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Vierundsechszigstes Kapitel

Ralph findet allenthalben große Veränderungen – macht seinen Gefühlen Luft und sich selbst zum Narren. – Je nach der Stimmung des Lesers wird sich herausstellen, daß dieses Kapitel entweder das schlechteste oder das beste von Ralphs Bekenntnissen ist.

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Nachdem ich mich eine Woche zu Sheerneß aufgehalten und daselbst meinen Plan für meine künftigen Schritte entworfen hatte, brach ich in dem Passagierboote nach Chatham auf. Ich weiß nicht ob es noch Margate-Hoyen gibt, glaube aber kaum, daß sie wohl sammt und sonders durch den Dampf verdrängt worden sind. Das Passagierboot war ein derartig gebautes Schiff, seine Befrachtung aber, wie es wohl auch in dem himmlischen Königreiche der Fall sein wird, ein Gemisch von allen Menschenklassen. Die Kajüte war sehr voll – Matrosen mit ihren Weibern, See- und Landsoldaten, Dockyard-Arbeiter, Juden, Fischer, peripathetische Muschelverkäufer – Alles auf dem Fuße der Gleichheit. In der That bestand die einzige Methode, sich abzuschließen, darin, daß man sich in einen großen Mantel einhüllte und schwieg – eine Methode, die auch ich annahm. Die Stille von meiner Seite und das unaufhörliche Getümmel unter meinen Schiffsgenossen führte Schlaf herbei – aber mein Schlaf war unruhig und wurde alle Augenblicke unterbrochen. Zum Ruhen war nicht viel Raum vorhanden. Dennoch fand ich ein Plätzchen und legte das einzige Gepäck, das ich hatte, ein kleines Bündel, das in Löschpapier eingeschlagen war, als Kissen unter meinen Kopf. Das Bündel enthielt meine Logbücher, meine Zeugnisse und ein einziges Hemde, denn mein Zahlbillet hatte ich vorsichtigerweise zu den Banknoten in mein Taschenbuch gesteckt.

Als ich einmal über einen ungewöhnlich lauten Fluch meine Augen öffnete, däuchte es mich, ich sehe das blasse Gesicht Josua Dauntons dicht über dem meinigen hängen. Ich fuhr auf und rieb meine Augen, aber die Vision war entschwunden. Ich beschloß, wachsam zu sein und schlief darüber auf's Neue ein; auch erwachte ich nicht wieder ganz, bis wir zu Chatham vor dem Landungsplatze anlangten.

Sobald ich mich aufgerafft hatte, entdeckte ich zu meiner Bestürzung, daß mein Kissen nirgends zu finden war. Viele von den Passagieren hatten bereits das Boot verlassen und die noch an Bord Befindlichen wußten nichts, weder von mir, noch von einem Packet. Ja, ich zog sogar Argwohn auf mich, da die Spärlichkeit meines Gepäcks und die Ansprüche meiner Kleider entschieden nicht im Einklange standen. Der Gentleman in Stulpstiefeln schien sich lächerlich genug mit dem Löschpapier-Packetchen zusammen zu reimen. Da ich sah, wie alles Lärmen zu nichts führte, so verhielt ich mich wohl oder übel ruhig und nahm auf der ersten Londonerkutsche einen Außensitz. Abends zehn Uhr traf ich in dem Kaffeezimmer des weißen Rosses, Fetter-Lane, ein.

Ich bestellte ein Nachtessen – Wein – und dann ein Bette. Die Kellner waren jedoch mißtrauisch gegen die Zahlungsfähigkeit »des Gentleman ohne Gepäcke.« Statt mir daher den Stiefelzieher zu bringen, legte ein Kerl die eine Hand auf meinen Mantel, der an der Scheidewand meines Verschlages hing, und überreichte mir in der andern die Rechnung mit der Bemerkung, es sei im weißen Rosse unabänderlicher Brauch, daß Gentlemen für Alles, was sie erhielten, bezahlten. Gegen diesen unabänderlichen Brauch, versetzte ich, hätte ich nichts einzuwenden, wohl aber finde ich einen kleinen Anstand, daß ich für das, was ich gehabt habe, doppelt so viel bezahlen solle, als andere Leute. Ich zog dabei eine Hand voll Gold heraus und verlangte den Wirth zu sprechen.

