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Einundzwanzigstes Kapitel

Handelt von der Liebenswürdigkeit hölzerner Glieder und von der Thorheit jungfräulichen Schreckens. – Ralph setzt seine Drohung, Verse aufzutischen, in Vollzug, eine Sünde, um deren willen der Leser vielleicht dem Dichter die Vollziehung eines Galgenurtheils wünscht.

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Trotz des Nasenrümpfens meines freundlichen Lesers schrieb ich doch Verse, die als ein wahres Wunder in dem Dorfe herumgetragen wurden. Da Riprapton meine Reimtüchtigkeit bezweifelte oder vielmehr in Abrede zog, so beschloß ich endlich, mich an ihm selbst zu versuchen, und er gab mir bald darauf eine vortreffliche Gelegenheit an die Hand.

Schriftsteller, welche sich darauf etwas zu gut thun, tief in das Geheimniß der Ursachen und Wirkungen einzugehen, können dir, lieber Leser, die Versicherung geben, daß sich bei kaltem Wetter die Leute gern um das Feuer versammeln. Unser Unterlehrer und ein Kreis bewundernder Zöglinge bewährten eines Tages die Wahrheit dieser tiefsinnigen Theorie. Der mit Holz aufgebaute Mann stand in der Mitte des Halbkreises, den Rücken gegen den Kamin gewandt und die Schöße seines Rocks über die Arme geschlagen. Er machte sich eine Freude, und wir machten ihm's gleichfalls. Er war der Held der Erzählung, welche er uns vortrug – in der That kannte er nie einen andern Helden, als das Ich – und seine Geschichte war eigentlich wunderbar. In der Gluth seines Vortrags pflegte das hölzerne Bein mit einer egoistischen Schwenkung in die Höhe zu fahren, und mit dem fleischernen ein rechtwinkliges Dreieck zu beschreiben; dann ging es wieder nieder, und der Pulsator erhob sich mit ausgereckter Zehenspitze, dem Manne Gelegenheit gebend, seiner Schuhschnalle einen grüßenden Bewunderungsblick zuzuwerfen.

Während dies in dem Schulzimmer vorging, saß in der Hinterküche oder vielmehr in dem Frühstückzimmer, unmittelbar unter uns, eine sehr blonde Dame in tiefes Brüten versenkt über die Tugenden des Schwefels und Syrups, und über die wirksamsten Antidote gegen Frostbeulen. Sie führte in dem ökonomischen Haushalte der Schule das zweite Kommando, und war natürlich unverheirathet. Während sie nun mit emsiger Nadel die Ferse eines allzubrüchigen Strumpfes bearbeitete, murmelte sie in halblauten Noten die Verse des Liedes vor sich hin:

»Ist Niemand, der mich haben möchte,
Will denn kein Freier kommen?«

Und nicht vergeblich hatte die Dame den Endreim dieses bedeutungsvollen Liedes gesungen! Es war wirklich Jemand da, der kommen wollte.

Gehen wir übrigens wieder die Treppe hinauf. Mr. Rip befindet sich in der Mitte seiner Erzählung, in der er folgendermaßen fortfährt:

»Aber, junge Gentlemen, ich hasse die Anmaßung und habe nie einen Gecken leiden können. Als ich bemerkte, daß Se. Gnaden unverschämt wurde, erhob ich also meinen Fuß, um ihn zu züchtigen, und nieder – –«

Ein Krachen – ein Ausruf des Schrecks und dann ein helles Gelächter – denn siehe, der Züchtiger der Unverschämtheit oder wenigstens der aus Holz gebaute Theil desselben war in den Boden eingebrochen.

Mr. Cherfeuil öffnete in diesem Augenblicke die Thüre; er entdeckte den Lärmen, ohne den Mann zu bemerken, der ihn hätte zügeln sollen, denn die Knaben standen um seine Ueberreste her und verbargen dieselben vor den Blicken des würdigen Pädagogen, welcher ausrief:

»Was für ein Lärm das? Wo is Mr. Ripraptong?«

»Eben zu Miß Brocade in das Frühstückzimmer hinunter gestiegen,« versetzte ich.

» Ah bah! c'est un véritable chevalier aux dames,« sagte Mr. Cherfeuil, schlug die Thüre zu, und eilte die Treppe hinunter, um seinen allzugalanten Stellvertreter heraufzuberufen.

Wir ließen Mr. Riprapton eine Zeitlang seine zwei Stockwerke zumal bewohnen, denn er war in seiner Lage vollkommen hülflos. Der bewunderte Pulsator lag seiner ganzen Länge nach auf dem Boden ausgestreckt. Endlich halfen wir ihm auf.

