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Neuntes Kapitel

Ich bin nicht Einer unter Tausenden, sondern Einer unter einem Vierteltausend, dem keine Schonung gezeigt wird. – Trotz meiner Bitten werde ich bitterübel behandelt und nicht nur auf die niedrigste Bank gesetzt, sondern kriege es auch sehr ungemächlich auf dem Sitze meiner Ehren.

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Helden, Staatsmänner und Philosophen müssen sich in die Umstände schicken, und ein Gleiches ist auch bei kleinen Knaben in einer Pensionsschule der Fall. Ich ging mit den Uebrigen zu Bette und erhielt wie die Uebrigen meinen Schlafkameraden. Jene Nacht entschwand sehr elend für mein kindliches Herz. Als ich fand, daß es unbemerkt geschehen konnte, begrub ich mein Gesicht in die Kissen und weinte in der vollen Leidenschaftlichkeit des Unglücks. Nie werde ich jene bittere Nacht der Thränen vergessen. Es ist auffallend, daß ich nicht lange um meiner selbst willen weinte. Wehmüthige Bilder tauchten vor mir auf und forderten der Reihe nach den Zoll des Schmerzes, ohne gerade mit meinem eigenen Leiden in Verbindung zu stehen. Meine einsame Verlassenheit focht mich nicht länger an, aber ich stellte mir vor, meine Pflegmutter sei krank – mein Bruder habe sich in den Straßen verloren und wandere zerlumpt und hungrig umher – ja, meine Einbildungskraft ließ mich sogar Brandon als verunglückt sehen, und er rief kläglich, obgleich umsonst, nach seinem kleinen Ralph, daß er hingehe und die Mutter hole. Diese Bilder erfüllten mich mit einer so namenlosen Angst, daß ich bis zum Grauen des Morgens wach blieb, und der erste Lichtstrahl, der durch die Fenster fiel, führte erst Ruhe und Schlaf herbei.

Ich hatte ein hartes, ein grausam hartes Leben in jener Schule. So lange ich noch bei meiner Pflegmutter lebte, pflegten mich die Gassenjungen zu verfolgen, weil ich zuviel von einem Gentleman an mir hatte, und nun zerdroschen mich die jungen Gentlemen, weil ich mich nicht zu der Höhe von ihrer Gentilität emporschwingen konnte. Ich hatte in jedem Knirpse, der stärker war als ich, einen Tyrannen, während die Schwächeren mich verspotteten. Am nächsten Morgen nach meiner Ankunft trat ein Junge, der ein wenig größer war, als ich, auf mich zu und versetzte mir ohne Umstände einen so derben Schlag, als es seine Kräfte zuließen, in's Gesicht. Halb weinend vor Schmerz und doch nicht wünschend, als händelsüchtig zu erscheinen, fragte ich mit gutmüthiger Demuth, ob das Scherz oder Ernst sein solle. Der kleine Unverschämte versetzte in seinem Schuljungenwitz: »zwischen d'rin.«

Dies war mir zu viel; meine Leidenschaft und meine Faust erhoben sich zumal, und letztere traf die Stelle zwischen den Augen meines Beleidigers. »Dies ist mein ›zwischen drin‹«, sagte ich. Seine Nase begann zu bluten und als ich in das Schulzimmer hinunterkam, wurden dem »neuen Knaben« wegen Boxens die Hände tüchtig mit dem Lineale gewärmt.

So entschwand leider mein erstes akademisches Lebensjahr elend genug. Die ersten zwei oder drei Monate wurde ich verachtet und lächerlich gemacht, weil ich derb in meiner Sprache und gemein in meinem Aussehen war, auch kein vergoldetes Spielzeug, keine Pflaumenkuchen und keine neu geschlagenen Schillinge hatte, die meine Gebrechen hätten versöhnen können. Als man gar aus meinem eigenen Bekenntnisse ausgefunden hatte, ich sei nur der Sohn eines Taglöhners, mieden mich die aristokratischen Sprößlinge der Fleischer, Ellenwaarenhändler und Tuchmacher, und endlich wurde ich ein Halbdutzendmal gepeitscht, um von dem Glauben kurirt zu werden, daß Joseph Brandon und seine Frau meine Eltern seien. Dies war der kürzeste Weg der Ueberzeugung, und Mr. Root that sich etwas darauf zu gut, in Kurzem seinen Zöglingen das nöthige Wissen mitzutheilen, obschon ich den Leser versichern kann, daß die Art und Weise, wie er es angriff, sehr empfindlich war.

