Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

Allmählich wurden die Donnerschläge schwächer, das Gewitter zog langsam ab.

Erst nachdem der General ungeduldig wurde und seinen Titel nannte, erhielt er telephonischen Anschluß. Augenblicklich meldete sich Major Wolff, der Nachtdienst hatte.

Der General ließ sich Vortrag halten. Wolff las die wichtigsten Telegramme vor, die wichtigsten Eingänge – eine volle Stunde sprach der General am Telephon. Das Gewitter sog an den Drähten, zuweilen klang die Stimme Wolffs ganz fern und klein. Um jede Kleinigkeit kümmerte sich der General. Er gab mit kühler, klarer Stimme Anordnungen – schließlich aber war alles erledigt. Bitte morgen um einhalb acht um telephonischen Anruf. Schluß und gute Nacht!

Augenblicklich vertiefte sich der General wieder in die Aktenstücke, ohne aufzublicken. Ja, nun waren sie alle erledigt. Nochmals breitete er die große Karte über den Schreibtisch. Staubecken, Überschwemmungsgelände, natürliche Hindernisse – es mußte schließlich noch in letzter Stunde gelingen, den Riesenkörper der Armee rückwärts zu leiten. Vielleicht verführte ihn der gegenwärtige Zustand seiner Nerven zu einer allzu pessimistischen Beurteilung der Lage.

Der General war noch in voller Uniform, er hatte sich nicht umgekleidet. Und immer noch rauschte draußen der Regen.

Auch die strategische Betrachtung war nun abgeschlossen. Er warf noch eine Anzahl Notizen auf den Block, für morgen. Ja, nun war alles Dienstliche erledigt. 410

Ohne jede Unterbrechung, voller Hast, begann der General plötzlich einen Brief aufs Papier zu werfen.

Während des einstündigen Telephongespräches, während er die strategische Lage analysierte – immer hatte er nur an diesen Brief gedacht, um die Wahrheit zu sagen. Er hatte ihn völlig im Kopfe entworfen, und nun rasch, rasch, um die Sache zu Ende zu bringen.

Ein Vermögen . . .

Nun – das war ja schließlich das wenigste!

Aber schon fühlte er Unruhe. Gemurmel in den Ohren, Stimmen, die von innen heraus kamen, nicht von außen her, und absurde Worte raunten. Sein Herz schlug, es pochte in der Brust, im Kopf, in den Armen, im Schenkel. Die Wände klafften, das starre Auge blickte durch die Spalten in die schwarze Finsternis, leer, tot, kalt und unendlich wie der Raum zwischen den Sternen. Erschauernd schob er den Schreibtisch weit von sich und sprang auf.

Licht!

Lauten Schrittes, absichtlich ging er ganz laut, wanderte er durch die Zimmer. Er sprach abgerissene Worte vor sich hin, lachte mit geschlossenen Zähnen.

»Wie? Wie? Freundschaft – Treue – Glauben – wie?«

Grau sein Gesicht. Er vermied es, in die Spiegel zu blicken – aber doch, ohne es zu wollen, sah er immer wieder ein graues Gesicht durch die Spiegel wandern. Er schlich dahin, gebeugt, scheu, verfolgt. Geflüster kroch über die Wände, die toten Dinge begannen sich zu winden, das Licht blinzelte.

Im Salon hing sein Porträt, gemalt kurz vor dem Kriege. Von einem Schützling von – ihr! Aus Gefälligkeit hatte er sich malen lassen, er gab sonst nichts auf moderne Malerei. Früher war er jahrelang Mitglied eines Kunstvereins gewesen, dem hoher Adel und Grundbesitz angehörte, man zahlte zwanzig Mark Jahresbeitrag und erhielt dafür jedes 411 Jahr irgendein Kunstblatt. Längst war er ausgetreten, aber da sie es gewünscht hatte –

Die Hände auf das Schwert gestützt, hatte ihn der Künstler dargestellt. Das Gesicht war kantig, hart, entschlossen. Trotz der angegrauten Schläfen blühend von Gesundheit und Kraft. Der Blick voller Festigkeit und Ziel. Vielleicht ein bißchen geschmeichelt das ganze Bild.

Trotzdem, diese letzten vier Jahre waren wie ein Jahrzehnt.

Grau und erdig sah er sein Gesicht durch die Spiegel gleiten, obgleich er es vermied, hinzusehen. Auch sein Rücken, die Linie seines Rückens – sie schien ihm gebogen zu sein, obgleich er nicht hinsah, sondern den Blick abwandte.

Dieselben Hände, die in kraftbewußter Lässigkeit auf dem Schwertknauf ruhten, sie waren heute die Hände eines alten Mannes. Die Haut hatte eine fahle Färbung, die Adern auf den Handrücken waren geschwollen.

Ja, kaum war er den Hauptmannsjahren entwachsen – und schon war er alt! Und doch sah er sich noch als Leutnant vor sich! Seine für damalige Verhältnisse etwas stutzerhafte Uniform. Und doch sah er sich noch als Kadett vor sich, ganz deutlich, mit dem kleinen Seitengewehr und der altmodischen hohen Mütze.

