Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.

Mit allen Anzeichen mühsam zurückgehaltener, freudigster Überraschung erhob sich der General.

Wie alt er geworden ist, dachte auch er. Und die eine Augbraue ist schon ganz verzerrt. Eine Wachsfigur! Er 227 verbeugte sich. Der Orden, der auf dem Frackhemd der Exzellenz funkelte, wog allein mehrfach alle Auszeichnungen auf, die der General auf der Brust trug.

»Ich bitte«, flüsterte der Träger des hohen Ordens und streckte dem General beide Hände entgegen, »aber ich bitte Sie herzlich, mein lieber, alter Freund, freue mich, Sie wiederzusehen, freue mich ganz außerordentlich, wieder einmal Gelegenheit zu haben.«

Schon stand ein Sessel bereit, und der General beachtete genau, bis der hohe Würdenträger sich gesetzt hatte, bis er richtig saß. Erst dann wagte er, neben ihm Platz zu nehmen.

»Erfreut, außerordentlich erfreut. Ich bin etwas verspätet, ein Diner.«

Petersen trat hinter den Sessel der Exzellenz.

»Ich danke – doch, einen Augenblick, mein Freund. Ein Glas Wasser, wenn ich bitten darf.«

»Ich sehe mit aufrichtiger Freude, daß Euer Exzellenz sich sehr wohlbefinden«, rief der General.

»Bis auf mein altes Darmleiden, mein Freund –.«

Die Unterhaltung wurde in lautem Tone geführt, denn der hohe Würdenträger war schwerhörig, und es war bekannt, daß er es niemals zugestand und niemals fragte. Man behauptete sogar, daß er die wichtigsten Verhandlungen führe, ohne ein einziges Wort zu verstehen, und völlig freie Erfindungen weitergäbe. Die Stimme des Generals klang kräftig, er wünschte, daß der hohe Würdenträger kein Wort verliere. Wie geschickt Dora diese Begegnung arrangiert hatte! Vielleicht würde diese Gelegenheit, sich in Erinnerung zu bringen, nie wiederkehren.

»Zwischen den Schlachten«, sagte die Exzellenz lächelnd, und deutete auf Turbane, Federbüsche und die Woge von nacktem Fleisch da unten.

»Exzellenz bemerken sehr treffend. Es sind zumeist Offiziere, die auf Urlaub hier sind, Atem schöpfen, um morgen zur Front zurückzukehren.« 228

»Ja, ja, ja.«

»Exzellenz –.«

Der Einflußreiche legte seine weichen, kleinen Hände auf den Schenkel des Generals. »Lieber Freund,« sagte er, »ich darf wohl bitten, alles Zeremoniell zu lassen. Wir sind doch alte Freunde. Ja, wie lange kennen wir uns schon?«

»Es sind,« der General dachte nach, »es dürften wohl dreißig Jahre sein.«

»Dreißig Jahre!« Der hohe Herr rückte auf dem Sessel hin und her, wiegte den wächsernen Kopf und lachte beunruhigt. »Ein Menschenalter! Ich erinnere mich noch sehr deutlich, daß wir ebenfalls in Berlin einmal auf einem Ball waren. Es war, wo war es denn nur gleich?«

Der General errötete. Nun wird er sich gewiß an diese Affäre erinnern, an diese Entführung, und alles wird vergeblich sein.

»Ich erinnere mich nicht«, sagte er.

Aber mit dem Eigensinn eines Greises forschte der hohe Würdenträger in seinem Gedächtnis nach.

»Es war bei Baron Kreß«, rief er aus. »Ja, nun habe ich es, und es war eine entzückende Dame da, eine reizende kleine Person! Ah, ah, ah, wie hieß sie doch?«

Der General schwieg beharrlich, außerordentlich peinlich war die Situation. Scham erfüllte ihn, daß er nicht den Mut hatte, zu bekennen, daß diese reizende kleine Person, wie Exzellenz sie zu nennen geruhten, später –.

»War es nicht eine kleine Baronesse Bassewitz? Nein, nein, es war – nun, es ist lange her. Ich bin nicht für die Ehe geboren gewesen, mein lieber Freund. Und wie fühlen Sie sich in Berlin?«

Der General rückte auf seinem Sessel. »Wo mich mein König hinstellt,« heulte er in das Ohr Seiner Exzellenz, »da –«, er stockte.

