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Zweiunddreißigstes Kapitel

Der Volontär und sein Schicksal, aus welchem erhellt, daß auch der größte Schelm, wie sehr es den Anschein haben mag, daß er zum Gehangenwerden geboren ist, bisweilen ertrinken kann.

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Die Gruppe auf dem Halbdecke war eben so auffallend, als possierlich. Reuben Gubbins, denn so hieß der Uebelthäter, war der einzige Sohn eines kleinen Pächters und hatte das Maß seiner Verbrechen dadurch erfüllt, daß er auf den herrschaftlichen Förster feuerte und ihn verwundete. Er war völlig sechs Fuß hoch, sehr linkisch gebaut und trug unter seinem Zwilchkittel einen langschößigen blauen Rock nebst schmutzigen hirschledernen Beinkleidern und Stiefeln mit Stulpen, welch letztere in Folge langer Dienstleistung braun gefärbt worden waren. Seine Züge bekundeten ein Gemisch von Einfalt, Unwissenheit und kräftigem thierischen Instinkt. Es war das letzte Geschöpf, das sich erdenklicher Weise zu einem Matrosen qualifizirte. Seine Gliedmaßen waren steif von schwerer Feldarbeit; auch fürchtete er sich vor der See und vor den Kriegsschiffen, die ihm als wahre Schreckbilder erschienen. Letztere Furcht theilten auch augenscheinlich seine Begleiter, den pragmatischen Schreiber nicht ausgenommen. Der Konstabel mit und der Konstabel ohne Stab pflanzten sich zu beiden Seiten des noch immer schluchzenden Arkadiers aus, obschon der seines Amtszeichens beraubte Mann kaum weniger betrübt zu sein schien, als der Gefangene. Er meinte nämlich, mit dem Stabe seien ihm Kraft, Werth, Tugend, kurz Alles verloren gegangen, und starrte hin und wieder den bâton seines Kollegen mit Blicken an, die fast nach Raub und Mordgier aussahen.

Das Geschäft war bald abgethan. Reuben wollte, ehe er sich von den Gerichten zum Tode verurtheilen ließ, doch lieber einen Versuch mit der See machen, und so wurde er vielleicht der allerunfreiwilligste Volontär, von dem man je gehört hat.

Der arme Bursche! Seine Leiden müssen groß gewesen sein! Ein wildes Thier des Waldes, das sich zum erstenmal in einem Käfig abgehärmt, oder der müde Landvogel, der weit in die unruhige See hinausgeblasen worden, konnte sich nicht mehr außerhalb seines Elementes fühlen, als dies bei dem ungeschlachten Reuben Gubbins auf dem Decke von Seiner Majestät Schiff, der Eos, der Fall war. Ich weiß nicht, wie es zuging, denn zuverlässig hätte ich ihn, nachdem ich wußte, daß er die Gesetze seines Landes übertreten hatte, wegen seines unmännlichen und unablässigen Weinens verachten sollen; aber als der große Lümmel trostlos nach dem Vorderschiffe ging und sich unter dem Gelächter der Matrosen auf eine Laffette der Back niedersetzte, so konnte ich mir's doch nicht verwehren, hinzugehen und die Spötter zu zerstreuen; auch füllte ich mich, zu meinem eigenen Aerger, geneigt, seine von der Arbeit gebräunte Hand zu ergreifen, an seiner Seite niederzusitzen, und mit ihm zu weinen. Indeß stellte ich mich doch nicht so weit bloß, obschon ich einige Stunden später aufs Furchtbarste ergriffen wurde.

Es wurde strenger Befehl ertheilt, Gubbins allen Verkehr mit dem Ufer abzuschneiden. Ein wenig vor Dunkel riefen die Schildwachen ein Boot an, welches außer dem Ruderer einen achtbar aussehenden alten Mann und ein großes, stämmiges, ziemlich hübsches junges Frauenzimmer enthielt. Sobald Reuben ihrer ansichtig wurde, rief er aus:

»Ich will wahrhaftig des Henkers sein, wenn das nicht der Vater und unsere Schwester Moll ist.«

Dann lief er nach dem Hinterschiffe, steckte seinen Hut zwischen die Knie und redete den wachhabenden Offizier folgendermaßen an:

»Bitte, Herr Offizier, da ist der Vater und unsere Schwester Moll, Sir.«

»Nun, und was weiter?«

»Sir, darf ich nicht gehen und mich mit ihnen ausweinen? – denn gewiß, ich habe mich bodenlos schlecht benommen.«

»Ist gegen die Ordre.«

»Aber doch könnt Ihr ihn heraufkommen lassen, da es ihm einen Trost gewähren muß, mit seinem pflichtwidrigen Sohn zu sprechen?«

