihre Verworfenheit eben so großartig und ihre Begriffe von dem Laster eben so raffinirt und ausgebreitet sind, als die irgend eines fashionabeln Roués, um den man sich in den ersten Zirkeln drängt, oder sogar die eines gekrönten Despoten. Nun auch ein Wörtchen von der Kraft des gemeinen Verstandes. – Allerdings ist dieser selten durch eine aus bloßen Worten bestehende Gelehrsamkeit gebildet. Sein Wissen besteht nur in partiellen Lichtblicken; deshalb ist seine Sphäre zwar eng, er selbst aber dennoch kräftig. Er ist ein Zwerg mit den Muskeln und Sehnen eines Riesen, und was seine Faust in seinem unscheinbaren Kreise erfassen kann, wird mit furchtbarer Gewalt festgehalten. Der General, welcher Armeen besiegte und Länder unterjochte – der Minister, der sie zu Grunde richtete, und der Jurist, der Beide rechtfertigt – Keiner davon hat in der höchsten Höhe seiner Bemühungen auch nur den zehnten Theil von dem Scharfsinne und den geistigen Hülfsquellen, die mancher Gewerbsmann aufbieten muß, um für sich und seine Familie das tägliche Brod zu gewinnen oder seine Kundschaft zusammen zu halten, damit er nicht dem Armenhause verfalle. Warum heißen die Anstrengungen des Geistes bei dem Arbeiter gemein und bei dem Minister groß, tief und glorreich? Die wohlwollende Allmacht hat allen ihren Kreaturen diese köstliche Gabe verliehen. Eben so gut könnte man die Sonne als höchst gemein bezeichnen, weil sie, wie der Geist, Allen in gleicher Weise bei Verrichtung ihrer Obliegenheit Hülfe leistet. Ich wiederhole, daß nichts, was Geist hat, nothwendig niedrig sein muß, und nichts gemein ist, als die eigentliche Gemeinheit.

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