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Siebenzehntes Kapitel

Ist voll moralischer und religiöser Untersuchungen, weshalb es der Lesewelt im Allgemeinen belassen bleibt, es mit jener Aufmerksamkeit zu übergehen, welche man im Allgemeinen der Moral und Religion zu Theil werden läßt.

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Wenn wir aus den Worten des ersten Generals unseres Zeitalters zu einem Schlusse berechtigt sind, so sind die Gefühle und Rückblicke nach einem glorreichen Siege nichts weniger als erfreulich. In der That hat unser Held nicht nur viele gute Schlachten gekämpft, sondern auch einiges Gute gesagt. Als er nach der Schlacht bei Waterloo ausrief, der Sieg sei fast ebenso beklagenswerth, wie eine Niederlage, zeigte er mit einemmale das erhabene Gefühl des Christen und die Tiefe des Philosophen. Wenn im Hinblicke auf so viele trostlose Zustände sogar ein Sieg nur wenig erfreulich ist, so muß dies bei einer unentschiedenen Schlacht noch weit mehr der Fall sein – der Niederlage gar nicht zu gedenken, weil wir von der Akademie die Schmach, welche in diesem Worte liegt, nie zugestehen können. Unsere Schlacht war in jedem Sinne unentschieden geblieben: denn obgleich wir dem edlen Magister Root sein Blut abgezapft hatten, und er zur Erwiederung alles verfügbare Wasser seines Haushalts anzapfen mußte, waren wir doch zuletzt mit unsern Streitkräften unbelästigt abgezogen. Keine Partie behauptete den Wahlplatz, diesen unwidersprechlichen Beweis des Sieges: also jedenfalls unentschieden.

Die Ekeln nennen dies vielleicht bloße Wortklauberei – aber mit Unrecht: wenn sie je die Depeschen zweier streitenden Mächte, die beiderseits sich auf Nichts etwas zu gut thun können, als auf tüchtige Schläge – gelesen haben, so kann es ihnen unmöglich entgangen sein, daß letztere ihren Fall nicht wirksamer zu vertheidigen wußten, als ich den meinigen. Es liegt eine besondere Kraft in einer kunstgerechten Zusammenstellung der Worte. Als die Knaben die Treppe herunter kamen, entfaltete sich eine so trostlose Scene vor ihnen, wie sie nur die strengste, vergeltende Gerechtigkeit wünschen konnte, wenn sie's gelüstet, Rebellen heimzusuchen.

Der Morgen war rauh und kalt, der Boden von Wasser getränkt, und allenthalben lagen die Hülsen entladenen Feuerwerks umher. Die Schulstube befand sich in einer furchtbaren Verwirrung; kaum eine Glasscheibe war unzerschmettert geblieben – die Wände waren schwarz, die Bücher zerrissen – und dann stahlen sich die Lehrer und Unterlehrer herein, gar argwöhnische und scheue Mienen machend. Es ging nun an das Gebet und wir sangen in gar kläglichem Tone die Hymne –

»Erwache, Seel', und mit der Sonne
Beginne deinen Tageslauf.«

An jenem Morgen konnte nun freilich Niemand sagen, ob die Sonne gewacht hatte oder nicht; wenigstens hielt sie ihre Bettvorhänge von Nebel dicht vorgezogen, und ungefähr fünf und zwanzig Schüler gaben dem »Beginne deinen Tageslauf« eine andere Lesart, indem sie unmittelbar nach ihrer kläglichen Morgenandacht davon zu laufen begannen. An demselben Tage wurde kein Unterricht ertheilt. Mr. Root kam nicht zum Vorschein – und wir hatten eine erzwungene Vakanz.

Am siebenten hatten wir – um mich eines nautischen Ausdrucks zu bedienen – unsere Beschädigungen wieder ausgebessert und fingen nun an, wieder in den gewohnten Gang des Schullebens zurück zu fallen. Es stand übrigens eine volle Woche an, ehe sich unser Dominus wieder blicken ließ, und als es endlich geschah, hatte er einen grünen Lichtschirm über den Augen, um die darunter befindlichen grünen Schatten zu verbergen. Er erschien zu der gewöhnlichen Mittagsstunde – die schwarze Liste wurde ihm eingehändigt – und ich erwartete nach der gewöhnlichen Ordnung der Dinge eine eifrige Geißelung. Aber wie oft werden wir nicht in dieser Welt Märtyrer getäuschter Hoffnungen! Der furchtbare Mann faltete das Blatt gar melancholisch zusammen, steckte es in seine Westentasche und ersparte mir so die Kosten einer außerordentlichen Hochherzigkeit, die ich an den Tag zu legen mir vorgenommen, falls es zur Staupe kommen sollte. Ich hatte nämlich beschlossen, ihm ganz unerschrocken zu sagen, daß ich gleichfalls davon laufen würde, wenn man mich zu züchtigen versuche. Ich gebe mein Schulknabenwort, daß es mir wahrhaftig Leid that, nicht meine drei oder vier Dutzend erhalten zu haben.