Der Mann war ungemein höflich und gab unumwunden zu, daß die Anrechnungen viel zu hoch gehalten seien; während er sie übrigens mit der Feder in der Hand niedriger ansetzte, erinnerte er mich, daß er das Risiko habe in's Auge fassen müssen, namentlich da ich ohne Gepäck angelangt sei.

»Sehe ich denn wie ein Mann aus, bei dem etwas zu riskiren ist?« entgegnete ich empfindlich.

»Das Aussehen« – sagte er – »ist – oder war vielmehr ganz hier in Rechnung gebracht worden.«

Weil ich aus dem Benehmen meines Wirthes bemerkte, daß er durchaus nicht zu beleidigen wünschte, so enthielt ich mich aller weitern Abhandlungen über das Aussehen, obschon ich nicht ermangelte, über die Sache einige heilsame Betrachtungen anzustellen, nach denen ich am nächsten Morgen zu handeln gedachte.

Ich muß nun nothwendig die Umstände, welche mich jetzt so schnell zu der großartigen Katastrophe meines Lebens führten, mehr in ihren Einzelnheiten beleuchten; und wenn ich dabei weniger bei meinen Gefühlen, als bei meinen Handlungen verweile, so darf man nicht vergessen, daß Ereignisse von größerer Bedeutsamkeit sind, als Reflexionen, wenn man erstere gehörig studirt.

Den nächsten Morgen war mein Geburtstag, der vierzehnte Februar, und ich stand als ein völlig vereinzeltes Wesen in meinem Gasthofe. Ich blieb übrigens nicht müssig, sondern ging in das Kaffeezimmer hinunter, wo ich mir den Hofwegweiser reichen ließ; aber meinen eifrigsten Bemühungen gelang es nicht, unter den Baroneten einen Sir Reginald Rattlin zu entdecken. Nachdem ich meine Rechnung bezahlt hatte, verfügte ich mich nach Sommersethouse und bezog meinen Sold, worauf ich Lord Whiffledales aristokratische Wohnung in Großvenor Square aufsuchte.

»Nicht zu Hause« und »für einige Zeit auf dem Lande,« lauteten die sauertöpfischen Antworten des trägen Pförtners.

Es war ein Tag getäuschter Hoffnungen. Der Rechtsgelehrte, der mit Bezahlung meiner Wechsel beauftragt war, benahm sich höflich und gezwungen. Auf alle meine anfänglichen Bitten und meine schließlichen bestimmteren Fragen gab er nur kalte, ausweichende Antworten. Er sagte mir, daß er keine weitere Weisung in Betreff meiner Person erhalten habe, schärfte mir wiederholt ein, meinen gegenwärtigen Schutz nicht dadurch zu verscherzen, daß ich Dinge aufzuspüren suche, die man absichtlich vor mir geheim halten wolle, und wünschte mir zum Schlusse guten Morgen, fast als sei er geneigt, mich zu seinem Büreau hinauszuführen.

In dieser Weise wollte ich mich jedoch nicht abspeisen lassen. Ich wurde leidenschaftlich und wich auch nicht eher von der Stelle, bis er mir mit seinem Ehrenworte versichert hatte, er wisse von dem Geheimnisse fast so wenig als ich selber; er sei nur der Agent des Agenten, habe noch nie, was immer für einen Verkehr mit dem Prinzipal unterhalten und könne mir heilig betheuern, daß er nicht einmal dessen Namen kenne.

So war mir fast der ganze Tag entschwunden. Die Nebel der Jahreszeit und der schwere Rauch der Stadt hüllten nun die Straßen in tiefes Dunkel, da in jener Zeit die Gasbeleuchtung noch nicht erfunden war. Weil ich die Labyrinthe der Hauptstadt nicht kannte, so war ich völlig der Gnade der Miethkutscher preisgegeben, welche mich meine Unwissenheit theuer bezahlen ließen. Blos aus Gewohnheit kehrte ich nach dem weißen Rosse zurück und schloß meinen neunzehnten Geburtstag in Ungewißheit, Elend und Einsamkeit. Während der ganzen folgenden Nacht konnte ich kaum ein Auge schließen. Eine schreckliche Niedergeschlagenheit lastete schwer auf meinem Geiste. Ich seufzte nach dem Anbruch des Tages, der eine Ewigkeit zu zögern schien.