Aber der Greis verstand vollkommen. 229

»Ja, ja, ja,« nickte er. Ach, er hatte diese Phrase tausendmal in seinem Leben gehört. Er klopfte sich auf den Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

»Ich höre aber, daß Sie sich bei der Truppe wohler fühlten, lieber Freund? Meine Schwester –«

»Ich erfülle meine Pflicht und beklage mich nicht!« beteuerte der General. »Indessen ist es ja selbstverständlich für einen Frontsoldaten –.«

»Ja, ja, ja, – natürlich, selbstverständlich.«

Der Würdenträger versank in Nachdenken, schloß die großen Greisenaugen zur Hälfte, und es sah eine Weile aus, als ob er einschlafen wolle. Er erinnerte sich plötzlich, daß man, vor gar nicht langer Zeit, bei der Frühstückstafel von diesem Hecht-Babenberg gesprochen hatte. Irgend etwas war ihm mißlungen oder besser gesagt, nicht gelungen – irgend etwas an der Front, und man sprach von einer Untersuchung, die schwebte. Natürlich nur schwebte, alle diese Untersuchungen schwebten, und das war ganz in Ordnung. Das Ansehen der Armee würde anders leiden. Daran dachte er, und er quälte seinen alten, spitzen Kopf, um sich zu erinnern, welches Mißgeschick dem General eigentlich passiert war. Es hatte sich um eine Höhe gehandelt – um irgendeine von diesen vielen Höhen, von denen immer die Rede war. Er war kein Militär, und er kannte die Front nur als eine ungefähre blaue Linie, die er überall in den Beratungssälen auf den Karten sah.

Er las die Heeresberichte nicht mehr, seit langem, seit einigen Jahren – es waren ja immer die gleichen Orte. Ganz offen gestanden, interessierte ihn die Front auch nicht, in militärischen Fragen war er Laie, sie gehörten nicht in sein Ressort. Aber es hatte sich damals um eine Höhe gehandelt, eine Höhe, na, es war ja schließlich vollkommen einerlei. Hm, es würde wohl – im Hinblick auf dieses Mißgeschick – nicht ganz leicht sein . . .

Plötzlich verklärte ein Lächeln sein Gesicht. Da unten – 230 wie scharmant – hatte sich soeben ein Pärchen ganz sans gêne während des Tanzens geküßt! Diese Jugend – wieder rückte er unruhig auf dem Sessel.

Der General aber erlaubte sich zu erwähnen, daß auch hier in Berlin wichtige Arbeit zu leisten wäre. Es waren gewisse Einflüsse am Werk, pazifistische, jüdisch-liberale, radikalsozialistische Einflüsse, die zu bekämpfen waren. Der Wille des gesamten Volkes mußte zusammengeballt und in eine Richtung gelenkt werden, zu einer letzten gewaltigen Anstrengung. »Gewaltigen, gewaltigen!« schrie er in das wächserne Ohr der mit schrägem Kopf lauschenden Exzellenz.

»Ja, ja – sehr richtig – sehr schön –.«

Der General aber benutzte die Gelegenheit, dieser hohen Stelle seine militärisch-politischen Ansichten im allgemeinen darzulegen. Der Peipussee, der Weg nach Indien über den Kaukasus, die Zerschmetterung Englands vom Orient aus, der Korridor über die Türkei und Ägypten nach einem mächtigen deutschen Zentralafrika, Rohstoffreservoire, Siedlungsgebiete, maritime Stützpunkte . . .

»Sehr interessant – sehr wohl –.«

Fließend trug der General seine Gedanken vor, sie bildeten das Thema eines fertig ausgearbeiteten Vortrags, den er in den nächsten Tagen im Bund Barbarossa halten wollte.

Der hohe Würdenträger nickte und blinzelte durch das geschnitzte Geländer der Empore hinunter in den kleinen Saal. Viel angenehmer wäre es ihm gewesen, wenn der General über diese Beinchen, Hüften und Gesichtchen gesprochen hätte – diese modernen Tänze waren sehr reizvoll, wenn auch etwas gewagt. All das, was der General sagte, hörte er täglich von Militärs. Nur diese Sache mit dem Korridor über Ägypten war eine neue Variante.

»Sehr wohl – sehr richtig –«, sagte er und nickte.

Und dieser Hauptmann, der eben mit Dora tanzte, sah 231 es nicht ganz so aus, als sei er – etwas bekneipt? Bewundernswürdig diese überschäumende Lebenskraft . . .

 

Dora gab es auf, mit Hauptmann Falk zu tanzen.

»Ich bin durstig, Feuerwalze!«

Gab es eine Bitte in der weiten Welt, die der Hauptmann mit größerem Entzücken erfüllt hätte? Nein, keine. Er wollte Dora die gesamte Weinernte von drei Jahrgängen zu Füßen legen, er schwor, die Weinkeller der Millionäre in der Nachbarschaft zu plündern, wenn es sein müsse.

»Gib Wein, schwarzer Halunke!« schrie er dem fetten Neger zu.

Er leerte sein Glas auf das Wohl seiner Dame und warf es – nun höchst einfach – mitten in das Orchester. Das gehörte zu seinem Stil.

