Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

Ganz in der Nähe der Hofjägerallee im Tiergarten läuft ein gekrümmter, schmaler Reitweg durch tiefes Dickicht. Auf diesem schmalen, gekrümmten Reitweg ging der General hin und her, die Hände auf dem Rücken, die Augen auf die eigenen Fußspuren geheftet, die noch von gestern, von vorgestern, hier zu sehen waren, trotz dem Regen, der in der Nacht fiel. Hier ging nie ein Mensch, und Reiter – das Geschlecht der Reiter war völlig ausgestorben in Berlin.

Dora –?

Es war drückend schwül, schon um neun Uhr morgens, der General hatte seinen Kragen etwas gelockert, hier sah ihn ja niemand. Bewegungslos standen Büsche und Bäume, und zuweilen sang ein Vogel, irgendwo in weiter Ferne. Es klang wenigstens so in seinen Ohren, möglich, daß er sich täuschte. War es nicht eigentümlich, in letzter Zeit schienen alle Geräusche und Laute in weite Fernen zu rücken, auch die Stimmen der Menschen, die dicht vor ihm standen und sprachen?

Nichts von Bedeutung eigentlich –.

Der General blieb stehen und heftete den Blick auf die staubige, schwarze Erde des Reitwegs. Es war ihm schwer, einen Gedanken bis zu Ende zu verfolgen. 376

Nein, gewiß, das war es nicht. Es wäre unvernünftig, Kombinationen daran zu knüpfen.

Vorgestern hatte er zufällig einen Blick in Ottos Zimmer geworfen, im Vorbeigehen. Das Zimmer wurde gereinigt, und das Unterste war zu oberst gekehrt: da sah er – nein, zuerst nahm er kaum davon Notiz, aber er kehrte zurück, irgend etwas war ihm aufgefallen. Da sah er also auf einem Sessel ein sonderbares Kostüm: eine Art Kaftan oder Kimono von einem eigentümlichen, unangenehmen, schmutzigen Gelb, einen Turban, orangerot, mit dicken grünen Schnüren umwickelt. Dieses Kostüm – sofort fiel es ihm ein: jener Vermummte, jener Unbekannte auf Doras Hausball, jener Stumme, der immer mit einer merkwürdigen Schale rasselte! Es ging das Gerücht, eine hohe Persönlichkeit verberge sich in dieser etwas phantasielosen Maske.

Also er – Otto –?

Ein Maskenscherz, natürlich, nichts anderes. Otto war ja damals noch im Lazarett, offenbar ausgerückt für diese Nacht, er konnte sich nicht gut zu erkennen geben. Aus diesem Grunde die Geheimtuerei, und sicherlich hatte er absichtlich das Gerücht von der Hoheit verbreiten lassen.

Gewiß, ohne jede Bedeutung. Wie kam er doch wieder darauf?

Herrlich ruhig war es hier, und nur zuweilen war das ferne Klingeln der Straßenbahn zu hören. Wohltuend und beruhigend das Grün der hohen Wipfel, und da droben, da draußen flammte heiß die Sonne, wie ein grelles Feuer. Hier aber, Schatten, Kühle sogar, und der Schritt unhörbar. Es ging sich angenehm auf der losen Erde, die Füße ruhten aus.

Der General hielt sich etwas gebückter. Er war im Gesicht magerer geworden, die Backen hingen schlaff herab, seine Gesichtsfarbe war fahler, trocken, mit kalkigen Flecken. Zuweilen zuckte sein rechtes Augenlid, und ein Nerv 377 klopfte oft unangenehm an der Nase, dicht beim rechten Auge.

Den ganzen Sommer hatte er in dem stickigen, heißen Berlin verbracht. Er hatte die Absicht, im August in Urlaub zu gehen, nach Babenberg, nun aber waren Ereignisse eingetreten, die ihn hier festhielten. Gewisse Schwierigkeiten an der Front, die bald behoben sein würden. Jedenfalls aber war es ganz undenkbar für ihn, jetzt, gerade jetzt seinen Posten zu verlassen, selbst nicht auf einige Tage, so nötig er auch Erholung brauchte. Sitzungen, Konferenzen, nun gut, die da draußen hatten ebenfalls keinen Urlaub. Man mußte sehen, wie man durchkam.

Diese halbe Stunde jeden Morgen – eine volle halbe Stunde, ja, es ging nicht anders, wollte er nicht zusammenbrechen – diese halbe Stunde morgens von einhalb neun bis neun Uhr war sein Urlaub. Um neun Uhr erfaßte ihn dann die Maschine, und er kam bis Mitternacht nicht mehr zu sich. Er schlief nur noch mit Hilfe von starken Schlafmitteln.

In diesen dreißig Minuten am Vormittag allein konnte er in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen und sich mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigen.

Gott sei Dank war er vernünftig genug gewesen, sich diese störenden Geldgeschichten vom Halse zu schaffen, wirklich ein Entschluß, zu dem er sich jetzt beglückwünschte! Er hatte das Gut Rothwasser verkauft. An einen Dänen, namens Olsen, aus Kopenhagen – ja, schon kamen sie jetzt, die Neutralen, die am Kriege verdient hatten, und kauften deutsches Land. Er bereute den Schritt nicht. Was geschehen ist, ist geschehen – das Notwendige tue rasch, ohne dich umzusehen. Otto würde ja Babenberg behalten, genug und übergenug für ihn, und Ruth – nun es würde auch für Ruth gesorgt sein.

Er machte kehrt, nie ging er weiter bis zu jenem grellen Sonnenflecken mitten auf dem Reitweg. Zerstreut blickte 378 er, stehenbleibend, in das Dickicht – auch hier Staub auf den Blättern, selbst hier.

