Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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7.

Nein, es ging nicht mehr. An einem Sonntagnachmittag schickte der General den Wagen wieder fort. Es geschah zum ersten Male seit Monaten. Vor Erschöpfung sank 396 er um. Augenblicklich fiel er in Schlaf, und er schlief, röchelnd und stöhnend, den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein.

Als er wieder erwachte, war das Zimmer voll schwerer Dunkelheit. Verstört fuhr er auf. Sein Kopf war dumpf, glühendheiß. Der Schweiß rann über sein Gesicht.

Zehn Uhr! Sollte man es für möglich halten? Sieben volle Stunden hatte er geschlafen! Ein Unbehagen war aus dem Schlaf in ihm zurückgeblieben – etwas Schweres, Bleischweres – was war es doch? Hatte er geträumt? Das Haus war heiß wie ein Backofen, unerträglich. Er machte sich rasch zum Ausgehen fertig.

Auf der Treppe stockte plötzlich sein Schritt. Die Stiefelspitze zuckte zurück, als habe er auf der Stufe irgendein ekelhaftes Insekt bemerkt. Ja, ein häßlicher Traum, in der Tat, widerwärtig! Das Siegesgespann auf dem Brandenburger Tor – es war herabgestürzt, und sein Auto war von dem Trümmerhaufen, den Gaffer umstanden, aufgehalten worden. Welch ein Chaos und diese aus den Trümmern vorstehenden Pferdebeine! Und der Trümmerhaufe hatte sonderbarerweise fast den ganzen Pariser Platz bedeckt, ein förmlicher Berg –

Auf der Straße war die Luft herrlich und erfrischend – schon etwas herbstlich. Es mußte kurz vorher geregnet haben, das Pflaster war noch feucht. Über den Tiergarten flog rasch der Mond dahin, umwirbelt von kleinen Wolken, wie in einem Schneegestöber. Eine Droschke, ein paar Spaziergänger, tiefe Ruhe.

Der General ging langsam dahin und atmete die Frische des Abends ein. Bald hatte er auch das Unbehagen überwunden, das aus dem widerwärtigen Traume zurückgeblieben war. Er fühlte sich durch den langen Schlaf erfrischt, die abgehetzten Nerven waren ruhiger geworden. Die Gedanken gehorchten.

Er nickte vor sich hin. Klar stand es vor seinen Blicken, 397 unheimlich klar, erschreckend klar. Es war gar nicht erst nötig, daß dieser Wunderlich kam und ihm noch diese fürchterlichen Fingerzeige gab. Nein. Er blieb stehen.

»Napoleon hatte wenigstens den Winter als Entschuldigung für sich«, raunte er vor sich hin, voller Verachtung.

Nun ging er wieder einige Schritte und nickte: »Sie lassen sich schlagen – regelrecht schlagen!« Ja, das war es.

Hatte er nicht immer gewarnt?

Diese ganze Offensive – glatter Wahnwitz! Unvermeidlich große Verluste, eine unsinnige Verlängerung der Front – keines der strategischen Ziele erreicht, der Angriff immer mehr nach Süden abgeglitten. Der Durchstoß zum Meer, die Abdrosselung der englischen Armee – alles mißglückt. Und was hatten sie, die Frage war wohl erlaubt, abermals an der Marne zu suchen gehabt? Eine Riesenausbuchtung der Front, gespeist von einer einzigen schwachen Bahnlinie. Wie? Weshalb? Unverständlich!

Aber selbst wenn diese verfehlte Offensive gelungen wäre, angenommen – was dann? Sie hatten ja nichts mehr in der Hand – nichts mehr, um den Erfolg auszuwerten. Die andern dagegen: Amerikas unerschöpfliches Reservoir an lebendem und totem Material, kaum angebrochen –

»Ja, schlagen, diese Gottähnlichen –!«

Würde man ihm heute ein Frontkommando anbieten – danke, danke ergebenst . . .

War er nicht immer dafür eingetreten, zurückzugehen auf befestigte Stellungen, zur Maas, zum Rhein, wenn es sein mußte, und den Feind anlaufen zu lassen? Millionen hätten sie noch opfern müssen! Jahrelang konnte man sich halten, und eine ungeheure Manövrierarmee war frei für politisch-militärische Aktionen in Italien, Mazedonien, der Türkei.