Ich bin nun hübsch in meiner enthusiastischen Epoche angelangt. Ich war jetzt doch Etwas – ich schlief noch immer in der Gespensterkammer – hatte beim Ausschließen den ersten Streich geführt – war von St. Albans für meine Bravour öffentlich belobt worden – und da ich mich nun nicht länger selbst zu verachten brauchte, so war die natürliche Folge, daß es auch Andere nicht wagten. Ich schloß Freundschaften, die allerdings schnell vorübergehend, aber doch sehr süß und aufrichtig waren. Mehrere von den jungen Gentlemen versprachen mir, ihre Eltern zu bitten, daß sie mich während der nächsten Vakanz zu sich einlüden; indeß war entweder ihr Gedächtniß sehr schwach, oder zeigten sich ihre Väter sehr hartnäckig.

Endlich kam die Wintervakanz, und ich blieb der einzige Bewohner des ungeheuren, verlassenen Schulzimmers, wo ich eben ein einziges Feuer zu meinem Trost und ein einziges Zehn-Penny-Licht zu meiner Erleuchtung hatte.

Wie einschüchternd und übernatürlich schien mir jeder flüchtige Ton, der an mein banges Ohr schlug! Alles um mich her kam mir größer vor – die massenhaften Schatten wurden zu einem Schoos, der unirdische Phantome gebar. Das Stoßen der Winterstürme gegen das Fenster däuchte mir die Stimme halbsichtbarer Wesen, die meine Furcht in den dunkelsten Stellen des ungeheuren Gemaches heraufbeschwor. Und dann das einsame Orchester – oft meinte ich, ich höre dumpfe Orgelmusik, gleichsam als würden die Tasten von gespenstischen Fingern berührt! Wie gerne hätte ich mich aus meiner Einsamkeit wieder zu der Gemeinheit der Gesindehalle erniedrigt – aber das war mir jetzt aufs Strengste untersagt worden. Die Wirkungen dieser Abgeschiedenheit auf einen phantastischen und völlig ungeregelten Geist mußten noch viel schlimmer sein, als das Schlafen in der Gespensterstube, denn dort hatte ich meinen Gegenzauber, und sie war mir mit ihrem grotesken Schnitzwerke durch die lange Gewohnheit fast theuer geworden; aber die unheimlich große Schulstube, welche sonst so voll Leben war, erschien mir nun wegen des Gegensatzes peinlich furchtbar. Oft und vielmal, wenn die kalten Windstöße an dem Boden hinfegten und sich um meine Knöchel wanden, meinte ich, von der kalten Hand einer Leiche erfaßt zu werden, die aus den Dielen herauswuchs, um mich abwärts zu ziehen – und zu hundertmalen, wenn die lange Kerzenflamme zitternd aufflackerte und die tiefen Schatten, die mich umgaben, erschütterten, däuchte es mich, garstige Gesichter grinsten aus der Dunkelheit auf mich nieder – während mein eigener gigantischer Schatten schon geeignet war, mich mit Entsetzen zu erfüllen! Es war sogar von Mr. Root eine Grausamkeit, mich so viele Stunden allein in diesem ungeheuerlichen Düster zu lassen – aber von seinem Weibe – pfui über sie!

Wenn man bemerkt, wie schon in meiner frühesten Kindheit auf meine Einbildungskraft gewirkt worden war, und dazu die große nervöse Reizbarkeit meines Temperaments in's Auge faßt, so darf man sich wohl darüber wundern, wenn mein Geist nicht wankte oder gar unterlag – aber ich begann jetzt die Annäherung der einen Art von Wahnsinn mit der wirklichen Gegenwart einer andern zu bekämpfen – ich machte Verse. Dies war »ein Mildern des Windes für das geschorne Lamm,« wie Sterne sich ausgedrückt haben würde, in einer so artigen Weise, als sich dies nur denken läßt.

Wäre nicht der Leser so vollständig in meiner Gewalt – hielte ich ihn oder sie nicht nur für den edelsten, sondern auch für den verdienstvollsten Nachkömmling Japhets – und erschiene es mir nicht als der schmählichste Undank, ihm noch mehr zuzumuthen, so würde ich ihm zuverlässig jetzt ein paar hundert Verse von jenen jugendlichen Poesieen vorlegen. Es ist wahr, sie sind sehr schlecht – dies gibt aber nur einen Beweis für ihre unläugbare Aechtheit. Ich besitze übrigens wahrhaftig in einigen Dingen wirkliche Seelengröße und will daher an mich halten – damit jedoch jene Ergüsse der Welt nicht ganz verloren gehen mögen, will ich sie den Jahresschriften für 1837 anbieten – nicht so fast um des pekuniären Gewinns willen, sondern um den Inhalt einiger jener sehr unlesbaren Bücher zu verbessern.

