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Achtes Kapitel

Abermalige Wanderung aus der ländlichen Umgebung der Gurgelschneidergasse nach den Hainen von Academus. – Ich werde in gute Kleider und auf die Pfade der Gelehrsamkeit gezwängt, trotz meiner Zähne, obgleich ich von denselben einen trotzigen Gebrauch mache.

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Unglück kommt nie allein. Ich wüßte auch nicht, weßhalb, denn Mißgeschicke sind gar erbärmliche Gesellen und ziehen deshalb in Haufen auf, um sich doch einigen Respekt zu verschaffen. Ich hatte kaum einige Wochen in unserem gegenwärtigen Aufenthalte geweilt und mich gänzlich wieder erholt, obgleich ich glaube, daß ich ein wenig verrückt wurde über den Kupferstichen in der Bibel, über welcher ich täglich brütete. Da kam endlich das größte Unglück über die armen Brandons, um ihr übriges Elend voll zu machen – nämlich der Verlust meines unbezahlbaren Ichs. Der Schlag war unerwartet, plötzlich und erschütternd. Brandon folgte eben einer vorgekreideten Linie an einem schweren Mahagoniblocke, ohne zu ahnen, welch' ein Unheil in seinem Hause vorging. Er sagte mir nachher, und ich glaube ihm, daß er sich mit Gewalt entgegengestemmt haben würde, wenn Gewalt nöthig gewesen wäre. Ein einfacher Privat- oder Miethwagen fuhr an der Thüre vor, und nachdem Erkundigung eingezogen war, ob die Brandons in dem Hause wohnten, stieg ein geschäftsmäßig aussehender, ältlicher Gentleman aus, welcher unverweilt alle Rückstände bezahlte und mich meine besten Kleider anziehen hieß. Nachdem ich mich in dieser Weise ausgestattet hatte, wurde meiner Pflegemutter bedeutet, daß sie den Rest meiner Effekten behalten könne, ich aber in den Wagen steigen müsse.

Die gute Frau war wie vom Donner gerührt. Es gab nun einen Auftritt. Sie war ganz trostlos, ich weinte, und die vier kleinen Brandons oder wenigstens drei davon schlossen sich dem Lamentationschore an, weil der garstige Mann ihren Bruder Ralph fortnehmen wollte. Der Unterricht des alten Ford hatte zu tiefe Wurzeln in mir gefaßt, als daß ich meine Entrüstung nicht durch gutangebrachte Fußtritte und wüthende Bisse an den Schienbeinen und Händen meines Entführers ausließ. Es gab einen großen Tumult. Die Nachbarn hielten es für sonderbar, daß die Mutter sich vor ihren Augen und am hellen Tage den ältesten Sohn gewaltsam durch einen Fremden entführen lasse; dann meinten sie aber, »an dem kleinen Ned Brandon dürfe einen nichts Wunder nehmen, denn er sei ja im vorigen Jahre von einem tollen Hunde gebissen worden, und obgleich der und der an der Wasserscheu gestorben sei, so habe ihm doch die Verwundung nie etwas anhaben können.« Als der Fremde die Geschichte von dem tollen Hunde hörte (mit der es allerdings seine Richtigkeit hatte, denn ich kann die Narben noch heutigen Tages aufweisen), so schüttelte er mich leichenblaß ab und fühlte sich ohne Zweifel glücklich zu finden, daß meine kleinen Zähne nicht seine Haut durchgedrungen hatten. Ich glaube, daß er herzlich bereute, den Auftrag übernommen zu haben. Endlich verlor er alle Geduld.

»Weib,« sagte er, »schickt diese Leute aus dem Zimmer.«

Als die Nachbarn verwundert abgezogen waren, nahm er wieder auf:

»Ich kann meine Zeit nicht mit Wortwechsel verlieren. Ich bin beauftragt, Euch zu sagen, daß Ihr den Knaben, wenn Ihr ihn in einem gewissen Sinne behalten wollt, überhaupt behalten könnt. Ihr könnt Euch denken, daß ich mich nicht um einen so ungezogenen Schlingel kümmern würde, wenn ich nicht meine gemessenen Weisungen dafür hätte. Verabfolgt mir daher ohne Zögern das Kind (ich schluchzte nun in ihren Armen) und seht ihn jetzt zum letzten Male an, denn Ihr werdet ihn nie wieder erblicken. Kommt, helft dem jungen Herrlein in den Wagen.«

»Ich mag nicht,« rief ich.

»Das wollen wir bald sehen, Meister Rattlin,« versetzte er, indem er mich mit sich fortschleppte.

