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Fünfzehntes Kapitel

Es wird viel vortreffliche, aber eben deshalb nutzlose Diplomatik zur Schau gestellt. – Ein Friedenstraktat und viel Kopfzerbrechen. – Die Schlacht tobt und endlich erringen die Knaben den Sieg.

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Der Leser darf nicht glauben, daß die Lehrer und Schüler, während sie als Feinde einander gegenüberstanden, sich so ruhig wie Statuen verhielten. Auf beiden Seiten kam es häufig zu Reden, Vorstellungen, Bitten, Verweisen, und sogar Scherze fielen zwischen den kriegführenden, aber vorderhand noch ruhigen Parteien. In dem gedachten Wortgefechte hatten die Knaben jedenfalls den Vortheil, und die Unterlehrer hatten aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Magen, aus der Sache Ernst zu machen, da sie, wenn es zum Kampfe kam, gewissermaßen mit gebundenen Händen fechten mußten; denn ihr eigener Verstand sagte ihnen, daß sie es nicht verantworten könnten, wenn sie ihren Gegnern irgend eine verzweifelte Wunde schlügen. Ueberhaupt konnten sie auch in Anbetracht aller Umstände nicht gerade sagen, daß Mr. Root in augenfälligem Rechte stehe, obschon sie betheuerten, daß die Knaben schrecklich Unrecht hätten.

Als Mr. Root unter seine Myrmidonen eingetreten war, rief er sehr entschlossen:

»Meine Herren, vorwärts; ergreift Mr. Atkinson, Mr. Brewster, Mr. Davenant und namentlich Mr. Rattlin!«

Besagter Mr. Rattlin hatte sich sehr diensteifrig bis in die erste Reihe vorgebohrt. Nun ist die Heiligkeit einer hergebrachten Autorität so wirksam, daß wir beim Anrücken unserer Gegner, obgleich ohne unsere geschlossene Zeile auszugeben, wirklich zurückwichen. Alles wäre jetzt verloren gewesen, selbst unsere Ehre, wenn sich nicht der junge Henry St. Albans, ein natürlicher Sohn des Herzogs von Y– so ritterlich gehalten hätte. Dieser war für die Armee bestimmt und hatte seine Fortifikations-Vorstudien nicht ohne Erfolg ^gemacht, denn während Mr. Root Reden hielt und vorrückte, pflanzte St. Albans die Pulte in zwei übereinanderstehenden Reihen quer im Saale auf. In der ersten Reihe waren die Pultfüße nach oben gekehrt, so daß wir kein übles Surrogat für chevaux-de-frize hatten. In der That war dieses Manöver eine Vorahnung der Pariser Barrikaden. Wenn die Knaben an das Hinderniß kamen, so wurde es ihnen nicht schwierig, unten durchzukriechen oder darüber wegzuhüpfen; aber der Schulmonarch, Mr. Root, war zu sehr gepudert, der klassische Lehrer stak zu voll vom Griechischen, und der Mathematikus verstund seine Algebra zu gut, als daß sie nicht hätten wissen sollen, es vertrage sich nicht mit ihrer Würde, unter den Pulten durchzukriechen, während dagegen ein Sprung über dieselben eine Unmöglichkeit war. Die jungen Lehrgehülfen hätten vielleicht die Heldenthat vollziehen können, würden aber auf der anderen Seite der Barrikaden einen schlimmen Dank für ihre Mühe geholt haben.

Wenn zwei feindliche Heere nicht kämpfen können, ist es kein übler Zeitvertreib zu parlamentiren. St. Albans wurde einstimmig zum Führer ernannt, obgleich wir viele Aeltere unter uns hatten, da er erst achtzehn zählte. Ueberhaupt war dieser St. Albans ein herrlicher Jüngling – talentvoll, edelmüthig, tapfer, schön, wie alle seines Geschlechtes, und von so gewinnenden Manieren, wie sie nur je eines Weibes Liebe gewonnen oder die Rauhheit des Mannes gemildert haben. Er starb jung – und wo hätte er auch anders sterben sollen, da ihn nach dem Rathschlusse der Vorsehung diese Welt nicht verdiente, als in Mitte der Feinde seines Landes, dessen Banner siegreich über seiner blutenden Leiche wehte, während die Gegner flohen?

Henry stand nun als unser Führer und Sprecher vorne: beredt entwarf er eine Schilderung aller unsrer Leiden, ohne dabei das schimmelige Brod, das angegangene Schöpsfleisch, und die wöchentlichen Fleischpasteten zu vergessen. Er bedeutete Mr. Root, wie wenig Ehre in dem Kampfe für ihn zu erholen und wie sicher sein Verlust sein würde – machte ihn auf die Beschädigung seines Eigenthums und die Beeinträchtigung seines Rufes, auf den Verlust seiner Schüler und die daraus folgende Schmälerung seines Einkommens aufmerksam; dann gab er ihm zu bedenken, daß jede Spielzeugtruhe in dem Schulzimmer mit Feuerwerk gefüllt sei: sie hätten sich sammt und sonders fest vorgenommen, und es thue ihm leid, in diesem Falle den Entschluß aufrecht erhalten zu müssen, das Feuerwerk im Hause abzubrennen, wenn sie nicht Erlaubniß erhielten, es im Freien zu thun, und die Folgen würden dann auf Mr. Roots Haupt niederfallen. Diese Rede wurde unter einem langen Jubeln und Bravorufen zum Schlusse gebracht.

