Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Ralph hält eine Vorlesung über Religion und die Hosen kleiner Knaben – ist über die Maaßen trostlos – und geht als der Schwächste an die Mauer, wo er Tröstung findet. – Ein alter Freund mit einem alten Gesichte und trefflichem Mundvorrath.

————

Am andern Morgen stand ich mit schwerem Herzen auf als der Besitzer von acht Schillingen, einer Schachtel mit Spielzeug und einem Rosinenkuchen. Es ist ganz richtig, was Wordsworth gesagt oder gesungen hat: »Der Knabe ist des Mannes Vater.« Als ich wieder zu meinen Schulkameraden kam und der unerwartete Besitz meiner unterschiedlichen Reichthümer ruchbar geworden war, fand ich, daß Viele davon sehr freundlich und väterlich gegen mich waren, denn sie borgten mir mein Geld ab, aßen meine Kuchen, zerbrachen mein Spielzeug und ließen mein Herz in demselben Zustande, wie es zuvor gewesen war.

Doch ich will nicht länger bei der Schilderung des kläglichsten von allen geschaffenen Wesen verweilen, denn so muß ich den nennen, auf dem der Fluch der Verachtung liegt. Ich hatte die harte Lehre lernen müssen, Grausamkeit als mein tägliches Brod, Thränen als meinen täglichen Trank und Geringschätzung als mein natürliches Erbtheil zu betrachten. Mein Herz hätte brechen müssen, wenn es nicht verhärtet geworden wäre. Ehe ich übrigens die Epoche meiner Schulzeit verlasse, welche ich die trostlose genannt habe, muß ich noch einen Beleg von Barbarei berühren, der nahezu mein Herz für immer der Religion entfremdete und mich in jener Zeit schon den Namen der Kirche zu verabscheuen bewog. Das Christenthum ist vorzugsweise die Religion der Liebe, und nur durch die Pfade heiliger Liebe sollte das junge Herz zu dem Thron der Gnade geleitet werden, denn wir wissen von dem göttlichen Lehrer selbst, daß das Gebet kleiner Kinder ein wohlgefälliges Opfer ist; sie dürfen daher wohl ihre Stimmen in die süßesten Symphonieen mischen, die von den Lippen der Seraphe zu dem Fußschemel des Ewigen emporsteigen. Unser Gott ist kein Gott des Schreckens, und wenn er von einem kieselherzigen Schulmeister so dargestellt oder in den Augen unschuldiger Zöglinge dazu umgewandelt wird, so hat dieser die fast unverzeihliche Sünde zu verantworten, eine Seele zu Grunde gerichtet zu haben.

Eltern und Vormünder dürfen sich in dieser Hinsicht wohl vorsehen. Mögen sie darauf achten, wie die Pensions-Schulmeister ihre Zöglinge in unfreiwilliger Parade nach der nächstgelegenen Kirche oder Kapelle führen, ihre feile Marktschreierei sogar bis an die Hörner des Altares tragend; mögen sie aber auch nicht vergessen, nachzufragen, wie viele gepeitscht, geschlagen oder anderweitig übel behandelt werden, weil sie sich in einer Aufmerksamkeit, die in dem kindlichen Alter eine Unmöglichkeit ist, sich flau erfinden lassen, und einen Text nicht mehr herzusagen wissen, den der Prediger vielleicht unverständlich oder undeutlich vortrug. Ich wiederhole es, mögen Eltern und Vormünder diese Nachforschungen anstellen, und wenn auch nur ein einziger armer Knabe um eines solchen Grundes willen leiden mußte, so können sie sich für völlig versichert halten, daß ein derartiger Schulmeister – wie fleißig, begabt und achtbar er sonst sein mag – durchaus nicht geeignet ist, einen jugendlichen Geist zu bilden. und daß es ihm nur an Gelegenheit fehlt, jene Bigotterie kund zu geben, welche mit Freuden den anders denkenden Nachbar an dem Pfahle brennen sieht, oder mit ausgesuchten Qualen den Kindern, welche er in seinem heiligen Stolze vielleicht ketzerisch nennt, einen Glauben aufzuzwingen.

In der Kirche nahmen wir wenigstens ein Drittheil der einen Gallerte ein. Zweihundertfünfzig Knaben und Jünglinge mit ihren Lehrern und Unterlehrern bedurften natürlich eines großen Raumes, und bildeten deshalb keinen unbedeutenden Theil des Auditoriums.