Während dieser unheimlichen Vakanzzeit schrieb ich Verse, und fing an, meine Tollheit methodisch zu nehmen oder zu machen. Die Knaben, welche mich als einen wahren Bobadil verlassen hatten, fanden jetzt nach ihrer Rückkehr in mir einen jugendlichen Bavius, der übrigens nicht ganz so schlimm war, wie ein jugendlicher Whig, denn ich konnte mich rühmen, auf das Wort Geist wenigstens zwölf Reime aufzutreiben. In der That, ich wurde jetzt ein Junge von großer Bedeutung.

Ich möchte nun wohl über diesen Theil meines Lebens rasch dahin eilen, wenn ich nicht wünschen müßte, jene philosophischen Köpfe zufrieden zu stellen, welche gerne alle Irrlichteleien des menschlichen Geistes studiren; ich darf daher nicht unterlassen, eine ganz eigenthümliche Hallucination zu schildern, die mehr als einen Monat ihren despotischen Scepter über mich schwang. Die Vase geistiger Verknüpfungen war so auffallend, so vollkommen, und wird von Personen, die entweder durch Erziehung oder durch Vorurtheil eine schiefe Richtung erhalten haben, von so verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden, daß ich mich bloß auf die Thatsachen beschränke und es Andern überlasse, sich eine bestimmte Ansicht darüber zu bilden. Zuvor aber erlaube ich mir die feierliche Versicherung, daß Allem, was ich zu berichten im Begriffe bin, durchaus keine Uebertreibung zum Vorwurfe gemacht werden kann.

Ich war in jener Periode nahezu dreizehn Jahre und in Folge meiner Reimereien, meiner Faustfertigkeit, des Rufs der Bravour, in dem ich stand, und meiner eigenthümlich geheimnißvollen Stellung jenes abgeschmackte Ding geworden, das die Franzosen une tête montée nennen. Wenn Leute viel handeln, so finden sie es bald nöthig, zu räsonniren. Ich sah mich daher, um meine Stellung zu behaupten, genöthigt, ganz unvernünftig vernünftig zu werden. Root hatte aufgehört, mich zu peitschen. Ich konnte entdecken, daß er mich sogar zu fürchten begann, und in demselben Maße, in welchem er allen Anlaß, mich zu strafen, zu vermeiden schien, wurde ich gegen ihn mild, gehorsam und achtungsvoll. Die Folge davon war, daß ich, weil ich in der Kirche nicht mehr auf den Tod abgeängstigt wurde, schon aus langer Weile und um der Abwechslung willen auf die Predigten zu achten begann. Welch' eine Lehre sollte dies nicht für Erzieher sein! Eines Sonntags kehrte ich in einem Zustande aus der Kirche zurück, der sich fast zu einer geistigen Berauschung gesteigert hatte. Der Rektor war ein blasser, hagerer Mann, mit tiefliegenden, flammenden Augen, der mit allen Erdendingen abgeschlossen zu haben schien und seine Brüder nur noch zu der bessern Welt hindrängen wollte, welcher er so schnell entgegeneilte. An jenem denkwürdigen Tage, an welchem ich glaubte, bekehrt worden zu sein, predigte er über das Leben des jungen Samuel. Natürlich und sehr passender Weise wandte er sich oft an den jugendlichen Theil seiner Gemeinde, und da ich in der vordern Reihe saß, so kam es mir vor, als sei ich allein in der Kirche – als sei jeder seiner Worte unmittelbar und ausschließlich an mich gerichtet. Seine flehenden, leidenschaftlichen Blicke schienen meine Brust mit einem süßen Heiligenschein zu umstrahlen. Ich fühlte mit einemmale, daß um der unerschöpflichen Güte Gottes willen der Fehler nur an den Menschen liegen müsse, wenn es keine Samuele mehr gebe, und so beschloß ich dann, gleichfalls ein Samuel zu sein, und mich ganz dem Dienste des Herrn in unablässiger Anbetung zu weihen; auch that ich dies – wie unglaublich diese Behauptung scheinen mag – volle sechs Wochen lang. Mein Entschluß war zu einer Leidenschaft – zu einer fixen Idee geworden. Ich befand mich in einer stetigen, süßen Verzückung und schwelgte in einem geheimen Glück, als hätte ich einen herrlichen, unerschöpflichen Schatz gefunden. Niemand vertraute ich meinen neuen Gemüthszustand, denn trotz meinem Eifer fürchtete ich doch, verspottet zu werden; aber ich schrieb geistliche Lieder und verfaßte Predigten. Wenn ich fand, daß meine Aufmerksamkeit sich von himmlischen Dingen abwandte, wurde ich böse auf mich selbst und erneuerte meinen flau werdenden Eifer durch innerliche Stoßgebete. In Mitte meiner jugendlichen Kameraden war ich von dem ganzen Wahnsinn der Anachoreten behaftet, obschon es mir an ihrem Ascetismus und sicherlich auch an ihrer Eitelkeit gebrach.