»Ist Niemand, der mich haben möchte,
Will denn kein Freier kommen?«

sang Miß Brocade unten, als mit einemmale Mörtel, Schutt und Staubwolken in ihren Schooß fielen! Und als der Nebel sich verzog, ragte von oben herunter ein unaussprechlicher Index. Ihre Sinne waren verwirrt und vermochten das Mirakel durchaus nicht zu fassen, weßhalb sie nichts Besseres zu thun wußte, als in Ohnmacht zu sinken. Als Mr. Cherfeuil eintrat, fand er seine theure Haushälterin augenscheinlich leblos und mit den Débris seiner Decke beworfen zu seinen Füßen, während das hölzerne Bein seines Unterlehrers über ihm baumelte. Dem Schrecken folgte natürlich ein Gelächter, dem Einsturze die Ausbesserung, und dem Ganzen nachstehender Schuljungen-Versuch eines Gedichts über den unvergeßlichen Vorfall.

Ehrgeiz'ger Mann, dem Wen'ge nur
Zu folgen sich getrauen
Auf süßer holder Liebe Spur
Zur schönsten aller Frauen!
Ein Gott und Mensch in – Zwiegestalt –
Entbrennen deine Flammen,
Doch da und dort, erlöschend kalt,
Bricht Alles dir zusammen.

Der Schooß der schonen Danaë
Füllt sich mit gold'nem Regen.
Beim Jupiter – Zeus war nicht zäh';
Doch ist es nicht verwegen,
Zu hoffen auch ein glücklich' Loos,
Du zäher Rechenmeister,
Wenn du der zarten Dame Schooß
Bekleckst mit Mauerkleister?

Daß dein Versuch, als Donnerer
Dich mit der Maid zu einen,
Dir nicht gelang, wird Niemand sehr
Verwunderlich erscheinen;
Doch wenn als menschlich Freierlein
Du auswirfst deinen Köder,
Dann zeigst du wohl ein sich'rer Bein.
Als eins von Holz und Leder.

Diese Verse sind gerade so, wie ich sie damals schrieb, denn ich hoffe, der Leser wird nicht glauben, daß ich mich jetzt noch einer derartigen Schuljungenpoesie schuldig machen könnte. Es ist übrigens nur der reinste Zufall, daß ich noch im Stande bin, sie in ihrer ursprünglichen Form zu geben, da sie mir ein alter Schulkamerad, den ich seit den Tagen der Syntax nicht wieder gesehen, und dessen Namen ich ganz vergessen hatte – erst kürzlich wieder zugehen ließ.

Wie dem übrigens sein mag – in einem abgeschiedenen Dorfe wurde das Machwerk als etwas ganz Außerordentliches betrachtet. Sogar der Unterlehrer that, als gefiel es ihm ganz ausnehmend gut. Die Verse trugen viel zu Hebung meines Rufes bei, und hatten für mich die noch bedeutsamere Folge, daß ich Einladungen zu Mittagessen und zu Thee erhielt. In der That waren meine halben Vakanztage nicht länger mein Eigenthum. Ich war ein Gegenstand der Neugierde und, wie ich hoffe, oft auch der Zuneigung geworden. Der Schmerz, der Schrecken und der Abscheu, die meine Lügen in der letzten Schule über mich verhängt hatten, waren geeignet gewesen, mich von meinem Hange zur Unwahrheit völlig zu heilen, und ich erfand keine Geheimnisse und Unwahrscheinlichkeiten mehr, obgleich meine gutmüthigen Freunde es in reichlichem Maaße für mich thaten. Mrs. Cherfeuil gab an, sie wisse kaum etwas von mir – allerdings hatte sie mich, ehe ich nach ihrer Schule kam, während der ganzen Zeit meines Daseins nur viermal gesehen. Sie wußte blos, ich sei das Kind einer Dame, mit der sie der Zufall zusammengeführt und, trotz der Kürze der Bekanntschaft, eine innige Freundschaft geschlossen habe; aus bloßer Theilnahme sei sie bei mir zu Gevatter gestanden, und sie habe sich nie berechtigt gefühlt, über die Einzelnheiten meiner Herkunft Erkundigungen einzuziehen. Dieselbe sei natürlich in ein Geheimniß eingehüllt, zu dem es an dem Schlüssel fehle; es sei ihr übrigens bekannt, daß ich wenigstens einerseits von einer sehr guten, ja sogar hochstehenden Familie abstamme. Außerdem habe sie aus dem Munde ihrer Freundin die feierlichste Versicherung, daß man mir schwer Unrecht thue, wenn man etwa glaube, daß meine Geburt illegitim sei.

