Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

1.

Der Tag graute, und noch immer schwang der gleißende Lichtgürtel um Berlin.

Vor wenigen Wochen, im Januar, lagen die blendenden Fabrikpaläste der Vorstädte plötzlich einige Nächte lang dunkel da. Die eisernen Tore blieben geschlossen, die Räder standen still, die Kesselfeuer waren erloschen. Hunderttausende von regsamen Händen, wo waren sie? Was war geschehen?..

Streik, mit einem Wort. Streik, jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo man die Vorbereitungen traf für die letzte große Anstrengung, die den Sieg bringen sollte. Das englische Gold rollte – der General behauptete es – das englische Gold rollte durch die Straßen Berlins, Millionen und abermals Millionen. Scharen von Agenten waren von Albion ausgesandt worden, um die Front der Heimat zu unterminieren. Es wimmelte von Spitzeln und Spionen. Man klebte Zettel an die Häuser, Laufzettel gingen durch die Fabriken – das englische Gold war allmächtig.

Es kam zu Zusammenrottungen – da draußen. Patrouillen streiften durch die Stadt, Schwärme von Berittenen mit Karabinern, Maschinengewehre waren auf den Dachböden aufgestellt, da und dort – sollten sie nur kommen – von da draußen! Halbwüchsige Burschen zogen über die Linden und pfiffen. Aber die Schutzleute stürzten aus den Häusern und ohrfeigten sie.

Straßenbahnwagen wurden umgestürzt. Durch die Stadt fuhren reihenweise Wagen mit eingeworfenen Fensterscheiben. Das englische Gold hatte es weit gebracht.

Die Streikenden sandten einen Ausschuß, um zu unterhandeln. Aber der Minister – plötzlich machte er sein Rückgrat steif – lehnte ab, weigerte sich – bitte recht sehr. 92 Er forderte gesetzlich zulässige Vertreter. Er witterte eine Ungebührlichkeit, etwas, was überhaupt noch nicht dagewesen war, das sich erkeckte, zu rütteln, an den Grundpfosten zu rütteln . . .

Die Streikenden forderten Brot, und die Regierung versprach.

Die Streikenden forderten – sie deuteten es nur an, aber es ging aus ihrer ungesetzlichen, hochverräterischen Haltung deutlich hervor . . . Es schien ihnen an der Zeit, nachzudenken. Herzogshüte und Königskronen sollten vergeben werden, da und dort, an alle möglichen Vettern, nun gut, wenn es Vergnügen machte, aber es schien ihnen doch an der Zeit, mit dem Überlegen zu beginnen. Der letzte Kupferkessel war dahin, beschlagnahmt aus der Küche des armen Weibes, die Lokomotiven brachen auf der Strecke zusammen, in den Kasernen exerzierten Knaben und Krüppel. Schließlich war Amerika immerhin eine Macht, mit der man rechnen mußte, auch wenn es nicht imstande war, Flugzeuge zu bauen und, wie man schwarz auf weiß nachgewiesen hatte, unmöglich ein Heer über den Ozean schaffen konnte. Trotzdem. Die deutschen Truppen standen in Finnland, im Kaukasus, in –

Nein, sie sprachen es nicht in klaren Worten aus, aber sie wollten doch ganz bescheiden darauf hinweisen, daß es eigentlich an der Zeit sei –

Aber gerade das, hm, verletzte den Minister. Er witterte –

Endlich nahmen die Generale die Sache in die Hand, und im Handumdrehen war der Streik zu Ende. Man brauchte nur etwas zuzugreifen und sofort ging es. Die Generale waren für individuelle Behandlung. Wer ein Gewehr tragen konnte, wurde in die Schützengräben verbannt, andere wanderten ins Gefängnis und einige ins Irrenhaus. Die eingeschlagenen Fensterscheiben der Straßenbahnwagen wurden durch neue ersetzt – nichts war geschehen. Nichts blieb zurück als ein leises, 93 unterirdisches Grollen, unhörbar für Ohren, die aus Greisenschädeln wuchsen.

Obwohl der Streik nur wenige Tage gedauert hatte, sprach der General die Möglichkeit aus, daß dadurch der Sieg gefährdet sein konnte – konnte, nur eine Möglichkeit . . .

