Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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Zweiter Teil

Erstes Buch

1.

Es soll sich entscheiden, die Stunde ist gekommen. Das Schicksal hat seine fürchterliche Frage gestellt und fordert Antwort. Das Rad der Weltgeschichte kracht.

Wagen fahren vor, und Automobile fliegen heran.

Die Sonne funkelt. Ein Morgen von ungeahnter Herrlichkeit.

Umstellt von einer Meute von Staatsmännern und Generalen in Erz liegt das Reichstagsgebäude und leuchtet in der funkelnden Sonne. Am Westgiebel schimmern die goldenen Lettern: Dem deutschen Volke! Erst vor kurzem wurde diese Inschrift angebracht, als Ausdruck der Allerhöchsten Anerkennung und Huld, nachdem eineinhalb Millionen auf den Schlachtfeldern gefallen waren.

Uniformen und Roben, ordenglitzernde Brüste und gestickte Kragen quellen aus den Wagen und Automobilen, Lackstiefel, kleine, reizende Damenschuhe, Gamaschen, Monokel und Aktentaschen. Wehende Bärte eilen die Steintreppe zum Eingang der Volksvertreter empor, Fettnacken, Brillen und Professorenmähnen, geschäftig, wichtigtuerisch, und jene Raschen, die über die Treppen huschen, die Mappe unter dem Arm, das sind die Rechtsanwälte.

Donnernd dröhnt die fürchterliche Frage des Schicksals, ohne Pause, immerfort.

Von Zeit zu Zeit hebt der Portier die breite Brust und wirft einen gebieterischen Blick über die Straße.

Aufgeregt fliegt der Polizeileutnant auf seinem Rad heran. Eine Mauer von Blauen baut sich auf, die Berittenen sitzen wie Statuen, die Unterführer stürzen zur Berichterstattung herbei. Der Polizeileutnant betupft die schweißige Stirn mit dem Taschentuch und läßt den raschen Blick über die Menschenmenge gleiten, gegen deren Zudringlichkeiten 252 – oder noch Schlimmeres? – er unter Umständen die ordenglitzernden Brüste und glänzenden Seidenhüte verteidigen wird.

Vorläufig allerdings ist die Menschenmenge noch nicht zu sehen. Vorläufig steht sie noch in der Ferne, stumm, den Blick zu Boden geschlagen. Doch der Augenblick wird kommen, da sie sich in Marsch setzen wird – bald vielleicht . . .

Ein paar Neugierige nur, an Zahl dem Aufgebot von Polizisten weit unterlegen, stehen bescheiden gegen die Gebüsche des Tiergartens gedrängt und bewundern Uniformen und Roben, Feldgraue, Verwundete an Stöcken und Krücken unter ihnen. Irgendwo in ihrem Kopfe flackert unbewußt der Gedanke, daß das Schicksal seine fürchterliche Frage gestellt hat und Antwort fordert, heute, jetzt, in dieser Stunde. Aber schon hat der Blick des Leutnants sie erfaßt, er runzelt die Stirn, und die Neugierigen beginnen zu wandern. An ihren Krücken und Stöcken humpeln sie in den Tiergarten hinein.

Was aber ist das? Aus den Gebüschen des Parkes kriecht, wie ein Tier, das aus dem Dickicht kommt, an seinen kurzen Krückstöcken der Zitterer, jener Soldat, dessen Gesicht dicht über den Schmutz des Bodens schleift, und dessen gekrümmter, verstümmelter Körper von einem unaufhörlichen Zittern geschüttelt wird. Unbekümmert um die Kette von Schutzleuten kriecht er über den Fahrdamm – sieht es nicht so aus, als ob er sich geradeswegs in den Reichstag begeben wolle?

Gesetzt den Fall, der Wagen Seiner Exzellenz fahre in diesem Augenblick vor? Würde der hohe Herr durch den Anblick des Krüppels nicht unangenehm berührt werden, gestört in seinen Gedanken – schon setzt sich ein Berittener in Bewegung.

Plötzlich aber rücken sich die Berittenen im Sattel zurecht: lautlos rauscht eine vornehme Limousine heran.

Ein kleiner, zierlicher Greis entsteigt der vornehmen 253 Limousine, feierlich und säuberlich gekleidet, wie für den Katafalk. Er blinzelt in das grelle Sonnenlicht, als sei er eben seiner Gruft entstiegen, und trippelt hastig und geschäftig die Treppen empor, ein gütiges Lächeln auf seinem wächsernen Greisenantlitz. Weit öffnen sich die Türen.

Kaum war der schmale, gebeugte Rücken des Greises in der Tür verschwunden, so fuhr die Limousine des Generals im Renntempo vor. Im Augenblick kletterte Schwerdtfeger auch schon von seinem Sitz, während der Motor noch donnerte.