»Ich heiße nicht Meister Rattlin,« schrie ich entgegen, »Ihr seid ein Lügner – und wenn der Vater aus der Sägegrube kömmt, so wird er Euch tüchtig durchwalken.«

Diese Drohung schien eine ganz andere Wirkung zu üben, als ich beabsichtigt hatte. Vielleicht dachte der Fremde, er habe sich bereits genug abzukämpfen gehabt und brauche nicht noch die Zugabe eines sehnigten Brettschneider-Arms zu versuchen. Ich wurde deshalb gewaltsam aufgehoben und in die Kutsche geschafft, welche rasch von hinnen fuhr. Ich hörte noch durch das Rasseln der Räder den Ruf derjenigen, welche ich als Mutter liebte: »Mein Ralph – mein theurer Ralph!«

Ihr seht mich nun, »heiß von dem Kampf und weinend von dem Schreck« mit meinem Räuber in einem beweglichen Gefängniß eingeschlossen. Ich saß heulend in der einen Kutschenecke, und er betrachtete mich mit finsterer Gleichgültigkeit aus der anderen. Endlich machte der Wagen an einem Orte Halt, der, wie ich mich nachher überzeugte, in der Nähe von Hatton-Garden auf Holborn-Hill lag. Wir stiegen aus, und gingen durch zwei regungslose und ungemein gut gekleidete Pagen in das Haus. Anfangs erschrak ich davor, aber ich machte bald die Entdeckung, daß es nur zwei große Wachspuppen waren. Wir waren nämlich in einen Laden getreten, wo man bereits gefertigte Kleider haben konnte. Eine Treppe hoch wurde ich mit drei vortrefflichen Anzügen ausgestattet. Mein Schmerz hatte sich nun in eine störrische Rachsucht umgewandelt, die in gebührenden Zwischenräumen durch ein Schluchzen angenehm unterbrochen wurde. Das Ungestüm des Sturmes war vorüber, sein Düster aber noch immer vorhanden. Als mein Führer sah, daß ich über den Besitz der Kleider – der schönsten, die ich je gehabt hatte – ein wenig erfreut war, konnte er sich's nicht versagen, sich durch die Worte: »störrisches, kleines Vieh!« eine angenehme Erleichterung zu verschaffen. Man schickte nun nach einem Koffer für meine Gardrobe, und dann fuhren wir in kurzer Zeit nach drei oder vier anderen Läden, unter denen der eines Hutmachers nicht vergessen wurde, so daß ich nun ganz erträglich ausgestattet war. Während dieser ganzen Frist redete mich mein schweigsamer Begleiter auch nicht mit einem einzigen Worte an.

Endlich rasselte die Kutsche nicht länger über Steine, sondern fuhr jetzt auf glatterem Grunde fort, und hin und wieder gab grünes Laubwerk den langen Häuserreihen eine angenehme Abwechslung. Nach etwa halbstündiger Fahrt hielten wir vor einem großen, sehr altmodischen Hause, das ganz in dem Style aus der Zeit Elisabeths gebaut war. Ueber dem Portale befand sich ein dunkelblaues Brett, auf welchem in sehr blanken Goldbuchstaben ein Wort funkelte, das für kleine Knaben so reich von Erinnerungen an lange Mühen und die edle Ruthe ist – ich meine das aus dem Griechischen abgeleitete Wort Akademie. So unwissend ich auch war, verstand ich die Bedeutung doch im Augenblick, und ein kalter Schweiß brach an mir aus. Ich hätte zusammensinken mögen vor Schrecken, denn ich war geraubt, verstrickt und verrathen worden. Schon zuvor hatte ich die Schule nicht leiden können, aber jetzt erst das Entsetzen einer »Akademie«. Ich blickte kläglich in das Gesicht meines Verfolgers, ohne jedoch darin Theilnahme zu finden.

»Ich will nach Hause,« brüllte ich und brach dann in einen neuen Strom von Thränen aus. Nach Hause! Welch' ein Trost liegt nicht schon in dem Klange dieses Worts! Oh, schließt dieses gesegnete Asyl für den verwundeten Geist nicht Alles, was süß, tröstlich und heilig ist, in seinen ehrwürdigen Kreis ein? Dort zieht sich die Seele in sich selbst zurück und schmiegt sich wie die Taube in ihren eigenen Flaum, denn sie weiß, daß Alles rund umher Frieden, Sicherheit und Liebe athmet. Ich sollte hinfort keine Heimath mehr haben, bis ich durch viele, viele Jahre der Mühe und des Elends mir eine eigene schaffen konnte. Fortan – ach welche Bitterkeit liegt nicht in diesem Worte – fortan sollte ich in Gemeinschaft mit Hunderten leben, denen es nicht an jenem Tempel gebrach, wo sie das Opfer ihrer Liebe bringen konnten – aber ich war verurteilt, fremd, ungeliebt und heimathlos zu sein.