»Nein, nein, – unmöglich.«

»Ei, schaut nur her, Sir – das ist der Vater mit seinem weißen Haar, und dies da meine Schwester, die von Weinen fast verrückt wird. Ihr könnt kein so hartes Herz haben.«

»Stille, und packt Euch nach dem Vorderschiff.«

Ich blickte über die Seite hinunter und sah, wie der alte Mann ehrerbietig aufstand; er hatte seinen Hut in der einen und einen Beutel, der augenscheinlich mit Geld gefüllt war, in der andern Hand. Ohne Zweifel mochte der einfache Sandmann glauben, er könne mit Geld entweder den Kapitän bestechen, oder die Knechtschaft seines schuldigen Sohnes abkaufen. Es war ein schönes, altes Gesicht, an dessen Seiten die Silberhaare in patriarchalischer Anmuth niederfielen. Und da stand der arme Greis in seinem Jammer und seiner Verlassenheit, jedem Offizier, dessen Hut oder Kopf er über den Hängemattennetzen oder über den Bollwerken auftauchen sah, seinen Geldbeutel entgegenstreckend. Der Schmerz der Schwester war wohl ungestüm, aber in dem des alten Mannes lag eine Tiefe und Würde, die mir zu Herzen ging. Ich konnte mir's nicht versagen, zu dem Lieutenant hinaufzugehen und ihn zu bitten, daß er die Zusammenkunft gestatte.

»Es geht nicht, Mr. Rattlin. Wißt Ihr nicht, daß der Bursche mit einem C. P. Convicted prisoner, überwiesener Verbrecher vor seinem Namen an Bord gebracht wurde? Ich kann mir wohl denken, was Ihr noch sagen wollt, aber die Menschenfreundlichkeit ist ein weit abstrakteres Ding, als Ihr wißt, und erhaltenen Befehlen muß Folge geleistet werden.«

»Aber, Sir,« sagte Gubbins, welcher sich wieder genähert hatte; »ich kann sehen, daß mir der Vater verziehen hat, und er ist der Mann, den ich im Grunde am meisten kränkte. Außerdem wird der Schwester das Herz brechen, wenn sie mir nicht sagen darf: ›behüte dich Gott, Reuben‹ – und da sich der Vater darein gefunden hat, so könnten doch auch andere Leute freundlich sein. Ach, freilich bin ich ein schlimmer Bursche gewesen.«

Und dann fing er mit neuem Ungestüm zu heulen an.

Der Offizier war ein wenig bewegt; er begab sich nach der Laufplanke, rief das Boot an und sagte, als es nahe genug war, dem alten Landmann in freundlicher Weise, er habe strengen Befehl, jeden persönlichen Verkehr zu verhindern; wenn er ein Packet oder einen Brief herausgeben wolle, so könne er dies thun – keinesfalls aber werde es gut sein, wenn er seinem verbrecherischen Sohne Geld zustecke. Während dieser kurzen Zwiesprache hatte sich Reuben an einem Platz aufgestellt, wo er seine Verwandten sehen konnte und die heiligen Worte »mein Vater,« »mein Sohn,« wurden trotz aller Befehle zwischen ihnen ausgetauscht.

Inzwischen hatte sich die Fluth gewandt, der Wind erhob sich aus der geeigneten Richtung und die Matrosen wurden aufgeboten, die Anker zu lichten.

Man rief nun dem Boote gebieterischer zu, abzuhalten; aber es blieb dennoch in der Nähe des Schiffes und folgte so lange wie möglich seinem Kielwasser. Der arme alte Mann und seine Tochter hingen mit einer Liebe, die eines besseren Gegenstandes würdig gewesen wäre, an dem Verlornen, und der Greis stand, das weiße Haar im Winde wehend, da, um noch den letzten Blick auf einen Sohn zu werfen, den er nicht mehr sehen, und der, wie die Schrift mit so schöner Innigkeit sich ausdrückt, seine grauen Haare mit Kummer in die Grube bringen sollte.

Lange, lange, nachdem der stumpfhirnige Sohn aufgehört hatte, sich nach den Zweien umzusehen, die uns in ihrer gebrechlichen Barke nachkämpften, beobachtete ich vom Hackebord aus das vergebliche Ringen der Liebe. Ich verließ meinen Posten nicht, bis die Dunkelheit und die zunehmende Entfernung das Boot vor meinen Blicken verbargen, und der letzte zeigte mir noch den alten Mann, wie er mit von Schmerz erstarrter Haltung dastand, während die Tochter ihr Gesicht auf die Knie niederbeugte. Bis zum letzten Moment war der Schnabel des Nachens nach dem Schiffe zugekehrt – ein rührendes Sinnbild unwandelbarer, väterlicher Liebe.