Mr. Root und die kleinen Knaben hatten gewöhnlich ihren Platz auf den niedrigen Vorderbänken. Da saßen wir armen kleinen Puppen, während des Opfergebets die Augen stets an den unrechten Stellen auf das Gebetbuch geheftet, und nachdem die Predigt begonnen hatte, wiederholten wir, während der Redner fortfuhr, ohne Unterlaß die Textesworte, um sie nicht zu vergessen. Die größeren dagegen, welche sich mehr im Hintergrunde befanden, lasen Romane oder spielten Gerade und Ungerade um Nüsse, Marbeln und Halbpence. Der mathematische Lehrer pflegte stets während des Gottesdienstes seine schwereren Probleme auf dem Schmutzblatte seines Gebetbuches zu lösen, denn ich habe wiederholt seine fleißigen Berechnungen in winzig kleinen Figuren an gedachten Stellen gesehen; auch öffnete er nie anders als in der Kirche das erwähnte Buch, weil er vielleicht mit Smollets altem Weibe glaubte, daß es eine Art Gottlosigkeit sei, derartige Werke anderswo zu studiren. Während Alles dies in den hintern Reihen vorging, achtete Mr. Root in der aufgeblasenen Glorie seiner Sonntagsparaphernalien und mit wohlgepudertem Kopfe ausschließlich auf die Heiligkeit und auf das andächtige Benehmen seines kleinen Kapitels der Unschuldigen. Er hatte die Schreibtafel in der Hand; jeder umherschweifende Blick wurde aufgezeichnet, und leider waren dann die Folgen furchtbar peinlich.

Die Absolution absolvirte mich nicht. Das » te Deum laudamus« war für mich mehr eine Quelle der Thränen, als des Preises, und das »Erfreuet euch im Herrn« hatte mir wiederholt in dem Schulzimmer ganz das Gegentheil von Freude verursacht. Ich glaube nicht, daß ich, trotz meiner Ehrbarkeit, in einem ganzen halben Jahre auch nur ein einzigesmal meiner Sonntagszüchtigung entging. Sie kam so regelmäßig, als die gebackenen Reispuddinge, und ich fing an, die ganze Sache als etwas zu betrachten, was so sein müsse. Wenn Jemand die Glaubwürdigkeit dieser Angabe oder überhaupt irgend etwas, was ich über meine Schuljahre berichtete, bezweifeln sollte, so sind zum Glück noch mehrere Personen am Leben, welche dafür einstehen können; und will mir Jemand den Beweis abverlangen, so werde ich mich durch seine Zuschrift nur geehrt fühlen und unweigerlich seinen Wünschen entsprechen.

Ich habe all dies angegeben, weil ich glaube, daß eine wahre Achtung des Gottesdienstes nur dadurch erzielt werden kann, wenn man ihn zu einer Quelle des Segens macht und zeigt, daß eine erhebende Wärme in der Glorie liegt, welche den Thron des unerschöpflichen Wohlwollens umgibt; aber nimmermehr kann die Gottheit würdig verehrt werden, wenn man die jungen Herzen mit herabwürdigender Furcht erfüllt, und sie in den Molocharmen des Schrecks verstrickt. Trotz meines excentrischen Lebens bin ich doch stets ein glühender und anspruchsloser, obgleich unwürdiger Verehrer des großen Geistes gewesen, dessen höchstes Attribut in seiner Güte besteht; auch habe ich meine gewichtigen Gründe dazu gehabt.

Der Mensch, der seinen Schöpfer in der Mitte seiner großartigsten Werke geschaut, seine Stimme in dem Gewittersturme des Meeres vernommen, das Walten der Vorsehung im Gemetzel der Schlacht erkannt, und mit angesehen hat, welche Verehrung Ihm gezollt wird von allen Nationen und unter allen Formen, von dem einfachen Klopfen an die Brust von Seiten des reuigen Sünders bis zu den erhabenen Akkorden, getragen von den Donnerlauten der Orgel im hohen, düsteren Dome – ich sage, der Mann, der dies geschaut und tief empfunden hat, aber dennoch kein Gefühl für Frömmigkeit oder keine Achtung gegen die Religion besitzt, muß ein Herz im Busen tragen, welches härter ist, als der Mühlstein, wie die heilige Schrift so schön sich ausdrückt.

Aber mein Forte besteht nicht in dem Ernsten. Ich bin nur unter dem Einflusse einer großen Freude aufmerksam, ruhig und gedankenvoll. Wenn ich die meiste Ursache habe, mich glücklich zu schätzen, oder mich eines Triumphes zu freuen, so betrifft mich das Gefühl meiner Unverdienstlichkeit, und ich werde demüthig, ernst, oder traure bei dem Gedanken an den Unbestand menschlicher Dinge. Wenn es aber zum Kampfe gehen sollte, wenn ich im Sturme auf der Nocke saß, oder wenn ich mich mitten unter den Todten eines Pesthauses befand – sagt, ihr Gefährten meiner Jugend, wessen Scherzen das nachhaltigste, wessen Lachen das lauteste war! Indeß war weder das eine Gefühl wirkliche Verzagtheit, noch das andere wahrer Muth. Im erstern Falle ist's mehr das Sehnen der Seele nach einer jenseitigen Wirklichkeit, im letzteren das Spielen mit den Träumen hienieden. Da ich indeß auf diesen Blättern einen Versuch zu leidlicher Heiterkeit beabsichtige, so mag man immerhin annehmen, daß ich sehr unglücklich bin – vielleicht auch langweilig, wie möglicherweise der Leser dieser Memoiren zu seinem Leidwesen erfahren dürfte.