Nach Stickenham – ja, dahin wollte ich mich unverweilt begeben. Aber der Entschluß erzeugte kein freudiges Pochen in meinem Innern. Ich bezweifelte Alles – fürchtete Alles. Seit mehr als drei Jahren hatte ich von seinen vordem mir so theuern Einwohnern keine Kunde erhalten.

Außerdem entsank mir aller Muth, wenn ich mir die Hindeutungen Dauntons in's Gedächtniß rief, daß meine schöne Schulmeisterin nicht die Person sei, welche überhaupt Ansprüche habe, mich Sohn zu nennen.

Da es nicht gerade regnete, und Stickenham nur sieben Meilen von London entlegen war, so beschloß ich, unmittelbar nach dem Frühstück zu Fuß dahin aufzubrechen. Als »Gentleman ohne Gepäcke« waren meine Bewegungen hinreichend zwanglos. Ich ließ mir den Weg durch die Straßen von London angeben, und als ich die Black-Friars-Brücke im Rücken hatte, half mir mein Gedächtniß weiter.

Wie oft hatte ich nicht als glücklicher Schulknabe auf dieser Straße gewandelt.

Ich ging rasch weiter und meine Gefühle nahmen je nach hundert Schritten regelmäßig eine andere Färbung an. Jetzt vergegenwärtigte ich mir die entzückte Umarmung, das thränenvolle Auge, den herzlichen Willkomm und die ganze heilige Freude über die Wiederkehr des verlornen Sohnes; dann aber beschlichen mich Vermuthungen, daß mein Leben verfehlt gewesen, daß die Herzen kalt geworden und daß vielleicht studirte Höflichkeit als Maske vorgenommen werde, unter welcher man die Grausamkeit des Fremdwerdens zu verhüllen bemüht sei. Aber nachdem ich die Stadt im Rücken hatte, klärte sich die Atmosphäre auf und die Sonne stand leuchtend am Himmel; sogar einige kecke Vögel schienen durch ihr Zirpen an den Tag zu legen, daß der Tag zuvor durch den heiligen Valentin gesegnet worden sei. Mit leichterem Herzen stieg ich daher rüstig den steilen Berg hinan, von dessen Höhe aus ich meinen lieben Spielplatz, die romantische Haide und die zierliche Vorderseite des Schulgebäudes mit ihrem weißen, rauhen Anwurf entdecken konnte. Ach, wie glücklich war ich dort gewesen, wo mich Alles liebte und Ein Wesen mich fast anbetete.

Ein Sprung noch und ich war oben – die weite Landschaft dehnte sich vor mir aus. Aber welch' ein Schmerzensruf, der jetzt über meine Lippen brach! Wo war die wilde Haide – so schön in der Ueppigkeit der Natur? Ach! wo war sie? Der Geist des Mammons hatte seinen giftigen Hauch darüber hingegossen und sie in klägliches Stückwerk zerbrochen. Der Pflug war über die lieblichen Spaziergänge hingezogen; der garstige Gestank eines Ziegelfelds hatte den würzigen Duft des wilden Thymians verdrängt, und der müde Fuß sah sich auf einen einzigen Kiesweg beschränkt. Schmutzige Hütten breiteten sich über die Oberfläche und mit der Kultur war Mühe und Unflat eingezogen. Ich hätte weinen mögen über diesen Wechsel. – Doch warum sollte ich mich meiner Gefühle schämen? ich weinte wirklich. Ich nahm diese Veränderung für ein trauriges Vorzeichen und fragte mein pochendes Herz, was ich von den Menschen erwarten könne, wenn drei kurze Jahre hinreichend wären, das liebliche Antlitz der Natur so häßlich umzuwandeln. Mein Herz antwortete – Wechsel. Aber die Schaale meines Elends war noch nicht voll, da mich bis jetzt nur der erste Pfeil desselben getroffen hatte.

Ich kam an die Stelle, meinem Gedächtniß so heilig durch einen strahlenden Himmel und noch strahlendere Gesichter – zu dem Orte, wo ich so oft den Federball geworfen und die kleinen Soldaten kommandirt hatte. Ich fragte ein elend aussehendes, halb verhungertes Weib, wo der Spielplatz meiner Jugend sei, und sie zeigte mir ein »Ziegelfeld«.

Ich dachte an die ägyptische Knechtschaft, an die Söhne und Töchter von Juda – und mein Herz war über die Maßen traurig.

