Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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8.

Die schwarzen Wolken jagten über die finstere Stadt dahin. Ohne Ende, ohne Zahl. Die Toten in ihren vereisten grauen Soldatenmänteln standen darauf. Die Toten und Gefallenen aus den Massengräbern von Verdun und Ypern, von Polen und von Rußland, Serbien, Rumänien, von Mesopotamien, aus den einsamen Friedhöfen der Vogesen und der Champagne, die Toten aus den Argonnen, die Toten von der Somme und die Toten, die aus dem Meere gestiegen waren.

Sie jagten dahin, zu Hunderttausenden zusammengegedrängt auf den schwarzen Wolken, die in dieser Nacht ganz Deutschland überzogen. Denn in dieser Nacht kehrten die Toten zurück.

Horch, sie singen! Hörst du? Ihr Gesang braust! Was singen sie? Unverständlich für die Lebenden ist ihr Gesang.

Die Vorhut der heimkehrenden Armee der Toten hat Berlin erreicht, ohne Ende ist ihr Zug, noch haben nicht alle den Rhein überflogen. Es sind Millionen.


Dahinfegte die Limousine. Sie schnellte über eine Brücke und jagte in eine endlose schnurgerade Straße hinein. Sie bog um eine Ecke – und ja, dies war nun die Lessingallee.

Plötzlich pochte der General wild mit den Knöcheln an 463 die Scheiben, und augenblicklich zog Schwerdtfeger die Bremse. Bevor das Auto noch stand, war der General schon aus dem Wagen gesprungen und lief rasch in die Straße hinein. Aber auch der kleine Mann in seinem Havelock eilte, so schnell er konnte, dahin.

Zwei, drei Sätze und die wütende Faust des Generals hatte den Havelock erfaßt.

»Was wollen Sie von mir? Sprechen Sie!«

Der kleine alte Mann krümmte sich zusammen.

»Was wissen Sie von meiner Tochter. Sprechen sie jetzt – oder, oder –!«

Da zerfloß der kleine alte Mann, wie Nebel. Eine Sekunde noch das bläulichweiße Gesicht, grüne Funken, wo die Augen waren – fort.

So heftig war die Erregung, daß der General auffuhr. Er saß bei Tisch. Allein.

Ohne zu denken, griff er wieder nach Messer und Gabel und bemühte sich, kleine Stückchen von dem kalten Fleisch auf seinem Teller abzuschneiden. Er griff nach dem Glas – aber schon erlahmte wieder die Hand.

Kalt, kalt, die Kälte! Es war eisig kalt in diesem Zimmer.

Und doch, der Ofen glühte. Er näherte die Hände – deutlich sah er das Eisen glühen – aber, wie merkwürdig, keine Wärme. Nun erst, da er mit den langen Nägeln das rote Eisen berührte, spürte er einen Hauch von Erwärmung. Ein eisiger Luftstrom blies ihn an.

Sonderbar – seit jenem Tage hatte es begonnen! Deutlich erinnerte er sich noch, wie das schneeblaue Gesicht durch die Scheiben ins Foyer starrte, an den Briefumschlag sogar, der von häßlicher, unangenehmer grüner Färbung war. Seit jenem Tage war die Unruhe über ihn gekommen. Überall hatte er diesen kleinen geistesgestörten alten Mann gesehen – vor dem Hause, vor dem Restaurant, ja selbst wenn er einen Blick aus seinem Arbeitszimmer warf, da 464 stand er auf dem Platze. Sogar in der Nacht begegnete er ihm häufig.

Ja, er, dieser Unbekannte, hatte den Argwohn in ihm geweckt – alles war daher gekommen, allein daher!

Noch heute, noch heute würde sie, Ruth –

Der Schmerz fraß. In seinem weiten Feldmantel, der nahezu den Boden berührte, schritt er durch die Zimmer. Auf seinem Schreibtisch lag Ruths letzter Brief: – die dich geliebt hat, Papa, und noch immer liebt . . .

Sie hatte ihm unrecht getan. Alles entsprang doch nur der Sorge um sie, der Fürsorge eines Vaters, dessen Pflicht es erheischte – Kannst du es denn nicht verstehen, mein Mädchen? Verhängnis über Verhängnis. Er, ihn getötet? Wie? Wie? Ihn, den sie liebte? Er? Aber, wie kannst du nur so etwas sagen?

Die Stille lauerte. Lauernd und feindselig umstrich ihn die eisige Luft. Der Brief flatterte plötzlich in seiner Hand.

Ohne jeden Zweifel, er war nicht allein.

Nein, nicht allein!

Wieder glitt der lange graue Mantel durch die Zimmer. Er drehte das Licht an. Niemand, natürlich. Aber er fühlte einen Blick auf sich gerichtet, und dieser Blick folgte ihm überall hin.

