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Dreiundsechszigstes Kapitel

Die Bekenntnisse eines Wahnsinnigen, die aber doch eine sehr weise Warnung enthalten. – Ralph erhält seinen Urlaubsschein – sehr unnöthig, da er entschlossen ist, sich fortan seine Freiheit zu bewahren. – Da er als Seemann so unhöflich behandelt wurde, nimmt er sich vor, ein Civillist zu werden.

————

Hier unterbrach Kapitän Reud den Sprecher und sagte ihm, Josua sei ein Gefangener und habe, sobald er genesen sei, den Rest seiner sechs Dutzend Hiebe in Empfang zu nehmen. Als der gnädige Herr dies hörte, schien er wahrhaft erschüttert zu sein; er nahm den Kapitän bei Seite und unterhielt sich mit ihm einige Minuten in flüsterndem Tone.

Nach dem Schlusse dieser Besprechung trat Kapitän Reud vor, faßte Josua finster in's Auge und sagte:

»Junger Mensch, um anderer Personen und um anderer Interessen willen sollen Eure Vergehungen mit Nachsicht behandelt werden. Ich lasse sogleich Eure Entlassung von dem Schiffe ausfertigen. Wenn Ihr die Person seid, für die Ihr Euch ausgebt, so kann Euch an Eurem drei- oder viermonatlichen Solde nichts liegen. Habt Ihr hinreichend Geld, um Euch unverweilt nach London zu begeben?«

»Viel mehr als ich bedarf, Sir.«

»Ich dachte mir's. Geht also zu dem Rechtsgelehrten nach London. Wenn Ihr kein Betrüger seid, so glaube ich, daß Ihr die Vergebung eines Vaters zu gewärtigen habt. Vergeßt, daß Ihr je in diesem Schiffe waret. Mein Schreiber wird Euch Eure Entlassung unverweilt ausfertigen. Seht Euch vor – Ihr werdet bewacht. Es wird Euch ein lauerndes Auge folgen. Seid versichert, daß Ihr, im Falle Ihr von dem Euch vorgezeichneten Wege abweicht und nicht unverzögert zu Mr. M...'s Büreau geht – ehestens wieder in Eisen unter dem Halbdeck liegen werdet. Habe ich Eure Wünsche recht ausgedrückt, Mylord?«

»Vollkommen, Kapitän Reud.«

»Josua Daunton, schnürt Euer Bündel; ich werde inzwischen dem Schreiber die nöthigen Aufträge ertheilen. Ihr könnt gehen.«

Mit schlecht verhehltem Triumphe in seinem Gesicht verbeugte sich Daunton unterwürfig gegen Alle, mich ausgenommen. Mit einem beleidigenden Lächeln und ausgestreckter Hand trat er auf mich zu. Ich wich voll Abscheu zurück.

»Lebt wohl, Bruder Ralph. Ich sagte Euch, daß ich noch vor Euch in London sein würde. Wollt Ihr mich nicht mit einem Auftrag beehren? Nun – Euer Stolz ist nicht ungebührlich – ich will ihn um Eures Vaters willen nachsehen: und um seiner sowohl als um Euretwillen will ich Nachsicht haben mit dem Gaukelstückchen, das bisher den natürlichen Sohn – denn so lautet, glaube ich, die zarte Paraphrase – an die Stelle des rechtmäßigen Erben setzte. Lebt wohl.«

Ich gab keine Antwort. Er verließ die Kajüte und eine Stunde später das Schiff.

Ich will mich nicht des Vortheils jenes Ausdruckes bedienen, der für Novellen adoptirt ist: »meine Gefühle könne man sich wohl denken, seien aber nicht auszudrücken,« denn sie lassen sich recht gut mit zwei Worten bezeichnen – betäubte Entrüstung. Nachdem sich Josua entfernt hatte, folgten ihm bald auch die andern Personen in die Hinterkajüte – mich selbst ausgenommen, denn Reud hatte mir gesagt, ich solle bleiben, bis er wieder käme. Im Laufe einer Stunde kehrte Lord Whiffledale mit seinem Geleite an's Land und Kapitän Reud nach der Hinterkajüte zurück, welche ich während seiner Abwesenheit trostlos mit Schritten gemessen hatte. Er war etwas geröthet von dem genossenen Weine, aber vollkommen klaren Geistes. Freundlich auf mich zugehend, legte er seine Hand auf meine Schulter und sah mir bekümmert in's Gesicht. Es lag nichts Wildes in seinen Augen – ihr Ausdruck war mild, wie der einer Mutter. Allmälig sammelte sich in demselben eine große Thräne, die endlich langsam über seine schmale, bleiche Wange niederträufelte. Er drückte dann die Rechte schwer an seine Stirne und rief mit so hohler, trauriger und ergreifender Stimme, daß mir das Herz bei den Tönen schwoll: »Es ist hier! es ist hier!«