Voller Würde entstieg der General dem Wagen. Er sah frisch und verjüngt aus, das breite Gesicht leicht gerötet, obwohl er in dieser Nacht nur einige Stunden geschlafen hatte, und nicht einmal ruhig geschlafen. Erst gegen drei Uhr war er von Doras Fest zurückgekehrt. Nachdenklich stieg er die Treppe empor. Die roten Aufschläge des offenen Mantels leuchteten, die Brust glitzerte von Ordenssternen. Er hatte keine Eile. Er wußte, daß diese ganze Reichstagssitzung nichts als eine Zeremonie war, die vor der Öffentlichkeit die nicht zu leugnende Tatsache der konstitutionellen Regierungsform betonen sollte. Er wußte auch, daß die Armeen da draußen schon bereitstanden, bereit zum Sprung, und nur auf das Signal des Telegraphen warteten.

Morgen – morgen . . .

Vergebens suchte der Polizeileutnant einen Blick des hohen Offiziers zu erhaschen.

»Vielleicht ist es die beste Lösung!« dachte der General, als er die dicken Läufer der Wandelhalle entlangschritt – aber er dachte in diesem Augenblick nicht an die Armeen, die sich wie die Sturmflut vorwärts wälzen würden, sondern an die Nachricht, die man ihm kurz vor der Abfahrt telephonisch übermittelt hatte. Eine betrübliche Nachricht allerdings – aber – letzten Endes – es ist Krieg, das darf man nicht vergessen. Tausende, Hunderttausende . . . Er hielt es für seine Pflicht, augenblicklich – wenn auch in 254 aller Kürze – Dora schonend davon Mitteilung zu machen. Noch bestand ja Hoffnung, wenn auch geringe – aber man bedenke: ein ganzer Stab von Offizieren, durch einen einzigen Volltreffer! Welch ungeheurer Verlust für das Regiment. Die Unterschrift, die noch ausstand, würde nun wohl überflüssig werden . . .

Die Tribünen waren schon überfüllt, Kopf an Kopf. Ordenssterne, Uniformen aller Art. Das Rot des Generalstabes, die goldenen Tressen der Marine. Lächeln und Zuversicht auf den frischrasierten Gesichtern. Bekannte ringsum. Ein fettes Gesicht mit Elefantenohren grüßte. Es war, ja, richtig, dieser Professor Salomon – der die Berechnungen für die Marine machte –, ja, also am Mangel an Grubenholz konnte das stolze England scheitern! Unbedeutende, kaum beachtete Dinge entschieden in der Geschichte über das Schicksal von Völkern und Jahrhunderten. Eine einstürzende Brücke, zum Beispiel, plötzlich aufkommender Sturm. Napoleon ging zugrunde, weil der russische Winter um vierzehn Tage zu früh einsetzte.

Die bedeutungslose Zeremonie hatte bereits ihren Anfang genommen. Die Sozialisten hatten ein paar kurze, höchst unnötige Anfragen eingebracht, sie waren mit zwei Worten erledigt.

»Und Dora?« dachte der General, bemüht, den Professor Salomon nicht zu sehen. »Wie wird sie die betrübliche Nachricht aufnehmen?«

Langsam erinnerte er sich an die Begebenheiten dieser Nacht. Sie erschienen unwirklich, wie Fragmente von Träumen, die sich erst allmählich und widerstrebend zusammenfügen. Exzellenz schien seinen Ausführungen mit Interesse zu folgen. Es war bedauerlich, daß er in der Eile vergaß, über Belgien zu sprechen. Dann brannte es plötzlich – wie? – ein Vorhang. Wie leicht hätte ein Unglück geschehen können! In Doras Haus, wo es nichts als Vorhänge und Teppiche gab. Und dann – dieser 255 Unbekannte und Dora – auf der Diele? Wer mochte dieser Unbekannte – diese Mumie gewesen sein? Und dieser kleine Rittmeister, dieser Beduine, der so heftig schwitzte – wie hieß er doch? – was für merkwürdige Dinge hatte er ihm doch erzählt? Und weshalb? Der General forschte in seinem Gedächtnis . . .

Plötzlich rieselte eine kalte Welle über seinen Körper. Irgendein Blick ruhte auf ihm. Er änderte die Haltung, strich mit den Fingern über den Schnurrbart, und ließ den Blick kalt und abwehrend über Tribünen und Köpfe streichen.

Sonderbar, deutlich fühlte er, daß ihn jemand anstarrte . . .

Die Minister saßen auf ihren Plätzen, gleichmütig, als seien sie an dieser Zeremonie die am wenigsten Beteiligten. Sie kritzelten mit den Bleistiften, tauschten scherzhafte Bemerkungen, betrachteten ihre Fingernägel. Der gütige Greis – peinlich säuberlich gekleidet, wie für die Aufbahrung – schien zu schlummern, ein friedevolles Lächeln auf dem Antlitz. Plötzlich aber hüstelte er in die durchsichtigen Kinderhände und erhob sich.

Augenblicklich wurde es totenstill im Hause.

Laut donnerte die furchtbare Frage des Schicksals . . .

 


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