Vorsichtig, mit zitternden Fingern, schob er den Vorhang zur Seite, er öffnete das Fenster, leise, und spähte durch einen Spalt der Jalousien hinaus auf die finstere Straße.

Da, da – sein Herz stockte!

Nein, er hatte sich nicht getäuscht.

Da stand er – der kleine Geistesgestörte, in der Tat! Deutlich sah er sein faustgroßes bleiches Gesicht. Die Augen waren auf dieses Fenster, genau auf dieses Fenster, auf ihn gerichtet. Er stand mit zwei Gestalten, zwei Männern, einem großen und einem untersetzten. Nun näherte sich der Große der Haustüre, aber der alte Mann rief ihn zurück. 465 Sie sprachen: berieten, deuteten auf das Fenster, auf ihn! Dann gingen sie, zögernd, und die Dunkelheit verschlang sie augenblicklich.

Leise, vorsichtig schloß der General wieder Fenster und Vorhänge. Noch eisiger war die Luft geworden. Kalter Nebel war durch das Fenster ins Zimmer gekrochen. Ja, ohne Zweifel, die ganze Wohnung war nunmehr von Nebel erfüllt. Die Wände rauchten. Sie waren grüne geschliffene Eisblöcke, die dampften.

Der Brief Ruths war auf den Boden gefallen, und keuchend hob der General ihn auf. Er war geneigt, über die politischen Verirrungen eines jungen und urteilslosen Mädchens hinwegzusehen. Er war geneigt, gewisse Vorfälle zu vergessen – Irrungen eines jungen und leidenschaftlichen Herzens. Er war geneigt, Zugeständnisse zu machen, völlige Freiheit zuzusichern. Forderte sie es, so war er zu jeder Genugtuung bereit. Zu jeder!

Aber sie sollte zurückkommen!

Ja, zurückkommen. Weshalb kam sie nicht?

Er war alt, sein Leben vernichtet, zermürbt, untergraben, zerstört, ohne Sinn, ohne Hoffnung, ohne jede Hoffnung! Er besaß nur noch sie, sie allein – sonst nichts mehr.

Und er liebte sie! Ja, Ruth, es ist die Wahrheit, ich liebe dich!

Das alles wollte er ihr sagen, sobald er sie traf. Und er würde sie finden, ohne jeden Zweifel! Morgen, in aller Frühe schon, würde er sich wieder auf den Weg machen. Sie war ja hier, hier in der Stadt, Wunderlich hatte sie schon zweimal gesehen.

Ja, all das, all das. Und er würde sie bitten – nie in seinem Leben hatte er einen Menschen um etwas gebeten . . . Forderte sie es, von ihrem alten Vater – bestand sie darauf – nun wohl, so war er bereit, sich zu – demütigen . . . 466

Plötzlich taumelte der General, so stark, daß er in einen Sessel fiel. Er griff nach der Brust. Sein Herz –? Was war es –?

In diesem Augenblick aber schrillte die Klingel, zweimal, dreimal, lang, herausfordernd – die Haustürklingel.

Schritte kamen durch den Korridor.

Aber schon stand der General unter der Türe. »Öffnen Sie nicht!« rief er, zitternd in seinem weiten Mantel.

Dumpf grollte es in der Ferne – ein Geschütz hatte in der Stadt gefeuert.

»Ich werde selbst – gehen Sie ruhig schlafen«, stammelte der General, und Therese schlich wieder in ihre Küche zurück. Immer noch schmerzte das Herz in der Brust. Allmählich erst hörte es auf zu zucken. Nun erst ging der General zur Haustüre und bot seine breite Brust der Finsternis dar. Niemand. Aber dort drüben, im Park, schlichen da nicht Gestalten?

Schüsse klatschten, und wieder feuerte ein Geschütz in der Stadt.

»Sie zerfleischen sich – wie Wölfe«, dachte der General. Und laut rief er in die Dunkelheit hinein: »Ist jemand da?«

»Hahaha!« lachte es aus der Finsternis.

»Hier bin ich! Was wollt ihr von mir?«

»Hahaha!« Ganz fern.

Niemand. Er verschloß die Türe.

 

Ein Schritt raste die dunkle Straße entlang. Nein, nicht ein Schritt, ein Rudel von Schritten. Hinter dem einen rasenden Schritt her jagte eine Meute klappender Schritte. Geschrei.

Da setzte der Schatten eines schmächtigen Menschen über die Straße und verschwand im Gebüsch des Parkes. Ein Rudel von Schatten setzte hinter ihm her. »Haltet ihn, haltet ihn, den Spitzel!«

Die Stimmen verloren sich. 467

Kunze keuchte. Eine Sekunde noch, und er wäre zusammengestürzt. Meilenweit hatten sie ihn gejagt, und alle Wachtposten hatten auf ihn geschossen.