Seit seinem zehnten Lebensjahre trug der General das farbige Tuch. Zivilkleidung hatte er nur höchst selten getragen, vielleicht einmal einen Jagdanzug auf dem Lande.

Mit zehn Jahren war er Kadett, mit achtzehn Leutnant, dann Hauptmann, dann Major, Oberstleutnant, Oberst, Regimentskommandeur. Im Sturmschritt hatte er alle Ränge durchlaufen – aber es schien ihm, als sei er eigentlich immer der gleiche gewesen, nur mit verschiedenen Rangabzeichen versehen. Seine Welt, seine Weltanschauung, seine Auffassung von Dienst, Vorgesetzten, Pflicht, Religion, Vaterland – sie hatten sich nicht geändert. Der Leutnant der gleiche wie der General. 412

Er war eigentlich nie jung gewesen, auch als Kadett nicht, nein. Nie jung, und schon wurde er alt!

Er drehte im Salon das Licht aus, um nicht mehr das zuversichtliche kraftstrotzende Gesicht des Offiziers mit den Ordenssternen sehen zu müssen – jugendlich trotz der angegrauten Schläfen.

Ja, ja, ja – keine Beschönigung, Mut! Otto, sein Sohn – ein Ehrloser! Er hatte ja seinerzeit im Frühjahr, als diese Geschichte mit der Hand passierte, sofort gewußt, ja, gewußt, augenblicklich und instinktiv, worum es sich in Wahrheit handelte! Aber er hatte nicht gewagt, es zu glauben. Offizier – ein Hecht-Babenberg – und doch! Ja, nun wußte er alles . . .

Der General kehrte wieder zum Schreibtisch zurück.

Ja, ein Vermögen, diese Frau – in der Tat, Rothwasser . . . Ihre Augen strahlten Reinheit, Treue, Unschuld. Es gab niemand, dessen Lachen und Stimme allein ein solches Maß von Vertrauen erweckte! Ihre Offenheit, ihre kindliche Naivität, ihre Unbefangenheit und Harmlosigkeit, unmöglich, gänzlich unmöglich – er hätte die Hand für sie ins Feuer gelegt.

Daß ihn seine Menschenkenntnis so trügen konnte!

Nein! Er legte die Feder weg. Schweigen, Schweigen – nichts sonst . . .

Plötzlich horchte er betroffen auf. Eine Stimme!

Diese Stimme?

Langsam und heiß stieg ihm das Blut in den Kopf. Die Adern an den Schläfen zuckten.

Ottos Stimme! Er rief nach dem Burschen.

Wollte er ihn herausfordern, der – Infame? Der General sprang auf. Mit zuckenden Schläfen stürzte er zur Türe . . .

In der Tat, Otto war gekommen, wie er zuweilen kam, seitdem er im Westen wohnte, um irgend etwas abzuholen, Bücher, Wäsche. Er kam zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann es ihm gerade beliebte, und knallte ohne Rücksicht 413 mit den Türen. Jetzt war er gekommen, um einen Gummimantel zu holen. Er brauchte ihn, da es noch immer in Strömen regnete.

Dies war der eigentliche Grund seines Besuches. Der zweite Grund aber war, ganz offen gestanden, daß er dem General seine Furchtlosigkeit beweisen wollte. Nein, er hatte keine Furcht vor einer Begegnung, nicht die geringste. Aus diesem zweiten Grunde schrie er auch etwas lauter, als es eigentlich nötig war. Sein Zimmer hatte er absichtlich offen gelassen. Jeden Augenblick konnte die Türe gegenüber aufspringen – nun, er war gewappnet. Seine hellen verwegenen Augen waren auf eben diese Türe geheftet, die sich jeden Augenblick öffnen konnte. Er war bereit, die Konsequenzen zu ziehen – zu allem war er bereit. Papa sollte nie und nimmer auf den Gedanken kommen, daß er sich feige in eine Ecke verkrieche.

Aber nichts regte sich hinter dieser Türe, die zu den Zimmern Papas führte. Wahrscheinlich hatte er sein Kommen gar nicht wahrgenommen.

Der General – er war nicht weiter als bis zu eben dieser Türe gekommen. Sein Herz pochte so stark, daß er sich festhalten mußte. Keuchend und bebend stand er im dunkeln Zimmer, seine Beine zitterten.

Ein Schritt noch – und etwas ganz Furchtbares, etwas unsäglich Grauenhaftes würde geschehen . . .

Sein eigenes Blut hatte sich gegen ihn erhoben!

Die Türe öffnen – und schon, schon würde es geschehen, das Gräßliche – Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater – bis zur Vernichtung – das Grauen noch der Ururenkel, ewige Schändung des Namens, Schändung des Geschlechtes, Schändung der Schöpfung. Schon begann die Finsternis des Zimmers zu flammen.

»Wo sind meine Handschuhe, Jakob?« rief Otto.