Ich konnte mir die Miene des alten Mannes nicht aus dem Sinne schlagen; sie war so trost- und hülfslos und doch so innig: dazu noch das kleine Boot, das mit hoffnungsloser Beharrlichkeit über die rauhen Wogen dem riesigen, seiner nicht achtenden Schiffe nachfolgte. Mit Gefühlen, die mir fast die Brust sprengen wollten, begab ich mich nach meinem Berth hinunter, legte den Kopf auf den Tisch, bedeckte das Gesicht mit meinen Händen und that, als ob ich schlafe. Oh, grausame Folter jener halben Stunde! Der Wilddieb mit allem seinem Elend kam mir fast glücklich vor, weil er sich der Liebe eines Vaters erfreuen durfte. Damals empfand ich besonders schmerzhaft den Umstand, daß ich von meinen eigenen Eltern verlassen war, und die Liebe, die ich meinem Vater nicht weihen durfte, goß ich gegen den weißhaarigen Greis aus. In meiner Einbildungskraft kehrte ich mit ihm zu seiner verlassenen Heimath zurück und half seinen wankenden Tritten über die Schwelle, die nicht länger von denen seines einzigen Sohnes erklang. Ich träumte, ich setze ihn zärtlich und mit Ehrfurcht auf seinen gewohnten Stuhl, flüstere ihm Worte des Trostes zu, und sehe mich nach seiner Familienbibel um. Die Schwester hatte ohne Zweifel viele Trostquellen; sie war jung – das ganze Leben lag vor ihr – sie hatte Freundinnen, vielleicht einen Liebhaber; aber der arme, alte Mann! In diesem Augenblick hätte ich alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn, die ich mir vorzumalen pflegte, mit Freuden hingegeben, wenn ich dem verwaisten Manne als Sohn, hätte folgen und in ihm einen Vater finden können.

Aber Niemand konnte aus Reuben Gubbins einer: Matrosen machen, und ihm selbst fiel es auch nicht ein, sich dazu bilden zu wollen. Vergeblich schnitt ihm der Hochbootsmannsmate die langen Schöße seines blauen Rockes ab (denn Derartiges geschah damals noch in der Flotte), kürzte ihm seine Stulpenstiefel zu Seemannsschuhen und wandelte seinen Kittel in ein Matrosenhemde um. Ueberall klebte ihm die Scholle an. Er stampfte über das Deck, als ob er über die Furchen eines gepflügten Landes ginge, und sah in das Takelwerk hinauf, als säßen Fasanen in den Webeleinen. Auch sprach er von nichts, als vorn »Vater« oder »unserer Moll«, und aß in Wirklichkeit sein Brod ( sub intellige Zwieback) mit Thränen durchfeuchtet (wenn anders Thränen ein solches Kieselsteinpräparat durchfeuchten können), denn er winselte ohne Unterlaß. Um des romantischen Gefühles willen, das ich für den Vater empfand, nahm ich mich einigermaßen um den Bauernlümmel an Bord an, und ich glaube, daß er, so weit es in seiner Natur lag, dankbar dafür war; der ganzen übrigen Schiffsmannschaft mußte er jedoch stets zur Zielscheibe des Spottes dienen.

Mr. Farmer, unser erster Lieutenant, war ein flinker und sehr pünktlicher Offizier. Er pflegte die Vexirsegel etwa zwölf Fuß hoch quer vor dem Besahnmast aufzutakeln, und ließ die Neulinge unter dem Midshipmen, wie auch die Schiffsjungen darauf ausliegen, damit sie in einer sicheren Weise beschlagen lernten. Anfangs konnte Reuben durch nichts bewogen werden, auch nur einen Fuß in das Takelwerk zu setzen – nicht einmal durch das Strickende des Hochbootsmannsmaten. Diese Delikatesse von Seite des jungen Burschen harmonirte nun durchaus nicht mit Mr. Farmers Ideen, weshalb Letzterer, um sie aus die zarteste Weise von der Welt zu überwinden, Reuben die Wahl ließ, ob er die Katze versuchen oder nur einmal zum Anfang, um die Weise kennen zu lernen, sich auf der Vexirsegelraa ausstrecken wolle. Es war ein lächerliches Schauspiel, diesen großen Lümmel mit uns jungen Burschen an der dünnen Raa hängen und sie so brünstig wie eine Geliebte umarmen zu sehen. Indeß hatte er ein eigentliches Entsetzen, sich bis an's Ende derselben hinauszuwagen. In der Entfernung sah die Raa, wenn sie bemannt war, wie ein Bratspieß mit Lerchen aus, in dessen Mitte sich eine einzige große Gans befindet.