Mr. Root, der Vorstand dieser ungeheuren Schule, welche in der Nähe von Islington lag, war ein kräftiger, schöner Mann von ungefähr dreißig. Er hatte früher an dem Orte, wo er jetzt den Befehl führte, eine untergeordnete Rolle gespielt und durch sein gutes Aussehen die Hand der Wittwe seines Vorgängers gewonnen. Er besaß eine sehr blühende Farbe und hatte ein kaltes, dunkles Auge, aber sein Gesicht war das sinnlichste, das ich je gesehen. Von der weißen, niedrigen Stirne an, bis zu dem wohlgeformten Kinne, befand sich keine Stelle, auf welcher der Zuschauer wohlgefällig als der Spur des Verstandes hätte ruhen können. In seinem Auge lag allerdings Spekulation, aber es war nur die Spekulation auf Farthings. Auf seiner Wange lag ein reines Roth, aber es war die Gluth der Materie, nicht des Geistes. Sein Mund war schön geformt, aber in dem gemischten Ausdruck von Eitelkeit und Strenge aufgeworfen. Er war sehr stark und sein Arm ungemein kräftig. Mit allen diesen persönlichen Vortheilen verband er eine schrille, mädchenhafte Stimme, welche ihn in der Ausführung seiner Grausamkeiten eigentlich abscheulich erscheinen ließ. Ich glaube wahrhaftig, daß er in dem Akte der Züchtigung ein sinnliches Vergnügen empfand; auch war die Geißelung der einzige Geschäftszweig in der Schule, welchem er vorstand. Um zwölf Uhr pflegte er herein zu kommen, worauf er alle als straffällig Bezeichneten auf eine Bank sitzen ließ, seinen Diener herein rief und die Jungen abstriegelte – ein Geschäft, das ihm in der Regel bis ein Uhr reichliche Unterhaltung verschaffte. Er prunkte damit, daß er keinem seiner Unterlehrer gestattete, irgend einen der Zöglinge zu bestrafen. Der Heuchler! der Epikuräer? Er wollte den ganzen Hochgenuß sich selbst vorbehalten. Fügt man noch bei, daß er von der Pädagogik gar nichts verstund und eine ganz abscheulich gute Hand schrieb (das gewöhnliche Zeichen eines armen, nur mit Kleinigkeiten sich befassenden Geistes), so hatte man ein treues Bild von Mr. Root.

Ich habe gesagt, daß er ein grausamer Tyrann war; indeß muß man doch auch den Nero nicht schwärzer malen, als er ist, weshalb ich der Menschlichkeit des Schulmeisters zum Ruhme nachsagen will, daß es zwei Tage anstund, ehe ich gepeitscht wurde, und dann geschah es wegen des ungeheuren Verbrechens, daß ich meinen Namen nicht kannte.

»Rattlin! Rattlin!« sagte der Pädagoge. Keine Antwort. »Master Rattlin!« (in schrillerer Stimme.) Abermals keine Antwort. »Master Ralph Rattlin!« Viele stutzten, aber »Ralph Brandon« dachte, es gehe ihn nichts an. Und doch ging es ihn an. Ich glaube, daß man mir meinen neuen Namen gesagt hatte, aber ich hatte ihn in meinem Schmerze vergessen, und nun sollte mir ihn der Schmerz auf's Neue in's Gedächtniß rufen. Als ich zum erstenmal in Wirklichkeit die herbe und bittere Frucht von dem Baume der Erkenntniß kostete, dachte ich mit Wehmuth an das milde Strafsystem des alten Isak, meines Soldatenschulmeisters, zurück.