»Ich will nach Hause,« heulte ich mit dem Starrsinn der Angst, als ich in die Wohnstube des schrecklichen, ruthenschwingenden und mit der Gerte bewaffneten Mr. Root trat. Ich mag eine seltsame Figur gemacht haben. In der Hast war ich meiner Pflegemutter entführt worden, und obgleich meine Kleider ganz neu waren, so gab mir doch mein Gesicht ein Anrecht an den Rang der vielgetadelten Ungewaschenen.

Wenn ein Knabe sehr schmutzige Hände hat, mit welchen er sich das schmutzige, thränenvolle Gesicht abwischt, so muß man gestehen, daß sich an seiner Person der Schmerz nicht in der liebenswürdigsten Form kund gibt. Der erste Eindruck, welchen ich auf den Mann machte, der fast mein ganzes Glück in Händen trug, war nichts weniger als günstig. Die ewige Wiederholung des Rufs: »ich will nach Hause,« war dem Pädagogen durchaus nicht angenehm und kann an sich nur höchst widerlich in den Ohren eines Mannes klingen, der eine Pension hält. Mit der intuitiven Auffassungsgabe der Kindheit hatte mein Herz durch die Thränen einen Feind erkannt. Was mein Führer zu ihm sagte, war nicht geeignet, seine Gefühle gegen mich zu erweichen.

Die Einzelnheiten der Mittheilung verstand ich nicht, aber ich wußte, daß ich ein Gefangener war, gebunden an Händen und Füßen und einer fremden Knechtschaft überliefert. Das Gespräch zwischen den kontrahirenden Partieen war kurz, und nach dem Abschlusse desselben entfernte sich mein Führer, ohne den höchst bedeutsamen Helden dieser Geschichte auch nur der geringsten Aufmerksamkeit zu würdigen. Mr. Root packte mich sodann bei der Hand und führte mich in die Mitte seines geräumigen Schulzimmers unter mehr als zweihundert und fünfzig Knaben. Mein Name wurde blos einem der jüngeren Unterlehrer genannt, worauf sich der Schulmeister entfernte. Man konnte jetzt recht wohl die Stelle von Keats aus mich anwenden, denn wie Ruth stand ich

»voll Thränen auf dem fremden Felde«.

Einige Knaben kamen herbei und glotzten mich an, aber keiner wurde durch mich angezogen. Ohne Zweifel war ich etwas gemein in meinem Benehmen, und meine Haltung war zuverlässig der meiner Kameraden durchaus nicht ähnlich. Einige davon spotteten sogar über mich, aber ich achtete nicht darauf. Der wirkliche Schmerz ist gefeit gegen die Waffen des Spottes.

Es war sechs Uhr, und nach kurzer Zeit wurde das Nachtessen ausgetheilt, das aus einem rund geschnittenen steinalten Brode und einer anderthalb Zoll langen, durchscheinenden, gelben Substanz bestand, welche, wie ich später erfuhr, unter dem Namen magerer Gloucester bekannt ist. Auch erhielt jeder Knabe einen zinnernen Becher, der zu drei Viertheilen mit Dünnbier angefüllt war. Dieses Bier war übrigens so gar dünn, daß ich einen eigentlich verzweifelten Begriff von der Ausdehnung erhielt, in welcher die Verdünnung anwendbar ist, und seine Schaalheit würde jedem Gaumen unerträglich gewesen sein, wäre der Stoff nicht obendrein hübsch sauer gewesen. Als ich, in meinen Schmerz versenkt, vor diesem Mahle saß, erfuhr ich den ersten von den tausend praktischen Spässen, mit denen ich im Laufe der Zeit vertraut werden sollte. Mein Nachbar rechts stieß mich nämlich mit dem Ellenbogen an und rief:

»He, Junge – Jenkins, dein Nachbar auf der andern Seite, stipizt dir dein Brod.«

Ich wandte mich gegen den angeblichen Schuldigen und entdeckte, daß mich der Denunziant getäuscht hatte; aber der Angeklagte bedeutete mir jetzt, ich solle umsehen und schauen, wo mein Käse sei. Ich that dies und fand ihn richtig zwischen den Kinnladen meines freundlichen Nachbars rechts, und als ich mich wieder zu dem Linken umwandte, um mir Erklärung auszubitten, hatte dieser meinem Brode die ganze Kruste abgestreift. Ich kümmerte mich damals nicht um diesen Doppelraub, wohl aber machte mir, trotz meines Grams, die Flüssigkeit zu schaffen, als ich dieselbe unvorsichtig an meine Lippen brachte. Joe Brandon hatte mir nie etwas der Art vorgestellt. Ich trank an jenem Abende so wenig, als ich aß.

*

 


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