Einige Schritte weiter fragte ich nach dem Schulhause, wo ich so glückliche Tage verbrachte, und man deutete auf ein lärmendes Bierhaus. Ich sah Betrunkene heraustaumeln und hungrige Bettler um die Thüre stehen. Ein bitterer Wechsel! Es war mir, als ob eine Hoffnung nach der andern unter meinen Blicken dahinsterbe. Mein Schritt wankte und meine Stimme stotterte. Ich fühlte mich fast erstickt vor Bewegung, als ich einen Anderen fragte, wo mein alter, leichtherziger, tiefgelehrter französischer Schulmeister, Monsieur Cherfeuil, sei. Er war nach Frankreich gegangen. Napoleon hatte die Emigrés zurückgerufen und der Schulmeister war mit dem Vermögen, das er sich in England gewonnen, heimgekehrt. Der Mann, der mir dies mittheilte, fluchte ihm. Ich war zu kleinmüthig, um die Unbill zu ahnen, und wandte mich mit Ekel von dem Elenden ab.

Ich schaute nach rechts und nach links – in der That, ich konnte wohl sagen, daß ich meine Land- und Hausgötter rings um mich her zerstreut sah. Endlich blieben meine Augen auf einer Bank haften, die schon seit Jahren zwischen den zwei hohen Ulmen, den einzigen Bäumen auf diesem niedrigen Hügel, stand. Ich eilte darauf zu, um mich niederzusetzen.

Dies wenigstens hatten die Zerstörer gelassen. Mein Schmerz war überwältigt und ich fluchte in meinem Innern auf die Spekulation, welche die lieblichste Oase in meinen Gedanken vernichtet hatte. Jede nachfolgende Betrachtung brachte mir mehr Trostlosigkeit. Ich blickte und blickte auf die Entweihung vor mir, bis sogar die Augäpfel an dem Schmerz meiner Seele Theil zu nehmen schienen. Endlich vermochte ich das verhaßte Schauspiel nicht länger zu tragen und ich brachte für eine Weile mein Tuch vor die Augen. Dort, auf meinem alten Spielplatze und in Mitte so vieler Erinnerungszeichen an eine nun so grausam umgewandelte Vergangenheit betete ich zu Gott um Kraft, damit ich den Gram, der mich verzehrte, überwältigen könne. Ich hatte Jahre lang nicht mehr gebetet – und doch – wie elend und verworfen ich auch gewesen sein mochte – fühlte ich mich gestärkt.

Noch eine Frage brannte auf meiner Seele, obschon ich fürchtete, sie zu stellen – ich brauche nicht anzugeben, wie beängstigend sie für mich war, da sie das Loos derjenigen betraf, welche ich als Mutter geehrt und geliebt hatte – ich meine die schöne und wohlwollende Mrs. Cherfeuil. Vermuthlich war auch sie mit ihrem Gatten nach Frankreich gegangen, und der Gedanke fiel mir höchst schmerzlich. Als ich nach meinem stummen Gebete das Haupt erhob, bemerkte ich, daß ein kleines, etwa zwölfjähriges Mädchen sich dicht an meine Seite geschmiegt hatte. Sie befand sich augenscheinlich in sehr dürftigen Verhältnissen, sah aber doch gut aus und war namentlich sehr reinlich gekleidet. In ihrer Unschuld suchte sie meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und als ich sie näher betrachtete, glaubte ich, mich ihrer Züge zu erinnern. Ich beschloß, sie anzureden und, im Falle sie die Person war, für die ich sie hielt, alle Auskunft von ihr einzuholen, die ich so angelegentlich zu erlangen wünschte.

»Da sind große Veränderungen vorgefallen, mein gutes Mädchen.«

»Oh freilich, sehr große Veränderungen, Sir – sie haben Vater und Mutter zu Grunde gerichtet.«

»Wer sind deine Eltern und wo befinden sie sich?«

»Der Vater ist auf die See gegangen und die Mutter lebt in dem Armenhause. Ehe die Haide eingezäunt war, hieb der Vater Ginster und grub Kies; dadurch verdiente er hinreichend, um uns zu ernähren und warm zu kleiden. Es hieß, die Allmande sei zum Besten der Armen angebaut worden – aber die Vornehmen haben Alles gekriegt und Niemand weiß, wo der Antheil der armen Leute ist. Anfangs wollten's die Armen des Kirchspiels nicht leiden; sie tumultuirten, brachen die Zäune nieder und trieben, wie sonst auch, ihre Kühe, Schafe und Gänse hinein. Aber das Gesetz war ihnen zu stark. Der alte Edgely, der Anführer, wurde für Lebenszeit deportirt und mein Vater kam nur dadurch davon, daß er an Bord eines Kriegsschiffes ging. Meinen Brüdern erging es ebenso, und die Mutter, die nun alt ist, hat ein Unterkommen in dem Armenhaus gefunden, 's ist seitdem nie wieder ein glückliches Stickenham gewesen.«

