Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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7.

Ja, die Tochter des Generals selbst hatte ihn in diese Küche geführt – sehr einfach – obwohl er nie ein Wort mit ihr gesprochen hatte . . .

Hinab die Friedrichstraße segelte der Havelock mit dem steifen Hut. Es sah aus, als schwimme er, aufrecht stehend, 118 so unmöglich das ist. Er trippelte und schlürfte, die Knie etwas eingebogen, die linke Schulter eine Kleinigkeit geneigt. Seit gestern morgen war er unterwegs, hatte nur auf einer Bank im Tiergarten ein kleines Nickerchen getan, im Regen – nun fühlte er seine Beine und Füße nicht mehr.

Ohne jede Anstrengung glitt er vorwärts, es ging von selbst. Er rollte auf einer kleinen Wolke dahin, nicht größer als ein gefüllter Kartoffelsack. Zuweilen spürte er sie wie Teig unter den Sohlen. Er konnte auf dieser kleinen Wolke auch ausbiegen, nach links, nach rechts, ohne jede Mühe –

Ja, sie selbst – seine Tochter, das gnädige Fräulein.

Er stand da bei einem Zigarrenladen, mitten in dem Zug von gierigen Rauchern, die warten, bis geöffnet wird, und die Zigarren steigen im Preise, während sie warten. Das ist Tatsache! Da stand er also und sprach mit einem Soldaten, Kraftfahrer. Dieser Kraftfahrer kannte nicht die Höhe von Quatre vents, er kannte nicht Roberts Bataillon, das am 5. August stürmte, aber er kannte den Chauffeur des Generals, Schwerdtfeger mit Namen, und der General war seit vier Wochen nach Berlin kommandiert! Wie? Hier? Welch ein Zufall! Wieviel hundert Soldaten hatte er angesprochen, und nun führte ihm Gott diesen Kraftfahrer in den Weg!

Er war hier? Hier! Schlaflos die Nächte, ruhelos die Tage.

Ja! Dieses Gesicht –!

Dieses schweigende Gesicht, das nie sprach, diese Augen, die man nie sah! Dieser Gang – und der tiefe Bückling des Portiers! – ohne jeden Zweifel: er war es! Robert hatte ja ausführlich aus dem Felde geschrieben: Wir marschierten vorüber, und unser General stand auf der Treppe seines Schlosses und grüßte. Er und kein anderer! Wie aus einem Felsen gehauen . . . schrieb Robert. Das also war er, den die Soldaten – nun, besser, das Wort nicht 119 auszusprechen – nannten! So sahen die aus, die befahlen: Nur über unsere Leichen führt der Weg zur Höhe! – Die Briefe Roberts knisterten in seiner Tasche.

Tagelang verfolgte ihn das Steingesicht durch das Labyrinth der Straßen.

Sonderbares Gesicht aus Stein. Es zog an!

Jeden Mittag schoß das graue Auto in die gleiche Richtung – schon zwei Tage später stand der Havelock vor Stifters Diele. Und plötzlich grüßte er, und der General hob die Hand zur Mütze. Weshalb? Weshalb grüßte er, er hatte eine Sekunde vorher gar nicht daran gedacht, daß er den General grüßen könnte – grüßen durfte. Es war gewiß anmaßend, unhöflich. Nach drei Tagen – er hatte nichts zu tun, gar nichts, Rentier Herbst – nach drei Tagen schon wußte er, wo der General wohnte.

Dieses Haus – Sie erlauben wohl – kannte er ganz genau, jedes Fenster und die kleinsten Risse in der grauen Mauer. Das Haus erschien ihm im Traum – als ein Gesicht aus grauem Stein. Er kannte auch das efeubewachsene Backsteinhaus mit dem Messingschild: Dönhoff. Er kannte den Zebrakittel, Petersen – alles liebe Menschen, gesprächig –

 

Der Havelock rollte auf seiner kleinen Wolke über den Belle-Alliance-Platz, unter der Hochbahn hindurch, die Blücherstraße hinab.

Hier glitt er an einem schmalen, gelben Hause einigemal hin und her, blickte nach oben zur dritten Etage, wo die Rolläden herabgelassen waren. Dieses Haus, diese Etage schien ihn ungemein zu interessieren – anzuziehen, abzustoßen . . .

Seine Schultern krümmten sich zusammen, er ächzte, plötzlich fühlte er die Last wieder, die ihn zu Boden drückte, die er ewig mit sich schleppte durch die endlosen steinigen Straßen Berlins. 120

Dann aber wandte er entschlossen um und rollte wieder die Blücherstraße hinauf.

