Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6.

Während der General bei Stifter dinierte, löffelte der Havelock, der kleine Herr Herbst, in der Volksküche in der Dorotheenstraße seine Kartoffelsuppe. Er kam häufig hierher, aus bestimmten Gründen.

»Also nicht?« flüsterte er aufgeregt vor sich hin. »Und ich wartete extra vor dem Restaurant und grüßte, aber er sah mich nicht. Er hätte sich gewiß daran erinnert. Nun, 114 vielleicht – wenn auch dieser Portier glaubt – ein alter Mann, was weiß er?«

Herr Herbst saß in seinem feuchten, dampfenden Mantel, den steifen Hut auf dem Kopf, neben einem Fenster, das auf den düsteren Hof hinausging. Auf dem Fensterbrett lag noch dieselbe tote Fliege – wie lange lag sie schon da? Wieder stand im Hof das Auto mit den Papierballen. Dieser Hof gehörte zu jenem bekannten roten Gebäude in der Dorotheenstraße, wo die Verlustlisten auslagen. Jeden Tag kam das Lastauto mit den riesigen Ballen der neugedruckten Listen, täglich, seit dreieinhalb Jahren – sie fielen da draußen wie das Laub der Bäume im Herbst.

Wie das Laub – nicht anders – so dachte Herr Herbst, voller Gram.

Auch er, sein Sohn – Robert – war gefallen – nun – wie ein Blatt – das einfach fällt . . . ohne daß jemand es sieht . . .

Er nickte vor sich hin.

»Wie ein Blatt –«

Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, während er stöhnte.

»Und niemand sah es!«

Ach, ach, ach!

Plötzlich schrie der Alte laut auf, ein kleiner, verzweifelter, quiekender Schrei. Die Gäste an den Nebentischen wandten sich um.

Schon war er wieder still, nur keine Beunruhigung, und schlürfte seine Suppe. Der Schmerz hatte ihn überfallen, wie ein reißendes Tier, urplötzlich.

Die Küche war zur Stunde in Hochbetrieb. Sie dampfte und klapperte.

Sie roch nach Kohl, wie alle diese Küchen. Ohne Kohl und Rüben hätten sie sofort schließen müssen.

Der Havelock aber fand sie elegant im Vergleich zu den Küchen am Halleschen Tor und Alexanderplatz. Hier gab 115 es zum Beispiel Bestecke, wenn auch aus Blech, aber ohne Pfand, während man in jenen Küchen eine Mark als Pfand hinterlegen mußte. Diebe waren die Menschen geworden, nichts als Diebe, sie stahlen einfach alles, was sie mitnehmen konnten. Hier dagegen verkehrte nur gutes Publikum.

Junge Kaufleute und Bureauangestellte, kleine wächserne Stenotypistinnen, düstere, vergrämte Beamte, bleiche, bebrillte Studenten, Mappen und Bücher unter dem Arm, einzelne Uniformen. Sie standen um die kahlen Holztische und warteten geduldig auf Platz. Unaufhörlich ging die Türe, und Nässe und Kälte strömten in das düstere Lokal.

Bleich, gelb, mit wächsernen Ohren, die Schultern nach vorn gebogen, hustend, trüb die Augen, fiebernd – sie alle waren schon gezeichnet. Die Grippe würde sie holen, heute, morgen, in einem Jahr – spielt keine Rolle, sie entgingen ihr nicht mehr. Die Bretter lagen schon geschnitten für sie auf dem Stapel irgendeines Holzplatzes. Aber noch lachten sie, die kleinen wächsernen Stenotypistinnen, kicherten. Sollte man es für möglich halten – während schon die Bretter zusammengenagelt wurden? Sie erregten sich, debattierten, das Blut stieg in die bleichen Gesichter.