Dann pochte er an Ruths Türe, und der General hörte die beiden plaudern, ohne zu verstehen, was sie sagten. 414

Fünf Schritte waren zwischen ihnen, zwischen ihm und seinen Kindern, der Korridor. Aber dieser Korridor war ein Abgrund, unergründlich wie die Mysterien des Blutes.

»Dann gute Reise, Ruth!« rief Otto und schloß Ruths Türe.

Ja, in der Tat, ein Abgrund, schauerlich und bodenlos wie das tausendfach unergründliche Schicksal selbst.

Die Haustüre krachte ins Schloß. Otto war gegangen.

Dank dem Himmel! dachte der General, während er heftig zitterte.

Immer noch stand er, die Dunkelheit lohte, immer noch keuchte er, und das Zittern seiner Beine wurde stärker mit jeder Minute.

Ja, nur ein Schritt, ein kleiner Schritt, und es wäre geschehen. Das unsagbar Gräßliche. Das keine Macht der Welt hätte wieder auslöschen können, selbst die Allmacht Gottes nicht.

Es war geschehen, das unsagbar Grauenhafte!

Der General sah seinen Sohn erwürgt auf der Diele liegen.

Zitternd am ganzen Körper sank er in einen Sessel; der Schweiß brach aus seiner Stirn.

 

Otto aber eilte im strömenden Regen quer durch den stockfinstern Tiergarten. Zu Ströbel!

Lustige Kumpane, ein Fest heute, Wein, Spiel. Wie albern, diese kleinlichen Bedenken, die ihn bisher von Ströbels Haus ferngehalten hatten!

In förmlichen Wasserhosen verschwand die Straße, wo Ströbels Haus lag, aber ein wohlbekannter Lichtschein, wie der Schein eines Leuchtfeuers, zeigte den Weg.

Otto pfiff, den vereinbarten Pfiff, er klatschte in die Hände. Das erleuchtete Fenster öffnete sich, und ein Schatten neigte sich heraus.

»Wer ist da?« Es war Hedis Stimme. 415

»Ich bin es«, antwortete Otto mit heller und lauter Stimme. »Ihr habt doch Gesellschaft heute?«

Der Schatten trat zurück. Erst nach einer Weile wurde Hedis Stimme wieder hörbar.

»Sie sind es?« sagte sie stockend. »Nein, die Gesellschaft wurde abgesagt, Ströbel ist verreist!«

»Sie? Seit wann sagen wir Sie zueinander?« sagte Otto lachend. Er konnte Hedi nur undeutlich erkennen, durch Büsche hindurch, an denen das Wasser herabrann. Das erleuchtete Fenster ging auf einen kleinen, dichtbewachsenen Garten hinaus.

Wieder zögerte Hedis Stimme. »Es ist völlig nebensächlich,« sagte sie, »aber lassen wir es dabei. Er mußte unerwartet in Geschäften fort, und der Abend wurde verschoben.«

»Schade! Sehr fatal!«

Der Regen prasselte auf Ottos Mantel, Ströme von Wasser wirbelten um seine Füße. Selbst aus dem Boden sprangen Bäche.

»Ja, leider«, sagte Hedi und schickte sich an, das Fenster zu schließen. »Gute Nacht.« Der Regen verschluckte ihre Stimme.

»Einen Augenblick –« beeilte sich Otto, und die Fensterflügel blieben halb offen stehen. »Ich bin durch diese Sintflut gewatet, in der Erwartung, fröhliche Menschen zu finden –«

»Das ist sehr bedauerlich«, sagte Hedi spöttisch.

Otto lachte belustigt auf. »Sehr bedauerlich? Hören Sie, Hedi – oder höre, Hedi – ich finde es töricht, Sie zu dir zu sagen – halte du es ganz wie du willst – ich hatte gerade heute das Bedürfnis, Freunde zu sehen – sei nett und lieb, öffne und koche etwas Kaffee. Ich bin völlig durchnäßt.«

»Ich bin ganz allein.«

»Ist das ein Grund –?« Eigentümlich war der Tonfall dieser Frage. 416

Hedi antwortete nicht sogleich. Er fühlte ihren Blick.

»Gehe doch zu ihr!« sagte sie dann. Aber sie schloß das Fenster nicht.

Otto stockte.

»Ich komme soeben von ihr!« sagte er hierauf. Diese Antwort war sehr kühn, und er wußte genau, daß er alles aufs Spiel setzte. Aber er hatte seiner Stimme einen gleichgültigen und gelangweilten Klang gegeben.

Schweigen. Der Regen rauschte.

»Lebst du glücklich mit Ströbel?« begann Otto von neuem, in völlig geändertem, vertraulichem Tone.

»Was für eine Frage? Was kümmert es dich?«

»So öffne doch, Hedi, und wir werden etwas plaudern.«

Hedi schwieg. Nach einer Weile sagte sie, leise und bebend: »– Ich öffne!«

Kaum aber hatte Hedi die Türe aufgeschlossen, so riß Otto sie an sich und vergrub seine Lippen in ihren Hals.

Sie stammelte.

 


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