Das war nun etwas für die Basen im Dorf, und die Hypothesenkrämerei übte eifrig ihr Werk. Ich war wohl zufrieden mit der Stellung, welche mir die Einbildungskraft meiner gastfreundlichen Beschützer anwies. Aber diese wohlwollenden Gesinnungen beschränkten sich nicht nur auf's Land, denn ich verbrachte jetzt meine Ferien meistens in London, bei den Eltern einiger meiner Schulkameraden. In jener Zeit wurde ich auch bekannt mit den Herrlichkeiten der Bühne, und ich erkämpfte mir oft meinen Weg durch Schaaren von Thoren, um den heroischen Coriolan, den philosophischen Hamlet und den ehrwürdigen, großartigen Lear durch ein Kind darstellen zu sehen. Mr. Betty stand damals auf der Glanzhöhe seines Rufs, und der würdevolle, klassische Kemble mußte eine Weile sein majestätisches Antlitz vor dem Auge der Theatergänger verschleiern. Wie bethört war nicht jenes kombabische Geschlecht mit seinem Betty!

Meine Lage war, wie die Diplomaten sagen würden, seltsam und doch angenehm. Ich fühlte mich unter den schützenden Schwingen einer zärtlichen, liebevollen Mutter (obgleich sie dieses Verhältniß nicht zugestand) gegen alles Uebel bewahrt, und sah oft, wenn ich in Gesellschaft war, ihr Auge glänzen und ihr Antlitz triumphirend erglühen, falls mich Jemand wegen irgend einer wirklichen oder eingebildeten Eigenschaft lobte. Ich allein fühlte, verstand und liebte diese Regungen, die allen Andern so geheimnißvoll waren. Sie beobachtete übrigens eine unwandelbare Politik, indem sie meinen Lobern stets sanfte Einwendungen entgegenhielt, dieselben aber mit einer Klausel verwahrte, durch welche sie in der Regel zu meinem wirklichen Preise dienten. Und wie vorsichtig war sie nicht, mich ja keine Bevorzugung blicken zu lassen! Aeußerst selten war ich mit ihr allein, und wenn es je einmal vorkam, hielt sie sich in ihrem Wesen weit kälter als gewöhnlich. Bei derartigen Gelegenheiten brannte mir stets die Frage: »wer bin ich?« auf den Lippen; aber dennoch flößte mir ihr Benehmen eine solche Achtung ein, daß ich nicht auszusprechen vermochte, was mir doch zu unterdrücken so schwer wurde.

Wie sie auch früher gewesen sein mochte – in jener Periode zeigte sich keine Spur von Romantik in ihrem Charakter, obgleich sie sich vielleicht in einer höchst romantischen Lage befand? Wie konnte dies übrigens auch sein, da ihr Busen ohne Unterlaß mit unterdrückter Zärtlichkeit und vielleicht Furcht erfüllt war. Daß sie mich mit überschwänglicher Innigkeit liebte, konnte ich aus zwei kleinen Umständen mit Zuversicht entnehmen. Der erste bestand darin, daß sie jede Nacht, wenn sie mich in gesundem Schlafe wähnte, ehe sie sich selbst zu Bette begab, nach meinem Lager kam und mich küßte, zuvor aber durch viele kleine Manöver sich überzeugte, ob ich nicht wache. Sie pflegte sich dann niederzubeugen, und wenn sie die Fülle ihres mütterlichen Herzens gegen mich ausgoß, geschah es mit zitternder Vorsicht, als fürchte sie, in einem Vergehen überrascht zu werden. Ein paarmal ließ ich sie absichtlich bemerken, daß ich wach war; aber dann entfernte sie sich mit so bekümmerter Miene, daß ich mir vornahm, ihr keinen ähnlichen Schmerz mehr zu bereiten; und wenn mich auch in der Regel der zu erwartende Segen wach hielt, so that ich doch, als ob ich schliefe, um mir diesen innigen Genuß und eine süße Nachtruhe obendrein zu sichern. Wie sie sich getröstet haben würde, wenn ich ernstlich krank gewesen wäre, kann ich mir nicht denken, da ihr diese Heimsuchung nicht vorbehalten blieb, denn ungeachtet meiner schwächlichen Kindheit und des durch Mr. Roots Zuchtsystem herbeigeführten Nervenfiebers, durfte ich während meines ganzen späteren Lebens auch nicht einen einzigen Tag wegen Krankheit das Zimmer hüten. Natürlich zähle ich Wunden und die Wirkungen äußerer Zufälle nicht hieher.

*

 


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