»Haben Sie gelesen – haben Sie gehört – nun behaupten sie, daß wir Fett aus Leichen herstellen.«

»Fett aus – wie sagen Sie? Wer –? Fett?«

»Die Entente, natürlich!«

»Diese Schurken, diese –!«

»Ah, ah – aber das ist doch –!«

»Ist es nicht schlimmer als Mord? Sind wir Verbrecher, Auswurf der Erde? Darf man – ich ertrage es nicht mehr, ich zittere an allen Gliedern – die Grippe. – Wie können Menschen so tief sinken? Ah, pfui, pfui –!«

»Auch mich hat die Grippe gepackt. Sie sollten sich nicht so erregen, beim Essen besonders. Und die Regierung –?«

»Die Regierung? Sie schläft. Sie liest keine Zeitungen, weiß es noch gar nicht. Sie läßt das Volk beschmutzen, 116 schläft. Versteht nichts, hat Bedenken, unfähig, über alle Maßen.«

Kohl und Rüben, Rüben und Kohl, jeden Tag. Erfrorene und angefaulte Kartoffeln, vielleicht etwas Erbsen und zuweilen, ganz selten, ein Stückchen Fleisch, sehr wenig, und meistens ein Knochen. Die Knochen wurden ja gesammelt und den Küchen zur Verfügung gestellt. Aber doch war es weitaus besser hier als am Alexanderplatz, dort roch es sauer und unangenehm, zum Erbrechen.

Scheu und vorsichtig drehte der Havelock den Kopf – und dort, dort stand sie – der Liebling!

Selbst zart, selbst blaß, geduldig, immer lächelnd, immer etwas zerstreut, manchmal steckte sie sogar den Finger in den Mund, mitten in diesem Wirbel von Köpfen und den Wolken von Kohldampf stand sie, seine Tochter – die Tochter des Generals. Sie stand am Küchenfenster, aus dem die endlosen Reihen von dampfenden Tellern von roten Händen geschoben wurden, und kontrollierte. Zuweilen trat sie auch an einen Tisch, plauderte, besänftigte.

So zart, so fein, ihre Augen schimmerten – diese Händchen – sollte man es für möglich halten – mitten in diesem dicken Kohlgeruch, diesem Lärm – ein gnädiges Fräulein, die Tochter eines hohen Offiziers? Sie war auch im Felde gewesen – alles wußte der Havelock – dort hatte sie gepflegt. Sie, die Zarte, hatte den furchtbaren Kanonendonner gehört, von dem Robert immer schrieb. Nur in ihrer Haltung, wenn sie rasch den Kopf wandte, hatte sie etwas Ähnlichkeit mit dem General – sonst keine, nicht die geringste.

Verstohlen blinzelte der Havelock zu ihr hin, und plötzlich errötete er wie ein Verliebter.

Sein Herz war verwaist, einsam, er war aus der Provinz zugezogen, kannte niemand in Berlin, er trank auch, der Alkohol – es war die Wahrheit: er liebte die Tochter des Generals! Ganz gegen seinen Willen, denn eigentlich 117 wollte er sie hassen! Er kam nur hierher, um seinen Liebling zu sehen, wie er Ruth nannte. Ihr Anblick erwärmte sein Herz. Sie selbst hatte ihn ja hierher gebracht, in diese Küche. Auf diese Weise hatte er überhaupt erst diese Küche entdeckt.

Nun aber kam Ruth näher, und er wandte rasch den Kopf ab und blickte auf den Hof hinaus, wo Soldaten die Papierballen von dem Lastauto abluden.

Wieder dieser Alte mit der runden Hornbrille, wieder war er unzufrieden! Jeden Tag fast hatte er irgend etwas auszusetzen.

»Wir tun, was in unseren Kräften steht«, suchte Ruth ihn zu beruhigen.

Aber der Alte mit der Hornbrille schrie aufgeregt: »Ich bezahle ja, mein Geld ist so gut wie das Geld der andern. Und wo ist die Einlage, Fräulein –?« Verzweifelt rührte er mit der Gabel zwischen den Kohlblättern. »Ich habe für fünfundzwanzig Gramm Fleischmarke gegeben, Fräulein – und wo ist das Fleisch, ich bitte Sie? Wo? Wo ist mein Fleisch – ich habe Anspruch. – Wo ist mein Fleisch – mein Fleisch – mein Fleisch –!?«

»Ich werde sehen«, erwiderte Ruth und trug den Teller des Alten zur Küche.

Der Havelock atmete auf.

Da aber erschien der weite, graue, offene Soldatenmantel in der Türe – und sofort rückte der Havelock den steifen Hut zurecht und ging.

 


 << zurück weiter >>