Da aber blieb die Wolke stehen und war nicht mehr vorwärts zu bewegen. Im nächsten Augenblick – schon war er drinnen. Ein Gläschen, noch eines und ein drittes! Schon war er wieder auf der Straße.

Aus dem grauen Hause des Generals, mit den Messingbeschlägen an der Türe, die unausgesetzt geputzt und poliert wurden von den beiden Burschen, war täglich eine junge Dame gekommen. Heute, morgen, jeden Tag. Seht an!

Eine Zigarre gefällig, Herr Soldat. Ein Zigarrchen – immer fleißig, ein schöner Wintertag . . .

Nun kannte er Jakob und Wangel. Mit Jakob kam er öfter ins Gespräch. Außer Ruth war auch noch ein Sohn da, Otto, Oberleutnant, im Felde, und die Frau des Herrn Generals – tot, ja, tot, seit Jahren.

Jeden Tag aber ging das gnädige Fräulein in die Dorotheenstraße und verschwand in einem Torbogen. Schließlich wagte er es, ihr zu folgen. Auf diese Weise hatte er die Küche in der Dorotheenstraße entdeckt.

Täglich konnte er nun seine Tochter, die Tochter des Generals, sehen! Da stand sie, dicht neben ihm – Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blute. Der Haß kochte, die Gelüste nach Vergeltung fraßen . . .

Er beschloß, sie zu beleidigen! Vor allen Gästen! Vielleicht würde er ihr einen Teller vor die Füße werfen, aber so, verstehen Sie, daß er in tausend Stücke zersprang. Weshalb eigentlich? Ja, unerklärlich – hatte sie ihm etwas getan?

Tagelang brütete er, schmiedete er Pläne. Vielleicht würde er einen Teller mit Kohlgemüse über ihre Schürze schütten? Eine herrliche Idee! Aber da ergab sich die Sache ganz von selbst.

Der Havelock blieb stehen und verschnaufte. Ob er in jene Kneipe gegenüber gehen sollte? 121

Ganz von selbst. Eines Tages, ganz unerwartet, fügte es sich, daß sie dicht neben ihm an einem Tische plauderte. Nun aber kam das Schmachvolle –

Heute noch trat ihm der Schweiß auf die Stirn, wenn er an das Schmachvolle dachte, obgleich schon zwei Monate seitdem vergangen waren.

Nicht einen Teller voll Kohlsuppe, nein, sondern nur einen Löffel voll – er nahm ihn und ließ ihn über die Schürze Ruths fließen. Schon aber, Allmächtiger, packte ihn eine harte Hand am Arm, und eine Stimme schrie durchs ganze Lokal: »Wie können Sie es wagen –?«

»Ich – ich – ich zittere mit der Hand –.«

»Nein, deutlich habe ich es gesehen, Sie!«

Der Soldat mit dem weiten Mantel stand neben ihm, voller Zorn. Die Gäste sahen auf, es erregte Aufsehen, ringsum, alle Tische blickten her.

Und der Soldat in dem weiten Mantel schrie ganz laut: »Sie sind mir ein netter Herr. Gießt der Dame einfach einen Löffel mit Suppe über die Schürze –.«

»Meine Hand zittert –.«

Da aber wandte sich Ruth um. Sie besah die Schürze, nahm ihr Taschentuch, und lachte – lachte ihm freundlich ins Gesicht.

»Vielleicht hat man den Herrn angestoßen. Es ist ja nicht schlimm.«

»Ich zittere, meine Hand zittert –.«

»Es ist ja kein Unglück geschehen.«

Schmachvoll, schmachvoll! Er hatte Tränen in den Augen. Wie kam er doch dazu, ganz einfach den Löffel voll Suppe über ihre Schürze zu gießen? An diesem Tage trank er so sehr, daß er schließlich die Treppe hinabstürzte und sich blutig schlug. Aber so geschah ihm gerade recht.

Seit diesem Vorfall blickte er auf die Tochter des Generals mit andern Augen. Sein Herz pochte, sobald er sie erblickte. 122

Er liebte sie, eigentümlich.

Diese Gedanken erfüllten den kleinen alten Mann, während er durch das Labyrinth der Straßen eilte. Er überquerte wimmelnde Plätze, geriet in Strudel von Menschen, die aus der Erde quollen – und plötzlich machte er Miene umzukehren, den ganzen Weg, den er gekommen war, zurückzugehen. Wie? Sollte er in die Lessingallee gehen, heute abend? Nein, nach Hause, ohne Widerspruch, verstanden?

 


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