»Ralph, mein guter Ralph,« sagte er, nachdem er sich gesetzt hatte, unter bitterlichem Weinen, »wir müssen uns jetzt von einander verabschieden. Wir sind wahre Leidensbrüder – unser trauriges Geschick ist das gleiche. – Ihr habt Euer Ich verloren und ich das meinige. Seit jener verwünschten Nacht von Aniana ist John Reuds Seele stets von seinem Körper abgelöst gewesen; ich habe die größte Mühe gehabt, sie in ihrer Hülle festzuhalten – und wider meinen Willen geht sie zuweilen fort, während eine andere Seele in dieses welke Gerippe schleicht und mir traurige Tücken spielt – ja, traurige Tücken, Rattlin – traurige Tücken. Mein Ich ist dahin, und das Eurige gleichfalls, armer Junge. Wir wollen als Freunde scheiden. Diese Thränen gelten nicht blos Euch, sondern auch mir. Ich mache mir nichts daraus, jetzt vor Euch zu weinen, denn es ist nicht der wahre John Reud, der Thränen vergießt. Ihr denkt, ich sei ein Tyrann gegen Euch gewesen, aber ich sage Euch, Rattlin, es ist ein noch größerer Tyrann in dem Schiffe, als ich, nämlich jener schreckliche Doktor Thompson. Er zettelt ein Komplott an, um mir meine Bestallung zu nehmen und mich in ein Tollhaus zu schaffen. – In ein Tollhaus! Oh, mein Gott! mein Gott, nimm mir diese Todesangst ab. Haben deine Gewitter keinen Blitzstrahl – die Wellen kein Grab für mich? Muß ich auf dem Stroh sterben, wie ein Lastthier, das zu Tode gehetzt wurde? – Und so viele Schwerter haben unschädlich über meinem Kopfe geblitzt, – so viele Kugeln müssig an meinem Körper vorbeigesaust! Doch Gottes Wille geschehe! Nehmt Euch ja vor allen Aerzten in Acht, mein lieber Junge – sie haben das Auge einer giftigen Natter. Ihr wißt, daß Eure Identität gleichfalls in Zweifel gezogen worden ist; aber Ihr seid dennoch besser daran, als ich, denn Ihr könnt Euren Doppelgänger hören, sehen und betasten, während der meine mir entweicht, wenn ich nach einem Ausfluge in meinen eigenen Tempel zurückkehre. An Eurer Stelle würde ich übrigens das Ding, das da sagt, es sei Euer Ich, ohne es zu sein – zermalmen, zerdrücken, zerstören!«

»Das will ich, so wahr mir der Himmel helfe in meiner äußersten Noth!«

»Wohl gesprochen, mein Junge, wohl gesprochen – weil er kein Recht hat, sich vor die Laufplanke zu bringen und so einer heillosen Welt Gelegenheit zu geben, daß sie sagt, Ralph Rattlin sei gepeitscht worden. Doch laßt Euch dies nicht niederschlagen. Es wird Euch noch wohl ergehen – während ich, oh daß ich einen Sohn hätte! – ich könnte dann entkommen – Gott behüte Euch! – ich muß um Geisteskraft beten – um Geisteskraft – versteht mich wohl, um Geisteskraft. Geht, mein guter Junge. Wenn Euch das Unglück überholt und man mir etwas Besseres läßt, als eine dunkle Zelle und klirrende Ketten, so kommt und theilt es mit mir. Jetzt geht (er drückte mir die Hände in bitterem Schmerze) und sagt Doktor Thompson, ich wünsche ihn zu sprechen; bemerkt ihm aber zugleich, wie vernünftig und angenehm wir uns unterhalten haben – und vergeßt nicht, was ich Euch zum Abschied sage – nehmt Euch vor den Aerzten in Acht, bewahrt sorgfältig Euer Ich und denkt bisweilen an Euren armen Kapitän.«

Diese letzte Unterredung mit Kapitän Reud, denn es war meine letzte, würde mir sehr schmerzlich gewesen sein, hätte nicht mein eigener noch tieferer Schmerz alle anderen Gefühle verzehrt.