Rothwasser? Wie kam er darauf? Nun ja, er hatte sich durch den Verkauf diese störenden, quälenden Kalamitäten vom Halse geschafft – wie schwer es ihm doch wurde, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren! Fünf anstrengende Konferenzen waren allein für diesen Vormittag angesetzt. Schon disponierte er wieder.

Dora –?

In diesem Augenblick dröhnten von der Hofjägerallee drei langgezogene Hupensignale.

Dieser Schwerdtfeger, dieser Esel! Mußte er ihn gerade in diesem Moment unterbrechen.

Ärgerlich setzte der General seine Promenade fort. Er ging etwas rascher, sollte er warten! Ja, diese Wochen, da sie im Bade war, waren eine Art Probe gewesen. Er hatte diese Probe nicht bestanden, um ehrlich zu sein! Ja, das war es, nicht bestanden. Er hatte sie vermißt, kam sich verwaist und verlassen vor, niemand in Berlin, das Haus leer, auch Ruth auf dem Lande – die Stimmen rückten mehr und mehr in die Ferne, wurden unwirklich, nur Doras Stimme klang noch nah. Es schien auch, als ob die Menschen selbst mehr und mehr verblaßten – sie riefen unverständliche Worte, machten unverständliche Gesten. Er beachtete sie kaum, sie interessierten ihn nicht mehr, seine Mitmenschen, nein, sollten sie ruhig tun, was sie wollten. Und fünf Konferenzen – nun saßen sie schon und warteten, Weißbach schielte auf die Uhr.

Ja, es war die Wahrheit, leugnen wir sie nicht, er fühlte sich einsam ohne sie.

Einsam?

Welch ein furchtbares Wort, bei rechtem Lichte betrachtet! Nie in seinem Leben hatte er die Bedeutung dieses Wortes begriffen. Es war die Abspannung, die Nerven, natürlich. In ihrer Nähe fühlte er sich augenblicklich beruhigt, 379 ausgeglichen. Etwas von ihrer Sorglosigkeit und Lebenskunst schien auf ihn überzuströmen.

Wie sie sich gefreut hatte über die kleine Uhr, die er ihr am ersten Abend brachte! Ein Kind, wahrhaftig, nichts als ein großes, lebenslustiges, immer heiteres Kind war diese ganze Dora, ein Quell der Verjüngung, sozusagen. Vielleicht beruhte die belebende Wirkung, die sie auf ihre Umgebung ausübte, gerade auf ihrer großen und seltenen Naivität und oft komischen Lebensunkenntnis. Wer weiß es?

Es galt zu überlegen, jedenfalls – ein bedeutungsvoller Schritt!

Ein Schritt, der wohl erwogen sein wollte, obgleich er sich ja schon Jahre mit diesem Gedanken beschäftigte. Wohl erwogen. Otto? Nun, Ottos Meinung war ihm schließlich gleichgültig, Otto fragte ja auch ihn nicht um seine Ansicht, wochenlang bekam man ihn nicht zu Gesicht. Sein Sohn war ihm fast ein Fremder geworden. Und Ruth? Nun Ruth würde sich damit abfinden. Sie zuallererst. Erst jetzt war ihm zum Bewußtsein gekommen, wie vernünftig diese Ruth in Wahrheit war. Ja, möglich, möglich, daß er ihr ganzes Naturell falsch eingeschätzt hatte. Sie war in ruhigem und ausgeglichenem Gemütszustand von Babenberg zurückgekommen. Ihre sentimentale Laune schien weniger tief gegangen zu sein, als er befürchtet hatte. Obgleich dieser jugendliche Schwarmgeist, wie man ihm berichtete, noch hinter Schloß und Riegel saß und seiner Bestrafung kaum entgehen dürfte. Offenbar hatte Ruth die Beschaulichkeit auf dem Lande dazu benutzt, nachzudenken. Der rasche Schnitt mit dem Messer hatte sich wieder als die beste Heilmethode erwiesen.

Gewiß, auch Ruth würde sich damit abfinden – vielleicht war gerade sie es, die ihn am ehesten verstand.

Aber sie selbst – Dora?

Das heißt nicht, daß er zweifelte!

Natürlich nicht, er konnte auch aus früheren Äußerungen 380 Doras schließen – es würde für sie immerhin einiges bedeuten, gesellschaftliche Stellung, nun, und manches andere. Sie war ja aus guter Familie, ein Bruder sogar Major, aber immerhin, kleiner, unbedeutender Landadel. Und nicht zuletzt würde sie gewiß aufatmen, aus diesem Zustand finanzieller Unsicherheit herauszukommen.

Nein, nicht das.

Aber es gab da das und jenes, was ihn in der letzten Zeit stutzig – ist stutzig das richtige Wort? – nun sagen wir ruhig: stutzig gemacht hatte . . .

Einiges, unbedeutende Dinge, Kleinigkeiten sozusagen, Imponderabilien – aber vielleicht tat er ihr bitter unrecht? Wie? Nicht unmöglich . . .

Wieder dröhnte das Hupensignal.

Der General hakte ärgerlich den Kragen zu.

»Es ist ganz unmöglich, auch nur fünf Minuten lang seine Gedanken zu sammeln«, sagte er laut und begab sich zum Auto zurück.

Die graue Limousine fegte in das heiße Berlin hinein: Sitzungen, Konferenzen, Vorträge. Schon warteten sie dichtgedrängt im Vorzimmer, und Weißbach schielte tatsächlich ununterbrochen nach der Uhr.

 


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