»Nicht wahr, meine Liebe, dein Name ist Susanna Archer?«

»Gott behüte mich, ja, so ist es, Sir!«

»Und du scheinst in der That ein sehr verständiges, kleines Mädchen zu sein.«

»Ja, ich habe viel aus Büchern gelernt; aber all dies ist jetzt vorbei und vergangen. Als Mrs. Cherfeuil noch in jenem Hause lebte, sorgte sie immer dafür, daß wir eine ordentliche Heimath, Feuer im Kamine und einen Laib Brod im Schranke hatten. Sie schickte mich in die Schule – aber damit ist's jetzt vorbei.«

»Wohin ist sie gezogen? – Ist sie mit ihrem Gatten fort?«

»Wißt Ihr's nicht, Sir?« entgegnete sie mit ruhiger Feierlichkeit, die mich mit schrecklichen Ahnungen erfüllte, von ihrem Sitze aufstehend.

»Wenn Ihr mit mir kommen wollt, so will ich sie Euch zeigen.«

Ich wagte es nicht, die furchtbare Frage zu stellen: »Ist sie todt?« sondern nahm meine kleine Begleiterin bei der Hand und ließ mich von ihr langsam durch das Dorf führen. Keines von uns Beiden sprach ein Wort. Ich weigerte mich hartnäckig, den Kelch, der meinen Lippen hingeboten wurde, zu trinken, und täuschte mein Herz so lange es nur immer möglich war.

»Sie will mich nach einer Stelle führen,« sagte ich zu mir selbst, »wo ich sie in verhältnißmäßiger Armuth – vielleicht unter dem Schutze eines dürftigen Freundes finden werde. Möglich auch, daß sie sogar krank ist oder auf dem Sterbebette liegt; aber daß jene Gestalt, die ich im Strahlenglanze frauenhafter Schönheit verlassen, kalt, todt und eine Beute ekler Verwesung sein könnte? nein! – nein, das war unnatürlich, unmöglich! – Mich mit derartigen Gedanken tröstend, gingen wir langsam durch das Dorf.

Ich sah mehrere meiner alten Freunde, ohne jedoch von ihnen erkannt zu werden. Ich hatte den Ort als ein Knabe verlassen und kehrte – wenigstens dem Aeußern nach – als ein Mann zurück. Meine Kleidung hatte nichts Seemänn'sches an sich. Sie sahen mir nach, kannten mich nicht und ich war ungemein darüber zufrieden. Ich war nicht in der Stimmung, müssige Neugierde zufrieden zu stellen, und wünschte keine andere Gesellschaft, als meine Gedanken, keine Rathgeber, als meine stürmischen Gefühle.

Auf dem Wege durch das Dorf suchte ich starrsinnig meine erzwungene Selbsttäuschung aufrecht zu erhalten, daß ich bald dem einzigen Wesen gegenüber sein werde, das im Stande war, jenes Geheimniß zu enthüllen, welches meine jugendliche Thatkraft niederdrückte und die gesunde Frische meines Geistes schnell zerstörte. Ich dachte mir aus, wie ich mich benehmen, was ich sagen wollte, und begann sogar in dem Vorgenusse der mütterlichen Liebkosungen zu schwelgen, mit denen sie mich empfangen würde. Aber die Donnerwolke des Elends brach plötzlich auf mich herein und entfaltete sich mit einemmale in ihrer ganzen trostlosen Finsterniß. Wir hatten fast das Ende des Dorfes erreicht, als meine betrübte Wegweiserin mich leise am Arm zupfte, um mich nach rechts zu ziehen.