Am andern Morgen früh lichteten wir die Anker und segelten nach Sheerneß.

In den Medway angelangt, ging Kapitän Reud an's Land. Da ich keine Gelegenheit mehr haben werde, um auf ihn zurückzukommen, so will ich mit einem Male berichten, daß ihn das Loos, welches er so sehr fürchtete, wirklich erwartete. Sechs Monate, nachdem er die Eos verlassen hatte, starb er als ein Tobsüchtiger in einer Privat-Irrenanstalt.

Zu Sheerneß wurden wir ausbezahlt. Diejenigen von der Schiffsmannschaft, welche durch die Länge ihrer Dienstzeit zu einer derartigen Gunst berechtigt waren, erhielten für einen Monat Urlaub, aber nur die Hälfte ihres Soldes, da die andere zurückbehalten wurde, um sie zur Wiederkehr zu zwingen. Sie hatten ihre unterzeichneten Pässe in der Tasche – ich nenne sie Pässe und nicht Freischeine, weil sie von den Schildwachen an den Außenposten untersucht wurden, als ob die armen Matrosen bei ihrem Betreten des Landes in eine feindliche Stadt gekommen wären. Mein Urlaub lautete gleichfalls für einen Monat. Statt meinen Sold zu Sheerneß zu ziehen, nahm ich das Zahlbillet mit mir, um es in Somersethouse zu präsentiren, sobald ich in London angelangt wäre.

Als ich zum letztenmal an der Seite der Eos niederstieg, fühlte ich mich versucht, den Staub von meinen Füßen zu schütteln, denn in der letzten Zeit war mir die Fregatte zu einem wahren Aufenthalt des Fluches geworden. Von meinen Schiffsgenossen trennte ich mich ohne Abschied, da ich über Einige entrüstet, mit Allen aber unzufrieden war. Meiner Ansicht nach hatten sie der übertünchten Lüge eines gemeinen Betrügers nur zu bereitwillig Glauben geschenkt. Sie gingen nach Ost, West, Nord und Süd, und ich traf nur mit Wenigen wieder zusammen, die ich (mit einer einzigen Ausnahme) entweder mied oder zurückwies.

Um aller Beobachtung von Seite meiner früheren Gefährten zu entgehen, ließ ich meine gesammte Habe, die freilich außer meinem Sextanten und Teleskop nicht viel werth war, an Bord, nur den einzigen erbärmlichen Anzug, in dem ich ging und stand, mit an's Land nehmend. Ich suchte keinen Gasthof auf, sondern miethete mir ein kleines Zimmer mit einer Bettstelle in einem einfachen Hause, in welchem Wohnungen für unverheirathete Männer zu vergeben waren. Ich nahm meine Lage ruhig und hatte mir nun fest vorgenommen, meinen Vater aufzufinden, dann aber mich in Betreff meiner künftigen Laufbahn ganz von den Umständen leiten zu lassen, und den Beruf eines Seemanns zu verfolgen. Das alte Ehepaar, in dessen Hause ich mein jeweiliges Unterkommen gefunden hatte, war so ordentlich und frei von Neugierde, als ich nur wünschen konnte. Der Mann lebte von der Alterspension eines Dock-Yardmaten.

Zuerst schickte ich nach einem Schneider, einem Hutmacher und denjenigen andern Architekten, welche zum Aufbauen des äußeren Menschen so wesentlich sind. Das Kostüm, welches ich wählte, war so wenig als möglich dienstlich. Ich versah mich nur mit einem einzigen vollständigen Anzug, um mir den Rest meiner Garderobe in London vervollständigen zu können.

Da ich mir eines thätigen und verständigen Feindes bewußt war, der einen zweitägigen Vorsprung vor mir hatte, so beschloß ich, mit Vorsicht zu handeln. Von der mir angewiesenen Summe war noch ein halb Jahr im Rückstand, weßhalb ich aus den mehrgenannten Rechtsgelehrten ungefähr fünfundsiebenzig Pfund zog, und ihm zu gleicher Zeit in einem Briefe meine Ankunft in England meldete, die Frage beischließend, ob er mir vielleicht Weisungen in Betreff meiner künftigen Bestimmung mitzutheilen habe. Dieses Schreiben wurde mit umgehender Post in der ganzen Kürze des Geschäftstyls beantwortet. Der Rechtsgelehrte erklärte mir, es seien ihm keine Aufträge zugegangen, und schloß eine Anweisung an die Bank zu Sheerneß bei. Soweit war Alles sehr befriedigend, denn ich entnahm daraus, daß Josua Daunton seine Machinationen noch nicht in die Richtung ausgedehnt hatte, aus welcher meine Unterstützung floß, und hatte außerdem nun hinreichende Fonds, um meine Nachforschungen zu verfolgen.