»Spielt, ihr Schweine!« schrie er, und als die Musiker sich entsetzt umblickten, fügte er mit einer tiefen Verbeugung, auf Dora weisend, hinzu: »Für meine Dame!«

Dann nahm er einen blauen Lappen aus der Tasche, rollte ihn zu einer Kugel zusammen, spuckte darauf und warf ihn den Musikern zu. Auch das gehörte zu seinem Stil. Nun verbeugten sich die Musiker.

Vor knapp fünf Stunden war der Hauptmann in Berlin angekommen und bei Ströbel, wie gewöhnlich, abgestiegen. Gestern früh, um sieben Uhr, hatte er noch an der flandrischen Küste einen Graben gestürmt, mit dem Messer hatte er gearbeitet, heute tanzte er hier – es war ein Krieg mit Komfort, wie er sagte – morgen abend, um zehn Uhr, ging sein Zug – vielleicht mußte er übermorgen wieder mit dem Messer arbeiten – einerlei.

»Und noch ein Glas auf das Gedeihen dieser kleinen Härchen im Nacken da –!« Ja, durch ein Sektglas gesehen hat die Welt ein ganz anderes Gesicht.

Dora fand ihn ungeheuer drollig. »Weshalb aber trinken Sie so schrecklich, Feuerwalze?« 232

Der Hauptmann versicherte, daß er ein Vulkan sei, sozusagen, ein Vulkan, der sich bemühe, seine Temperatur zu halten. Dazu hätten ihn heute diese kleinen Nackenhärchen rasend gemacht – und dieses Ohrläppchen und noch andere Sachen. Und er sei nichts als ein armes Frontschwein, bedauernswert, kaum vierundzwanzig Stunden Zeit –.

Plötzlich umschlang er Dora. Sie entfloh.

Schon aber rasselte die Schale, und ein bleicher Arm streckte sich dem Hauptmann entgegen.

»Huh, hier ist er wieder. Ein unheimlicher Geselle«

»Befehlen Sie, Gnädigste, und wir werden ihn töten. Hinweg mit dir, Sklave!« schrie der Hauptmann mir gutmütigem Lachen.

Aber da begann der Bettelmönch plötzlich zu wachsen – er wuchs, und seine Augen blitzten . . .

»Bist du es?«

Hedi zupfte den Bettelmönch am Arm. Ihr Herz schlug.

Die blinkenden Augen zwischen den Tuchlappen zogen sich zusammen zu Schlitzen, wie bei einer Eule. Der Bettelmönch wich zurück und verbeugte sich, während er mit der Schale rasselte.

»Bist du es, sprich?«

Schweigen.

»Kennst du meine Stimme?«

Der Bettelmönch schüttelte stumm den Kopf.

»Zeige deine linke Hand!«

Der Bettelmönch zog beide Hände unter die Vermummung zurück und verneigte sich noch demütiger, bis zur Erde. Es war ihm nicht beizukommen.

Eine Dame flüsterte Hedi ins Ohr: »Es ist eine Königliche Hoheit.«

»Wer???«

»Man sagt es.« Scheu wich Hedi zurück. 233

 

Ich bin der Ansicht,« schrie der General in das schmale wächserne Ohr, »nur noch eine einzige, gewaltige Kraftentfaltung des deutschen Volkes, und wir werden den Frieden diktieren.«

Der hohe Würdenträger wiegte den spitzen Kopf.

»Es ist möglich,« unterbrach er den General, »daß diese Anstrengung nicht mehr nötig sein wird. Dies, bitte, ganz unter uns! Ja es ist möglich, daß sie genug haben!« Plötzlich tat der hohe Würdenträger geheimnisvoll. Aber immerhin – er verbrachte seine Tage in allernächster Nähe der allerhöchsten Persönlichkeiten.

»Wie belieben?«

»Möglich, immerhin möglich! Es sind Anzeichen dafür vorhanden. England . . . Aber bitte, ganz unter uns!« Völlig unvermittelt erhob er sich. »Außerordentlich gefreut, mein lieber Freund – ganz außerordentlich. Sehr interessant – Ihre Ausführungen, sehr interessant. Bitte herzlich, sich ja nicht zu bemühen –.«

Er war ja nur auf einige Minuten hierhergekommen, erstens, um dieser prächtigen Dora die Freude zu machen, zweitens, um seiner Schwester gefällig zu sein, und drittens – nun, drittens gab es nicht.

Vorsichtig stieg die steile, kantige Glatze die schmale Treppe hinunter, die noch heute nach Weihrauch roch.

Der hohe Würdenträger kroch in seine schwarzlackierte Limousine und zog eine Pelzmütze über den kahlen Schädel.

»Große Fähigkeiten, ohne Zweifel«, sagte er vor sich hin, indem er sich im Polster zurechtrückte. »Aber weshalb schreien diese Militärs alle so? Er hat mich fast taub geschrien.«

Und er schlief augenblicklich ein, während die Limousine lautlos durch die Finsternis schlich. 234

 


 << zurück weiter >>