»Nein,« sagte ich zitternd, »das kann nicht der Weg sein; wir müssen weiter vorwärts. Diese Gasse führt nach dem Kirchhofe.«

»Und zu Mrs. Cherfeuil.«

»Nun, so geh fort und achte nicht auf mich.«

Nach einer Minute saßen wir Beide auf einem neugemachten Grabe. Das kleine Mädchen weinte in dem unschuldigen Uebermaße jenes Leides, das so bald seine eigene süße Erleichterung herbeiführt.

Mein anfangs dumpfes und fast unhörbares Gemurmel wurde allmählig lauter und leidenschaftlicher. Endlich weckte es die Aufmerksamkeit meiner weinenden Begleiterin, die mir in ihrer Unschuld erwiederte:

»Es hilft nichts so fortzumachen, Sir; sie kann nicht aus ihrem Grabe heraussprechen. Jetzt ist sie im Himmel und Gott gestattet seinen Heiligen nicht, mit uns Sündern hier unten zu reden.«

»Du hast ganz Recht, mein gutes Mädchen,« sagte ich, denn ich schämte mich, meine Gefühle so laut verrathen zu haben. »Es ist in der That sehr thöricht, die Todten über ihren feuchten Gräbern anzureden und auch durchaus nicht schicklich. Ich möchte übrigens eine Weile allein hier sein. Bitte, geh' und warte auf mich am Ecke der Gasse; ich werde bald nachkommen, denn ich habe dir noch etwas zu sagen.«

»Ich werde zuverlässig thun, Sir, wie Ihr verlangt. Ich kann Euch dann auch Alles von ihrem Tode erzählen, denn ich war eine Art Aushelferin bei ihrer Wärterin. Ich kenne Euch jetzt, Sir, und meinte Euch gleich von Anfang an zu kennen. Möge Euch der Gott, den meine gute Freundin mich zuerst verehren lehrte, diesen Schlag leicht machen!«

Ich will nicht die Ergüsse meines Gefühls wiederholen, denen ich mich hingab, als ich allein war. Ich zürnte auf mich selbst, – auf die ganze Welt – und ich fürchte, daß ich sogar gegen mich selbst böse war, weil ich glaubte, der Schmerz, den ich über dem Grabe der Hingeschiedenen zum Opfer brachte, sei nicht tief genug. So viel ich mich noch erinnere, schloß ich folgendermaßen:

»Wieder rufe ich dich mit dem heiligen Namen Mutter an – denn das warst du mir – und mein Herz wird nie eine andere anerkennen. Höre, höre meinen Schwur, daß ich deinem Andenken alle die Gerechtigkeit widerfahren lassen will, die einem Menschen möglich ist, und mögen wir uns nie in jenen Regionen finden, wo der Gekränkte Rechtfertigung findet, wenn ich säume, diese geweihte Erde zum Zeichen der Schmach auf das Haupt dessen zu streuen, der dich entehrte – und sollte er sogar mein Vater sein! Himmel, vernimm meinen feierlichen Eid und zeichne ihn auf – ja, zeichne ihn auf, und wenn er mir zum Todesurtheil werden sollte!«

Nach diesem übereilten, sündigen Gelübde, bei Wirkung des Uebermaßes meiner Aufregung – riß ich einen beträchtlichen Theil der Erde von dem Grabe weg, knüpfte sie gut in mein Taschentuch und verbarg letzteres auf meiner bloßen Brust gleich einem Gürtelamulette.

Jetzt in meinen reiferen Jahren sehe ich meine Thorheit ein und schäme mich meiner Ueberspannung; aber damals glaubte ich wirklich eine tugendhafte Handlung zu begehen. Ich hatte keinen freundlichen Rathgeber in meiner Nähe, – Niemand, der mich überzeugen konnte, daß ich durch meinen übereilten Schwur mich verpflichte, die Gesetze der Menschheit zu verletzen und die Ordnung Gottes zu kränken. Aber ungeachtet dieser Thorheit, war doch meine Liebe, mein Schmerz und mein Zorn aufrichtig. Ich trug mich sogar mit einer seltsam abergläubischen Vorstellung, denn ich meinte ein gefeietes Leben zu tragen, so lange ich mit diesem geweihten Staube umgürtet sei. So wild und thöricht benimmt sich eine übel geregelte Einbildungskraft.

Mit einem Wunsche in meinem Herzen, der fast wie Blutvergießen klang, und mit einem glühenden Gebete auf meinen Lippen, verließ ich Mrs. Cherfeuils bescheidenes Grab, um mich meiner Begleiterin wieder anzuschließen.

*

 


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