Zu jener Zeit war der Weg zur Gelehrsamkeit weder mit Blumen noch mit Palmblättern, sondern mit brennenden Birkenzweigen bestreut. Der Schulmeister war noch nicht im Auslande gewesen, peitschte aber fleißig in der Heimath darauf los, und ich erhielt in der That von seinem Eifer einen reichlichen Antheil. Ich wurde gepeitscht, mochte ich es nun verdienen, oder nicht; die Ruthe kam an die Reihe, wenn ich zu laut sprach, wenn ich nicht laut genug sprach, oder wenn ich gar den Mund hielt. Außerdem mußte ich auch eines Morgens das Roß ohne Sattel reiten, weil mein Gesicht schmutzig war, und am andern Tage wurde mir dieselbe Strafe diktirt, weil die Magd sich mit dem Waschen desselben hatte bemühen müssen. Ich wurde gepeitscht wegen des Schmutzes meiner Schuhe, und verfiel abermals meinem Züchtiger, weil ich es versuchte, sie mit meinem Taschentuch zu reinigen. Spielte ich, so erhielt ich die Ruthe, und wenn ich im Schulzimmer blieb, ohne zum Spiel hinauszugehen, so war es der gleiche Fall. Die größeren Knaben pflegten mich zu schlagen, und dann folgte Strafe wegen Boxens. Es ist schwer, etwas namhaft zu machen, für was ich nicht gepeitscht wurde. Die widersprechendsten Dinge führten unvermeidlich zu demselben Ende, und dies bestand lediglich in dem meiner eigenen Person. Einmal wurde ich so gepeitscht, daß ich ernstlich erkrankte, und nun hielt die Hand des Züchtigers inne; ich fand eine kurze Erleichterung auf dem Krankenbette. Sogar jetzt noch blicke ich mit Grauen auf jene Tage der Verfolgung zurück. Es waren die Zeiten der großen Schulen, der in Salzwasser eingeweihten Ruthen ( buchstäbliche Thatsache), der innern Aufstände, »des Bumsens« unbeliebter Unterlehrer und des »Ausschließens« tyrannischer Schulmeister. Eine derartige Schule war ein eigentlicher Ort der Qual für freundlose und verlassene Waisen. Die Jungen blieben damals in der Schule, bis sie achtzehn und sogar zwanzig Jahre alt waren, trotz allen Drucks in ihrer Plackerei heranwachsend.

Möge Niemand diese Einzelnheiten für knabenhaft halten. Im Verlaufe unserer Geschichte wird der Leser finden, daß derartige Thatsachen Gelegenheit zu psychologischen Studien geben. Er wird sehen, wie ein verkehrter Geist gebildet werden muß, oder ein edler zu Grunde gerichtet werden kann – wie sich die schlimmen Leidenschaften einpflanzen, und durch welche Mittel ihr Wachsthum ermuthigt wird. Er kann die Ursachen verfolgen, durch die ein poetisches Temperament fast zum Wahnsinn getrieben wird; denn er hat bereits gesehen, wie der Dämon eines plötzlichen Zorns festen Fuß in einer Ecke meines Herzens gewonnen, und wird nun weiter finden, durch wen und in welcher Weise die Keime schlimmer Laster in einen Busen gesäet wurden, der vielleicht dazu geschaffen war, nur die edelsten Gefühle zu bergen und sich zu der sanftesten Gemüthsart zu erweichen. Es ist dies nicht die Sprache der Eitelkeit. Ich weiß wohl, welch' ein Wrack ich bin, aber man möge mir den armseligen Trost gestatten, Betrachtungen anzustellen, was ich hätte werden können. Es liegt Pietät in dem Gedanken, denn es ist eine stumme Huldigung gegen die Güte des Schöpfers, wenn ich anerkenne, daß er mir die Reinheit und Empfänglichkeit der Tugend verlieh; auch birgt sich darin die Hoffnung, daß vielleicht in künftigen Zeiten – wenn auch nicht hinieden, so doch jenseits – meine Seele Ihn wird anbeten werden in all der kindlichen Unschuld, die Er ihr schenkte, ehe ich so zu sagen zur Sünde gezwungen wurde. Nach Jahren des Leidens bin ich nur noch eine Muschel, die einst schön war, nun aber zerfressen und zerstoßen auf den Sand geworfen ist. Zuweilen meine ich, daß noch nicht aller frühere Farbenglanz verwischt, und daß sie, wenn der Athem des Wohlwollens sanft hineinweht, noch immer im Stande ist, einige Noten der »trefflichsten Musik« wiederzugeben.

Dies mag nun freilich Eitelkeit sein; aber warum sollte ich maskirt vor die Oeffentlichkeit treten? Ich bin eitel und habe dies schon zu hundertmalen von Leuten hören müssen, die noch weit eitler waren, als ich. In der That, sie mußten doch zu einem Urtheile fähig sein.

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