Plötzlich aber blieb der General verwundert stehen:

Licht? Bei Dora Licht?

In seine Gedanken versunken, war er bis zur roten Backsteinvilla gegangen, ohne jede Absicht. 398

Er sollte den heutigen Abend eigentlich bei Dora verbringen, aber sie hatte ihm gestern abgeschrieben, da sie aufs Land reisen wollte.

Erfreut, Dora zu Hause zu wissen, trat er ein. Seine Sorgen, die Gedanken, die ihn folterten, das Gefühl der Einsamkeit, das ihn marterte in letzter Zeit –

Die Haustüre stand offen. Niemand war in der Diele, das Licht brannte.

»Petersen!«

Aber niemand kam. Stille.

Aus der oberen Etage, die dunkel lag, klang ein sonderbarer Ton. Wie das Klagen eines Vogels, der immer den gleichen hilflosen, wehmütigen Schrei ausstößt, ein gefangener Vogel, der den Tod fühlt und nur noch einen Klagelaut hervorbringen kann. Eine Geige. Es war Hauptmann v. Dönhoff, der zurzeit hier Wohnung genommen hatte – bis er etwas Geeignetes fand. Zweihundert schöne Frauen, zwei Elefanten und ein Nashorn – und jetzt trug er also eine schwarze Brille und fing an, die Geige zu lernen. Er übte von früh bis nachts.

Der General legte ab und öffnete die Türe, die zum Zeltzimmer führte.

Auch in dem kleinen Vorraum brannte Licht. Der verzückte Heilige in seinem zinnoberroten Rock schwang mit rasender Gebärde sein Buch – ein blinder Spiegel – der General schlug den Vorhang zur Seite – auch im Zeltzimmer war Licht, die blaue Deckenampel brannte. Aber niemand war zu sehen.

Da hörte er Doras Lachen und eine Männerstimme.

Er schrak zusammen. Hatte sie Gäste? Wer war hier? Es war wohl besser, wieder hinauszugehen und Petersen zu suchen. Vielleicht war er im Garten? Ja, wo war er eigentlich, dieser Petersen, das Haus offen, jeder Einbrecher konnte hereinkommen.

Fern, ganz fern klang das monotone Klagen des 399 unglücklichen, gemarterten Vogels, der seinen Schmerz in dem ewig gleichen Ton ausdrückte.

Der General war verwirrt. Es fiel ihm schwer, einen Entschluß zu fassen. Schließlich – hatte Dora Geheimnisse vor ihm? Plötzlich erinnerte er sich all der kleinen Widersprüche, der unbedeutenden, gänzlich unbedeutenden Begebenheiten, die ihn zuweilen, besonders in letzter Zeit beunruhigt hatten. Sie war also nicht auf dem Lande, und doch schrieb sie –

Ja, schwer einen Entschluß zu fassen. Wie viele Gäste mochten es sein?

Er roch den Duft von brennendem Reisig. Dora liebte es, mit Feuer zu tändeln und Reisig und Tannenwedel im Kamin zu verbrennen.

Schweigen da drinnen. Das Feuer knisterte – der Feuerschein flackerte über den Boden, und der Vogel klagte in der Ferne.

Der General wandte sich zum Gehen – aber da, gerade in dem Augenblicke, da er den Fuß rückte, um hinauszugehen und Petersen zu suchen – gerade in diesem Augenblick fesselte etwas seine Aufmerksamkeit im höchsten Maße: in der lichten Spalte des Vorhangs, neben dem bauschigen schwarzen Kissen, das auf dem Teppich drinnen lag – erschien ein himbeerfarbener kleiner Seidenpantoffel.

Er hypnotisierte den General. Dieser kleine Seidenpantoffel bewegte sich, als sei er lebendig – ein Fuß wurde sichtbar, ein Knöchel . . . trug sie fleischfarbene Seidenstrümpfe, oder was war es?