»Geht über mich hinaus, Sir, geht mir voran, Mr. Rattlin,« pflegte er zu sagen. »Ach, Sir, ich wollt mit jedem Großthuer in diesem Schiffe nach einem Krähennest hinaufklettern, wenn ich einen sichern Zweig unter mir habe, um darauf zu stehen; aber auf dieser sägenden Leine da zu tanzen und es noch obendrein ein Pferd nennen, das ist nicht christlich.«

Aber seine Leiden sollten bald ein Ende nehmen. Er wurde den Kuhlgästen beigegeben und erhielt beim Beschlagen der Segel seinen Posten auf der Nocke.

Um mit ihm fertig zu werben, will ich mit meiner Geschichte ein wenig vorauseilen.

Der Winter war mit Ungestüm hereingebrochen und führte starke Böen nebst viel Frost und Schnee mit sich. Wir hatten die Mündung des Kanals noch nicht im Sterne, und das Wetter war so schlecht, daß es nöthig wurde, unter Versuchssegeln und dicht gerefften Hauptmarssegeln liegen zu bleiben. Gegen Glock Zwei in der ersten Hundewache befahl der erste Lieutenant, das große Segel zu beschlagen. Reuben mußte nun auf die große Raa hinaufgehen, wurde leewärts beordert und die schadenfrohen Matrosen drängten ihn weiter und weiter weg von der Leinwand. Ich war mit einem der älteren in dem großen Mars, dessen Segel eben dicht gerefft worden waren, konnte die Bursche auf der Halbraa voll überblicken und war Zeuge des Schreckens, der sich in der possierlichsten Weise auf Reubens Gesicht aussprach. Es war bitter kalt, das Takelwerk steif gefroren und der schneidende Nordostwind kam an der Leenocke aus dem Bauch des Marssegels mit furchtbarer Gewalt auf die Matrosen nieder. Außerdem schrickte das Schiff, ungeachtet des Druckes vorgedachten Segels, mit großem Ungestüm, da wir trotz des kleinen Wellenschlages schwere See hatten. Der Bauernsohn schien vor Furcht allmälig zum Steine zu werden. Er hielt sich instinktartig an einer Falte des Segels, ohne bei dem Geschäfte auch nur die mindeste Beihülfe zu leisten. Alle seine Energie hatte sich in dem Zusammenkrallen seiner Finger gesammelt. Als ich auf ihn niederblickte, sah ich, daß sein Loos gefallen war. Ich hätte gerne nach Beistand gerufen, wußte aber wohl, daß es vergeblich sein würde, selbst wenn es möglich gewesen wäre, mich durch Das Sausen des Windes und der Wogen hörbar zu machen.

Diese prüfende Lage konnte nicht lange währen: der Theil des Segels, an welchem sich Reuben mit der eigentlichen Gewalt des Todes angeklammert hatte, mußte mit in den Beschlag gerollt werden, und die Zähigkeit, mit welcher er festhielt, hinderte die Operation.

»Hurtig, meine Jungen!« brüllte der Meistersmate der seinen Posten an der Wölbung des Segels hatte.

»Laß los, du Tölpel,« rief der Matrose auf dem Raa, welcher zunächst windwärts von Reuben war.

Reuben hatte so sehr alle seine Fassung verloren, daß er dem Manne nicht einmal durch einen Blick antworten konnte.

»Jetzt, meine Jungen, jetzt. Eins, zwei, drei und – –«

Dem Rufe des Offiziers gehorsam, wurde mit einem gleichzeitigen Ruck am Segel dem betäubten Bauren der Haltpunkt aus den krachenden Fingern gerissen. Er fiel mit einem lauten Schrei von der Raa, prallte auf der Mitte des Haupttakelwerks auf, hüpfte dann weit leewärts in die See und verschwand dann in der Mitte des weißen Schaums einer kräuselnden Welle, die ihn gierig in ihren Schooß aufnahm. Er kam nie wieder zum Vorschein. Vielleicht triftete die Fregatte in ihrem Leeweg über ihn hin – und die beleidigten Gesetze seines Vaterlands waren in dieser Weise gerächt. Ich muß bekennen, daß ich mich sehr erschüttert fühlte über die geringe Theilnahme, welche dieses in meinen Augen so tragische Ereigniß hervorrief. Aber wir werden in dieser besten aller möglichen Welt an derartige Dinge gewöhnt, und wenn der Wilddieb unbeweint und ohne Gebete starb, so läßt sich weiter nichts über die Sache sagen – als daß manchem besseren Mann schon ein schlechteres Loos gefallen ist.

*

 


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