Der alte Reynolds stand ganz ruhig da, nahm seinen Schnupftabak handvollweise und forderte Mr. Root auf – ja, er flehte ihn sogar an, das Ganze für einen Scherz zu betrachten und, mit gebührender Beschränkung, den Knaben ihren Willen zu lassen. Mr. Root sagte dann mit einem possirlichen Versuch, ein angenehmes Gesicht zu machen, »er fange an, in den Geist der Sache einzugehen – sie sei gut durchgeführt worden – und es könne in der That nichts wirklich achtungswidriges gemeint sein, da Mr. Henry St. Albans sich dabei betheilige (man muß nämlich wissen, daß Henry ein ganz besonderer Liebling war); er sei daher geneigt, sie gewähren zu lassen, und die Schule in dem Lichte eines Forts zu betrachten, das zu kapituliren im Begriff sei. Aus diesem Grunde wolle er die Waffenstillstandsflagge annehmen und auf ihre Vorschläge hören.«

Die Knaben begannen an der Sache großen Gefallen zu finden. Es wurden folgende Bedingungen aufgesetzt, und ein Junge stieg mit einem Raketenstocke, an welchen ein weißes Schnupftuch gebunden war, über die Bank in das feindliche Hauptquartier. Die Schrift begann (wie alle Rebellenproklamationen, wenn man die Waffen gegen den gesetzlichen Souverän ergriffen hat) mit Versicherungen unerschütterlicher Loyalität und treueifrigen Gehorsams, fuhr aber dann fort – doch wir wollen zur Zeitersparniß jedem Vorschlage die Antwort gleich beifügen –

1. Den jungen Gentlemen soll, wie in früheren Zeiten, gestattet sein, in den Stunden von neun bis zwölf Uhr ihr Feuerwerk abzubrennen und die Ueberreste des gesammelten Materials zu einem Freudenfeuer zu verwenden.

Antwort. Zugestanden – mit der Beschränkung, daß alle jungen Gentlemen unter neun Jahren ihr Feuerwerk an die älteren Knaben abgeben und außerhalb der Verzäunung stehen bleiben, während es abgebrannt wird.

2. Jeder Schaden oder jede Beeinträchtigung, die durch besagte Belustigung Mr. Roots Eigenthum zugefügt wird, soll durch eine Subscription der Schule vergütet werden.

Antwort. Genehmigt.

3. Da es bald acht Uhr ist, sollen die jungen Gentlemen ihr gewöhnliches Nachtessen haben.

Antwort. Zugestanden.

4. Eine allgemeine Amnestie ist zu proklamiren, und Niemand soll für seine Theilnahme an diesem unüberlegten Widerstande in was immer für einer Weise zu leiden haben.

Antwort. Genehmigt – mit Ausnahme von Mr. Atkinson, Brewster, Davenant und Rattlin.

Während dieser Artikel in letzter Instanz debattirt wurde, flatterte die Waffenstillstandsfahne noch immer hoch. Die Schlußbedingung sollte vollkommene Amnestie sein. Aber dennoch war die Mehrzahl der Knaben so gespannt auf ihre Belustigung, daß ohne die edle Festigkeit von St. Albans die Führer, wie der arme Pilgarlick, zuverlässig dem Vergnügen ihrer Kameraden geopfert worden wären. Aber die Sache wurde bald zu einer Krisis gebracht. Die militärische Verhandlung gefiel mir ungemein, und um mich derselben besser erfreuen zu können, hatte ich mich unter eines der Barrikadenpulte gekauert. Da saß ich nun mit zufriedenem Grinsen, Kopf und Schultern in das feindliche Lager steckend.

Die letzte Klausel wurde noch verhandelt, als – oh des unerhörten Verraths! – Mr. Root, der sein Opfer so nahe sah, mich an den Ohren ergriff und den Versuch machte, mich als Gefangenen in sein Hauptquartier zu ziehen. Meine Kameraden zerrten dagegen an meinen Beinen und ließen mich nicht los. St. Albans protestirte, und sogar einige der Lehrer riefen Pfui, als endlich Mr. Root, weil er sah, daß er seinen Zweck doch nicht erreichte, zum Abschiedssegen mir einen derben Schlag in's Gesicht versetzte, und mich dann losließ. Sobald ich mich wieder wohlbehalten auf der rechten Seite der Barrikade sah, wurde all' mein Schrecken durch den Schmerz überwältigt; ich ergriff ein Dintenfaß und schleuderte es mit unglücklicher Sicherheit nach den gepuderten Locken des Ruthenschwingers! Mr. Roots Wappenmantel war nun, wenigstens auf dem Helme, buchstäblich weiß- und schwarzgefleckt.