Nun erschien eine Hand, eine volle, gepflegte Hand, Doras Hand, und diese Hand warf mit einem kleinen Schwung eine angerauchte Zigarette in die Richtung des Kamins. Wieder bewegte sich der kleine himbeerfarbene Seidenpantoffel. Der Saum eines hellroten durchsichtigen Gewandes wurde sichtbar – 400

»Das ist ganz unmöglich!« sagte Dora laut und offenbar etwas ärgerlich. »Ich bitte dich, gewisse Rücksichten –«

»Rücksichten?« lachte eine Männerstimme. »Es ist töricht, ewig Rücksichten zu nehmen, Dora!«

Diese Stimme! Der General erbleichte.

Da knurrte ein Hündchen. Butzi, der Griffon, war erwacht und knurrte.

»Schweig!« sagte Dora.

Aber Butzi schwieg nicht. Im Gegenteil, er begann plötzlich mit heller Stimme wütend zu kläffen.

Der himbeerrote Seidenschuh verschwand.

»Ist jemand da? Komm, Butzi, Liebling.«

»Wer soll da sein?«

Der General wich zurück. Er war wie gelähmt. Aber trotzdem wich er zurück. Doch schon war es zu spät. Jemand stand auf, ein Schritt näherte sich, lautlos –

 

Ja, es war zu spät! Der lautlose Schritt war nun ganz nahe. Und eine Hand raffte den Vorhang auf.

Der General wich noch einen Schritt rückwärts, soweit ihn seine gelähmten Glieder trugen. Er rang nach Luft, die Uniform schnürte seine Brust ein – plötzlich hörte die Geige in der Ferne auf zu klagen.

Im Vorhang erschien –

Ja, was erschien da?

Es erschien eine, hochaufgerichtet, eine im ersten Moment übersinnliche Erscheinung, gleißend wie Luzifer. Ein orientalischer Priester, wenn man will, in einen gleißenden, feuergelben Gewand, über das grellrote Drachen züngelten. Mit bleichen Armen und einem bleichen bläulichen Gesicht mit schneeweißen Augen. Hochaufgerichtet. Otto.

Luft – der General faßte sich. Er hatte die Stimme ja 401 sofort erkannt. Auch er richtete sich auf, wuchs in die Höhe und blickte in diese schneeweißen Augen.

Es waren die Augen seines Sohnes, mehr noch, es waren die hellen Augen der Hecht-Babenberg.

Diese Augen waren im ersten Augenblick erschrocken, sofort aber sammelte sich der Blick in ihnen. Sie wuchsen, und ein kalter Glanz stieg aus ihrer Tiefe.

Diese Augen sprachen, und er verstand ganz deutlich, was sie sagten! Sie glänzten verächtlich.

Du?

Du hier? Seht an! Du lauschst? Du spionierst? Ei, seht an!

Sehr interessant. Soll ich dich bei Dora anmelden?

Nun aber wurde der Glanz härter, kälter, eisig.

Gut! Nun weißt du es! Was willst du noch? Gehe!

Ja, gehe! sagten sie, diese Augen.

Und nun blendeten sie plötzlich.

Du kennst meine Gefühle für dich, oder? – Du weißt es – lange, lange! Ich ziehe die Konsequenzen, wenn du willst – ich stehe zur Verfügung – jederzeit . . .

Ja, das sagten also Ottos Augen – oder täuschte er sich?

Der Vorhang floß über einem nackten Arm zusammen: die Erscheinung war verschwunden.

»Niemand ist hier!« sagte Otto in gleichmütigem Ton, hinter dem Vorhang, und Dora rief das Hündchen, das immer noch kläffte, abermals zur Ruhe.

Eine – zwei – drei Sekunden lang hatten die beiden Hecht-Babenberg die Blicke gekreuzt. Nicht länger.

Mit rasender Gebärde schwingt der Heilige im roten Rock sein Buch. Durch den blinden Spiegel gleitet ein Gesicht, wie aus Kreide geschnitten. Jemand tastet sich durch die Diele, eine schwarze Hornbrille auf der Nase – richtet einige Sekunden die schwarzen Gläser auf ihn – oder war es ein Gespenst? 402

 


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