Da man sich mit meiner religiösen Erziehung wenigstens so bedeutend Mühe gegeben hatte, so darf man sich nicht wundern, wenn ich an Sonntag Nachmittagen nach der Kirche durchaus nicht zum Sitzen geneigt war. In der That war mir jede andere Körperhaltung weit lieber. Uebrigens entschwanden mir nicht alle Sonntage freudlos. Namentlich war einer, obgleich der erstere Theil desselben in beklommener Furcht und die Mitte unter quälendem Schmerz verbracht wurde, noch am Schlusse durch eine herzlich gefühlte Heiterkeit bezeichnet, deren Ursache ich als Zoll der Dankbarkeit, welchen ich einem von der »nicht ungewaschenen«, wohl aber schmutzig gesinnten Menge schuldig bin, berichten will.

Ich stahl mich traurig und langsamen Schrittes unter der Mauer des Spielplatzes hin, denn ich wünschte jede rauhe Reibung eines gewissen Theils meiner Kleidung an meiner Person zu vermeiden. Meine vorübergehenden Schulkameraden betrachteten mich in derselben Weise, wie sie Shakespeare so schön schildert, wenn er von dem unverletzten und dem verwundeten Hirsche spricht. Das Herz war mir schwer und mit düsteren Träumereien erfüllt. Die Sonne ging unter – eine Zeit, welche für alles Leben entweder feierlichen Frieden, oder den Einsamen instinktartige Wehmuth bringt. Plötzlich wurde ich aus meinem Düster durch den wohlbekannten, lange vermißten Ruf: »Ralph! Ralph!« geweckt, und als ich aufblickte, entdeckte ich auf der Mauer das derbe, grinsende und vor Vergnügen strahlende Gesicht meines Pflegevaters Joe Brandon. Wie vergnügt war er – und wie vergnügt ich! Er hatte mich gefunden! Statt in den verschiedenen Sonntagskonventikeln den Herrn zu suchen, hatte er nach meiner Entfernung aus seinem Hause den Sabbath jedesmal dazu verwendet, die verschiedenen Kostschulen in der Nachbarschaft zu durchspähen. Hiezu wurde er ohne Zweifel bedeutend durch meine Pflegmutter gespornt, obgleich ich es seinem eigenen Herzen zutrauen will, daß er es selber auch gerne that. Da die Mauer zu hoch war, um uns einen Händedruck zu gestatten, so begab er sich auf meine angelegentliche Bitte nach dem Eingange, wurde aber, sobald er seinen Wunsch angedeutet hatte, buchstäblich »durch einen gemästeten Fröhner von der Thüre weggetrieben.« Nun, da er nicht eingelassen werden sollte, so war doch die Mauer vor und über ihm, und er stieg wieder hinan. Wir sprachen nur wenig mit einander, da sich die Knaben um mich zu schaaren begannen. Er wickelte fünfthalb Pence in ein Stückchen Löschpapier, ließ dieselben zu mir niederfallen und verschwand. O wie wohl that mir dieser Besuch, den ich nie vergessen werde! Jenes Wiedersehen war ein Lichtpunkt auf meinem dunkeln, traurigen Pfade, und setzte mich in den Stand, wieder vorwärts zu gehen; es lag jetzt nicht mehr so viel Düster zwischen mir und meinen glücklichen Tagen, und vielleicht befähigte mich der Strahl der Freude, welchen jene Bewegung über mich ausgoß, die Zeit der Prüfung zu überstehen. Möglich, daß ich zu jener Periode nicht mehr länger zu dulden vermocht hätte, und daß ich unter den gehäuften Verfolgungen erlegen wäre. Ich will dies zwar nicht mit Bestimmtheit behaupten, denn in der frühen Jugend liegt eine Elasticität, die sich unter vielen Bedrängnissen wieder aufzuraffen vermag – aber doch war ich in jener Zeit von maaßloser Zaghaftigkeit bedrückt.

Einem etwaigen Spötter kann ich blos erwiedern, daß ich wünsche, bei dem nächsten Konklave, das sich versammelt, um die Geschicke der Völker zu verhandeln, möchte nur so viel Milch von Menschenliebe und edlen Gefühlen obwalten, als zwischen mir und dem armen Brettschneider Joe Brandon quoll, als Letzterer auf und ich an der Mauer stand.

Am nächsten Sonntag zeigte sich Brandon wieder mit einem gewaltigen Rosinenkuchen auf der Mauer; die Gabe fiel mit so schwerem Ton auf den Boden, daß das Fallen von Korporal Trim's Hut keine Vergleichung damit aushalten konnte. Natürlich gab auch die Kopfbedeckung besagten Korporals einen Schall von sich, als ob eine Quantität Pfeifenerde in die Krone geknetet sei, während mein Packet einen vortrefflich gekneteten Taig enthielt.

Am Sonntage darauf wechselte der Besuch mit einem Pfefferkuchen ab – dann aber sah oder hörte ich Jahre lang nichts mehr von ihm. Der arme Joseph war von dem Konstabel bedroht und konnte keinen weiteren Aufwand für die seinem Pflegesohn zugedachten Kuchen erschwingen.

*

 


 << zurück weiter >>