Das war also im Januar gewesen. Nun aber regten sich wieder Tag und Nacht die ungezählten Hände, zerfressen von dem schlechten Öl, das von den Drehbänken spritzte und die Ölkrätze hervorrief. Die Feenpaläste schwammen wieder strahlend in den Nächten, der Lichtgürtel flammte wieder um die Riesenstadt. Und im grauen Morgen, zur Zeit des Schichtwechsels, rollten wie früher die Züge überfüllt mit Menschen, als sei nichts geschehen. Hunderte von gelben Gesichtern in jedem Abteil, Hunderte von gelben Gesichtern auf den Trittbrettern, auf den Dächern, überall. Und die bleichen, übernächtigen Mädchen, die die Patronen packten, kreischten und schrien.

Auch an diesem grauen Morgen rollten ganz wie sonst zur Zeit des Schichtwechsels die Züge mit den gelben und todbleichen Gesichtern. Hustend und frierend hasteten Kleiderbündel durch die Straßen der Vorstädte, voller Angst, rechtzeitig die Kontrolle der eisernen Tore zu passieren. Der Westen der Stadt lag noch in tiefem Schlaf, die Wächter, die den Schlummer der Reichen bewachten, gähnten.

Auch an diesem Morgen rollte mit der Minute der bekannte Zug nach der Westfront. Eine Leiche sah auf den Bahnsteig, suchte, pfiff sogar etwas – die Leiche – es war Hauptmann Falk.

Wo bleibt denn dieser Knabe? Aber Otto kam nicht, und Hauptmann Falk zog das Fenster hinauf, hüllte sich in den Mantel und schlief augenblicklich ein, bevor der Zug die Station recht verlassen hatte.

Die Feuerwalze war auf der Heimreise. – 94

Der Tag dampfte über den Kartoffeläckern und Rübenfeldern im Osten von Berlin, und graue Wolken schleppten sich über die Laubenkolonien zwischen den roten und gelben Backsteinmauern der Vorstädte, über die Halden mit Bauschutt, Papierfetzen und verbeulten Eimern. Hinter den grauen Wolken aber kam ein Funke! Der Funke leckte feurig einen Wolkenrand und ein Blitz blendete hervor. Da begannen die gelben und roten Backsteinmauern der Vorstädte zu blühen, die Fensterscheiben funkelten, das Millionenauge der Riesenstadt blitzte. Die Trompeten in den Kasernenhöfen schmetterten, und Tausende von Männern erhoben sich von den elenden Lagern.

Ein Lichtbüschel züngelte mitten durch das Fenster einer Mietskaserne im Nordosten Berlins – einer grauen, mürrischen Mietskaserne, über deren Fassade sich die Riesenaufschrift »Leihhaus« erstreckte – und blendete in ein aufgeschlagenes Buch. Dieses Buch lag auf einem kleinen Tisch dicht am Fenster des armseligen Zimmers. Das Buch flammte, Feuer schlug heraus: es war die Bibel!

Eine Hand hatte Verse angestrichen, und diese Verse brannten unter dem Lichtstrahl:

»Und die Könige auf Erden, und die Obersten, und die Reichen, und die Hauptleute, und die Gewaltigen, und alle Knechte, und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen.«

»Und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns, und verberget uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes.«

»Denn es ist kommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?«

Da glühte das ganze Buch, flammte auf und brannte.

Neben dem Buch stand eine kleine Schreibmaschine veralteten Systems. An der Türe des kleinen Zimmers hing ein großer, weiter, grauer Soldatenmantel.

Nun trat ein junger Mann ins Zimmer, und während 95 er in den Mantel schlüpfte, fielen seine Blicke auf die aufgeschlagene Bibel, die im Lichtstrahl flammte.

»Auch die Apokalypse gibt keine Deutung!« sagte der junge Mann kopfschüttelnd, mit rasenden Augen, und schloß das Buch. Sofort erlosch es, schwieg es, wurde es stumm.

»Diese apokalyptischen Reiter – sie sind Schemen. Das Blut stieg bis an die Zäume der Pferde – er sollte es mit eigenen Augen sehen – die Pferde versinken im Blut!«

Da aber traf der Lichtstrahl ihn mitten ins Herz. Er fuhr zusammen, seine rasenden, dunkeln Augen richteten sich ins Licht und flammten in seinem bleichen Gesicht.

Er sah nicht die Schutthaufen mit den Papierfetzen und rostigen Eimern, nicht die Lauben mit den schwarzen Lumpen auf den Dächern: er sah das Licht, das sich zwischen düsteren Wolkensäumen durchfraß und die Herrschaft über die Dunkelheit an sich riß.

Seine Finger berührten das heilige Buch, zuckten.

»Ich glaube! Ich glaube!« schrie er dem Licht entgegen.

 


 << zurück weiter >>