Nach drei Tagen war ich in das fashionable Kostüm jener Periode gekleidet – blauer Rock mit großen, gelben Knöpfen, gelbe Weste mit dito, weiße Corduroy-Fortsetzungen, mit mehreren Nesteln an den Knieen gebunden, und Stulpenstiefel. Es war damals das Reich der Incroyabeln, einer weit wilderen Geckenspecies, als unsere Dandies, und noch viel widerlicher. Sie trugen eine Anzahl weißer Binden um den Hals, so daß das Kinn fast bis an die Oberlippe darin begraben war, und einen Knotenstock, der gewöhnlich in der Hand geführt oder schlau unter den rechten Arm gedreht wurde. Der Hut war hoch und kegelförmig, wie der der französischen Republikaner. Ihr Gang war renomistisch, ihr Blick unverschämt und ihre Unterhaltung ein Gewebe von Flüchen. Aus Grundsatz roh gegen die Männer und aus Gewohnheit rücksichtslos gegen die Damen, waren sie Trunkenbolde von Profession und geschworne Feinde des Lavendelgeistes, da sie ihre Parfümerie lieber aus dem Magazin des Bacchus, als aus Flora's Laboratorium holen wollten. Gleich irgend einem von diesen setzte ich meinen Ehrgeiz darein, mir ein ganz anderes Aussehen zu verschaffen, was mir auch leidlich gelungen sein mußte; denn wenn ich hin und wieder durch die Straßen von Sheerneß ging, traf ich stets mit einigen von der früheren Eosmannschaft zusammen, ohne daß diese ein Zeichen des Wiedererkennens blicken ließen.

Dir armen Bursche! Mehr als die Hälfte davon kam nie über das Weichbild von Sheerneß hinaus. Eine ganze Woche lang nach ihrer Auszahlung fand man sie zu allen Stunden des Tages schaarenweise in allen Phasen der Trunkenheit und durch alle Grade, die sich der wirklichen Nacktheit näherten, in den Straßen herum liegen oder rollen. Wer übrigens eine Woche lang an dem Verdienste seiner drei Jahre zu zehren hatte, war schon sparsam, denn die Durchschnittsperiode erstreckte sich nur auf drei Tage, während Einer, der mit dem Geiste besonderer Schnelligkeit gesegnet war, Alles in drei Stunden durchzubringen wußte und in der vierten sich wohlbehalten an Bord des Wachschiffes befand. In der ersten Stunde hatte er sich nämlich viehisch betrunken; in der zweiten war er beraubt und bis aufs Hemde ausgezogen; in der dritten hatte man den Ehrenmann in dem gedachten Zustande auf die beschneite Straße hinaus geworfen, und in der vierten nahm sich die Mannschaft des Wachschiffs aus bloßem Mitleid seiner Besinnungslosigkeit an. Von all dieser Demoralisation und Verschwendung zieht Niemand Vortheil, als die Juden und die Wirthshäuser. Die Damen, welche zuerst die Börse des Matrosen leeren, sind stets jammervoll arm. Der Pfandleiher, der Wirth und der Jude theilen die Beute unter sich. Während des letzten Krieges haben sich Viele in dieser schäbigen Weise ein ungeheures Vermögen zusammengerafft. Es ist Schade, daß sich keine Mittel auffinden lassen, den guten Jack ebenso klug zu machen, als er tapfer ist. Mehr Freiheit am Ufer würde ihn vielleicht lehren, sie besser zu benützen.

Uebrigens betrunken oder nüchtern – meine früheren Schiffsgenossen kannten mich nicht, worüber ich ungemein vergnügt war.

Aber obgleich ich meine Sache so vortrefflich eingeleitet zu haben glaubte, wachte doch ein einziges Auge ohne Unterlaß über mir, wenn ich schon damals nichts davon wußte.

*

 


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