Meine Schulstudien wurden natürlich unter dieser vollkommenen Geistesentfremdung beinahe gänzlich vernachlässigt, und Mr. Root begann, so mild er auch in der letzten Zeit gegen mich geworden war, wieder die Peitsche zu handhaben. Wird man mir aber wohl glauben, wenn ich sage – ich habe mein Gedächtniß auf's Sorgfältigste geprüft, und bin vollkommen überzeugt, daß es mich nicht trügt; aber auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen, will ich es aussprechen – wird man mir wohl glauben, wenn ich sage, daß ich jene Streiche kaum fühlte? Ich betrachtete sie als etwas, was ich um der unerforschlichen Liebe willen erhielt: ich eiferte darum, und sie gewährten mir eine Wonne. Ich kann nun wohl den Enthusiasmus und die Begeisterung jener lächerlichen Klasse von ausgezischten Träumern begreifen, welche man die Flagellanten nannte. In der That befand ich mich in einem Zustande, in welchem ich Alles, außer meinem Fanatismus, vergaß – obgleich dieser Ausdruck wohl zu hart ist; aber es würde nicht recht sein, wenn ich meine damalige Stimmung heilig nennen wollte, da sie mich gänzlich unnütz machte. Und doch werden ohne Zweifel viele wohlmeinende Personen glauben, daß meine jugendliche und fast sündenlose Hand ein gesegnetes Glied von jener Kette unaussprechlicher Liebe, welche in der Brust des hehren Wesens, das zur Rechten am Thron des Ewigen sitzt, erfaßt habe. Ich für meine Person will keine Ansichten äußern, sondern bloß Thatsachen angeben. Aber doch kann ich mir nicht versagen, eine Vermuthung aufzustellen, was ich vielleicht hätte werden können, wenn ich in meinem Lehrer einen Freund besessen hätte, der mich darauf aufmerksam gemacht haben würde, wo die Gränzlinie wahrer Frömmigkeit liege und wo der Wahnsinn anfange. Zu jener Zeit hatte ich den Muth, Alles zu erringen. Mögen alte und kalte Herzen sagen, was sie wollen, die Jugend ist die Zeit für das moralische Heldenthum. Das welke Alter nimmt irrthümlich die Abnahme seiner Kräfte für ruhige Ergebung, und ihre Theilnahmlosigkeit, die traurige Vorläuferin des Todes, für Geistesgegenwart.

Wie gesteigert übrigens auch mein Gemüthszustand sein mochte, so nahm er doch ein sehr lächerliches Ende. Ich hatte aufgehört, mich zu balgen, war demüthig, suchte, wem ich dienen konnte, und that Niemand ein Leides, sondern gab mir alle Mühe, Jedermann zu lieben und überall Beistand zu leisten; auch sehnte ich mich wirklich nach einer Gelegenheit, einen Schlag auf die eine Seite des Gesichtes zu erhalten, um dem Beleidiger auch die andere darbieten zu können. Der Leser kann sich denken, daß ich die Bibel fast ohne Unterlaß vor mir hatte, wenn ich nicht etwa in einem thätigeren Dienste für meine vermeintliche Heiligung begriffen war. Wenn aber auch der Geist stark ist, wird doch zuweilen das Fleisch schwach. Ich schlummerte einmal etliche Minuten über dem heiligen Buche ein, als mir es ein Schalk stahl und mir dafür »die berühmte und wahrhaftige Geschichte von den sieben Helden des Christenthums« unterschob. Auf dem Titelblatt befand sich der heilige Georg in grün und goldener Rüstung, wie er seinen Speer in die Kehle des grün-goldgeschuppten Drachen stößt – welch' eine Versuchung! Ich betrachtete das Buch anfangs nur mit Schüchternheit und fragte nach meiner Bibel. »Lies dies, Ralph,« sagte der Dieb – und oh! Elender, der ich war – ich las es.

In drei Stunden war ich von meinem Heiligkeitstaumel, von meiner Nachäfferei des Samuels und von der Verachtung der Ruthenhiebe geheilt.

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