In Schweiß gebadet, warf er sich auf den Boden. Da begann der ganze Park wie ein Hammerwerk zu pochen. Lob und Dank dem Herrn, sie hatten seine Spur verloren – ihre Stimmen klangen ferner und ferner. Ein Schrei – vielleicht hatten sie einen andern niedergeschlagen?

Noch keuchte die Brust, und schon begann Kunze wieder zu laufen. Durch den ganzen finstern Tiergarten eilte er. Furchtsam mied er Wege, ob sie breit oder schmal waren. Endlich kam er in eine Gegend des Parkes, die Sicherheit verbürgte. Es war dicht hinter dem Zoologischen Garten.

Eifrig spähte er in die dunkeln Baumwipfel empor – ja, hier, dieser war der richtige. Ein einladender Ast, nicht allzu hoch über der Erde, aber doch hoch genug, gerade was er suchte. Hinauf, schon war der Strick festgemacht, die Schlinge gebunden. So. Und nun rasch! Keine Stunde länger war dieses Leben zu ertragen – ja, schade, er hatte nicht einige Autos zur Verfügung, um über die Grenze fahren zu können –

Nur noch eine Sekunde, bitte, bis er Atem geschöpft hatte – und dann: hinab!

In der letzten Nacht hatte er in einer Kanalisationsröhre geschlafen; in der Lindenstraße; vorgestern in einer Sandkiste beim Halleschen Tor. Einmal hatten sie ihn schon gefangengenommen – nein, nein. Schluß! Eine Sekunde nur – und dann: hinab!

Die Schlinge um den Hals saß er da, dampfte und keuchte – zu seinem Schrecken gewahrte er jetzt, daß er sich ganz in der Nähe eines Weges befand.

Dunkel und schweigend lag der Tiergarten. Eigentlich, bei rechtem Licht besehen, ein Park für Selbstmörder, nicht wahr? Eine rührende Vorsorge der Stadtverwaltung! Jede Nacht erschoß sich hier jemand, erhängte sich irgendeiner – 468 fast gab es keinen unbesetzten Baum mehr. In der Ferne, aus der dunkeln Stadt prasselte Gewehrfeuer, und dann und wann dröhnte ein Kanonenschuß. Sie kämpften. Es war nicht gut, ihnen gerade jetzt in die Hände zu fallen.

Schwarze, gespenstische Wolken jagten über den kahlen Baumwipfeln dahin. Das welke Laub raschelte. Zuweilen hörte er auf seinem Ast auch Stimmen und Gelächter, bald näher, bald ferner – und Gesang. Gesang. Dann wiederum Schüsse. Und sonderbare Laute, Miauen und Bellen, drangen aus dem Zoologischen Garten.

So also sollte er enden! Was würde sein Vater, der Pastor sagen? Ein Selbstmörder in der Familie! Schande, Schmach – Heimsuchung des allmächtigen Vaters im Himmel! – Luxus, schöne Frauen – und der Ruhm? Es war nichts damit geworden, nein. Gerade als der Krieg ausbrach, wollte er zur Bühne gehen. Hamlet! Den ganzen Hamlet kannte er auswendig.

»Sein oder Nichtsein –« flüsterte er und hob die Arme.

Beinahe wäre er von seinem Ast gefallen.

Dahinwandeln im Licht der Rampe, bewundert, umrauscht vom Beifall – Briefe schöner Mädchen und Frauen – alles nichts.

Und nun – das Seitenstechen hatte aufgehört – und nun . . .

Da aber hörte er Schritte knirschen. Er erstarrte vor Entsetzen. Kamen sie wieder? Weshalb hatte er auch solange gezögert?

Zwei Schatten wanderten über den Weg nebenan. Plötzlich bogen sie in die Büsche ein. Sie schlichen näher, immer näher. Ja, sie kamen zu ihm, beim Himmel. Seine Haare sträubten sich. Er wagte nicht mehr zu atmen.

Ein Mann und eine Frau, sie lagerten sich unter seinem Baum. Etwas Weißes schimmerte, Flüstern, Küsse, Lachen, Geplauder – leise Schreie – eine volle Stunde mußte er ohne jede Bewegung sitzen. Endlich gingen sie wieder. 469

Nun aber wollte er keine Minute mehr versäumen!

Die Dunkelheit begann zu sprühen. Augen öffneten sich in der Finsternis, erschrockene, entsetzte Augen – ja zumeist entsetzte – wenn die Hand des Gesetzes ausholte. Auch die Augen jenes jungen Mannes, der auf dem Straßenpflaster lag, noch etwas atmete und rief: Alle Völker sind Brüder!

Ja, auch diese Augen . . .

Kunze weinte. Und plötzlich sprang er, ohne Überlegung, – ein scharfer Schmerz schnitt in seinen Hals: zu Ende, verbei –

Aber einen Augenblick später saß Kunze im feuchten Gras. Er konnte es nicht fassen, anfangs – der Strick war gerissen.

Weinend lief er durch den dunkeln Park, den Strick um den Hals.

 


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