»Jetzt vorwärts, ihr Jungen!« rief der muthige St. Alban.

Die Barrikaden waren in einem Nu erstiegen, und nun begann das Handgemenge gegen unsere Feinde. Die Lineale flogen schräg, senkrecht und horizontal – die Dintenfässer machten schwarze Springbrunnen in der Luft – die Bücher, für welche die Autoren ihr Bestes gethan hatten, um sie für immer friedlich auf den Simsen ruhen zu lassen, wurden nun mit einemmale lebendig und machten Eindruck. Ich muß Mr. Root die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er sich ritterlich in dem Melée hielt. Sein weiß und schwarzer Kopf tauchte da und dort auf und das Klatschen seiner Peitsche tönte furchtbar unter den Schienbeinen seiner Feinde.

Der alte Reynolds, der nicht einmal während der Schlacht im Stande war, seiner eingewurzelten Gewohnheit Abbruch zu thun, hatte den Inhalt seiner großen Schnupftabacksdose in den Augen, ehe noch zwanzig Streiche gefallen waren. Er rannte brüllend und prophezeihend wie der blinde Tiresias unter beiden Parteien umher, und als Propheten wurde ihm die gebührende Achtung zu Theil. Der sehr fette französische Sprachmeister war bald niedergeworfen und lag zappelnd da, von Gloire und la belle France rufend, während Freund und Feind über ihn wegschritten, nur gelegentlich ihm einen Fußtritt versetzend, wenn man fand, daß er im Wege war. Mr. Simson, dem mathematischen Lehrer, sagt man nach – obschon ich für die Wahrheit des Berichtes nicht einstehen will, da er mir zu homerisch scheint – daß er, als er sich hart gedrängt sah, die Himmelskugel erhob und damit seine Gegner niederschlug; da er jedoch ein sehr geistesabwesender Mann war, bei welchem die Herrschende Leidenschaft stets ein furchtbares Uebergewicht übte, so begann er, statt seine Feinde zu zermalmen, auf dem Globus ein Problem zu lösen; aber noch ehe er den Werth eines einzelnen Tangenten aufgefunden hatte, war die Himmelskugel an seinem Schädel in Stücke zerschlagen, und er sah mit einemmale mehr Sterne in seinen Augen, als je in der Milchstraße geblinkt hatten. In weniger als zwei Minuten wurde Mr. Roots Wappenhelme auch das Roth beigefügt – seine Nase sprudelte Blut, seine Augen waren blau, und die schönen Zähne, auf die er sich so viel zu gut that, geriethen in einen bedauernswürdigen losen Zustand.

Was mich selbst betraf, so leistete ich nicht viel – es war mir unmöglich – vor Entzücken. Ich tanzte und jubelte in der vollen Tollheit der Freude. Damals kostete ich zum erstenmale das glühende, sinnberückende Gift der Kampflust, und ich hätte mich nicht schwungkräftiger fühlen können, selbst wenn statt des Schlachtrufs »ein St. Albans!« – »ein Rattlin!« erschollen wäre. Die Kampflust eines jungen Herzens gleicht dem Sand der Wüste, den kein Wasser zu sättigen vermag.

In weniger als drei Minuten war die Position unter der Gallerie erobert. Root und die Lehrer zogen sich durch die Thüre zurück und verbarrikadirten sich stark von außen: wenn wir uns daher rühmen konnten, ihn ausgeschlossen zu haben, vermochte er in gleicher Weise zu sagen, er habe uns eingeschlossen. Wir machten drei Gefangene – Mr. Reynolds, Monsieur Moineau und einen langen, schleichenden, gelbrübenfärbigen Unterlehrer, der abscheuliche Verse auf die kränkliche Hausmagd zu dichten und der einfältigen Person halbe Kronen abzuborgen pflegte, um damit Pomade für sein dünnes, schlichtes Haar zu kaufen. Man kannte ihn als einen Schleicher und hatte ihn auch im Verdachte der Angeberei. Der Tölpel hatte weinend sich in eine dunkle Ecke zurückgezogen, und wir fingen ihn, wie er eben seine Augen mit dem Schnupftuch bearbeitete. Die Achtung, welche wir gegen den französischen und den lateinischen Lehrer hegten, bewog uns, sie in Freiheit zu setzen, und die Thüre wurde zu diesem Zwecke halb geöffnet; den Unterlehrer behielten wir jedoch zurück, um uns nach der Weise der amerikanischen Indianer einen Spaß mit ihm zu machen.

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