Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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8.

Wie ein blutiges Nordlicht flammte die sinkende Sonne zwischen finsteren Wolken. Durch die Torbogen des Brandenburger Tors schleuderte sie rote Glutkegel, die die Linden überfunkelten. Häuser und Menschen brannten düster, und düster brannte das Schloß am Ende der Linden. In den Schaufenstern der Luxusgeschäfte flammten die Brillanten, Perlen, Diademe, Orchideen, goldenen Schalen und Prunkgefäße.

In seinem weiten abgenutzten Soldatenmantel strich Ackermann, der Student, die Linden entlang, dicht an den Läden vorüber mit den Orchideen. Perlen und Prunkgefäßen. Er sah sie nicht. 195

Sein Mund zuckte.

Dies ist die Stunde, dachte er – ja, dies ist die Stunde, da die Sterbenden noch einmal die Augen aufschlagen, um den hohen Himmel zu grüßen. Erinnerst du dich – dieser Blick aus schlafschweren Augen? Dies ist die Stunde, da die Verwundeten gierig das scheidende Licht mit ihren fiebernden Augen trinken, denn einen Augenblick später kommt schon die Nacht mit ihren Ungewißheiten, dem Gewimmer, Stöhnen und Miauen im Krankensaal.

Dies ist die Stunde, da die Gefangenen in all den hundert Lagern, von Menschen errichtet, um Menschen gefangenzuhalten, noch einmal an den Stacheldrähten entlangstreichen wie Tiere, bevor man sie in ihre Höhlen zurückjagt, da die Hände von Hunderttausenden von gefangenen Menschentieren sich verkrampfen um den kalten Draht. Ja, dies ist die Stunde des schrecklichen Sterbens – in Flandern und Frankreich, in Italien, Mazedonien und der Türkei, überall in dieser ganzen verfluchten Welt.

Dies ist die Stunde, da das Elend der ganzen Welt sich vertausendfacht – da das Gespenst des menschlichen Elends sich riesengroß über der Erde erhebt . . .

Ackermann watete durch die gespenstisch rote Lichtflut des sinkenden Gestirns. Blut, nicht Schein der Sonne, Blut, das von den Schlachtfeldern hereinströmt in diese Stadt und täglich steigt wie ein Meer. Er roch das Blut, er fühlte seine dampfende Wärme, genau wie damals in Flandern, als ihn dieser dicke Blutstrahl traf, der aus der Halsschlagader eines getroffenen Kameraden spritzte – und dann, ja, als sein eigenes Blut über ihn strömte. Es rann über die Scheiben der Schaufenster, es quoll aus den Haustüren, überschwemmte die Straßen, das Schloß – dort unten – schon feuchteten sich die dicken Steinmauern –

Blutige Gespenster stürzten an ihm vorbei. Schon wateten die Menschen in der roten Flut bis an die Brust, sie fühlten es nicht. Bald wird sie bis an ihre Lippen 196 steigen. An ihren Wimpern hing das Blut, ihre Hände färbte es rot.

Erst Lügner, dann Räuber, dann Mörder – das sind die Völker Europas geworden! Dunkel rauscht die Menschheit dahin, ein Strom in der Finsternis, der nicht sein Ziel kennt . . .

»Und du, Herr über den Finsternissen?«

»Weshalb zögerst du?«

Verzweiflung zerbrach ihn, Qual und Schmerz zerrissen sein Herz. Sein Hirn blutete, sein Hirn zersprang.

»Ja, weshalb?«

Plötzlich tastete er nach der Hauswand. Deutlich hatte er gespürt, wie er zu sinken begann, wie der wirbelnde Blutstrom ihn mit sich forttrug . . .

»Bringe Erlösung dieser Erde! Führe sie zurück auf deinen Weg!«

»Wann wirst du das Signal geben?«

»Sprich!«

»Wer wird es rufen – das erste Wort?«

»Mut! Mut!«

Plötzlich hob ihn der weite Mantel in die Höhe, und er schwebte dahin. Durch unendliche gleißende Helle brauste er, über blendende Ebenen, hingegeben einer unbekannten Wollust . . .

Da faßte jemand seinen Arm und schüttelte ihn.

»Sie werden doch nicht fallen?« sagte die Stimme eines Mannes.

Nun saß er, noch etwas betäubt, auf einer Treppe, ganz in der Nähe des Schloßplatzes.

Rasch kam er wieder zu sich. Seit seiner letzten Verwundung litt er an Schwindelanfällen. Zuweilen war er auch schon bewußtlos zu Boden gestürzt.

Die Sonne verglühte und zog ihre Glutkegel zurück. Bleich und fahl trieb die Viktoria auf dem Brandenburger Tor ihr Triumphgespann vorwärts. Schon schob 197 sich die schwarze drohende Finsternis herauf über die Riesenstadt, um sie zu vernichten. Die Nacht war nahe.

Düster lag das Schloß, kalt, leblos. Tod und Nacht strömten von ihm aus, Kälte und Haß. Ringsum die Denkmäler, die finstern Reiter aus Erz mit ihren Marschallstäben standen wie Schatten.

Wo immer sie ihre Hufe hinsetzen auf Erden, diese Rosse aus Erz mit ihren finstern Reitern, entweichen die freundlichen Geister!

Aber auch sie werden dahinschmelzen im Blicke seines Zorns. – – – – – – – – – – – – – – –

Ackermann erhob sich. Es wurde kalt. Die Schatten wurden dichter und krochen näher.

Er überquerte den Schloßplatz, überschritt die Brücke und wanderte der finstern Vorstadt zu.

1914 hatten sie gestürmt, bei Langemarck mit dem Liede: »Deutschland, Deutschland über alles.« Man hatte sie in die englischen Maschinengewehre gejagt. Wie viele waren zurückgekommen? Einer der wenigen war er. Wieviel war seitdem geschehen!

Wie Hunderttausende war er zu den Fahnen geeilt – wie Hunderttausende in dem Wahn, sein überfallenes Vaterland zu schützen.

Wie Hunderttausende hatte er sich dem Tode entgegengestürzt, wie Hunderttausende hatte er gemordet. Wie Hunderttausende war er der Verzweiflung nahe gewesen und hatte er den Tod herbeigesehnt. Wie Hunderttausende der armen Teufel aller Nationen hatte er in dem Wahne gelebt, einer heiligen Sache zu dienen.

Im Laufe der Zeit aber war er zur Erkenntnis gekommen, daß Deutschland nicht überfallen worden war, sondern eine Handvoll eitler Scharlatane den Krieg provozierte. Aber auch das war ja nicht richtig. Ein Jahr später hatte er sich zur Erkenntnis durchgerungen, daß alle Völker, die sich heute zerfleischten, gleichermaßen schuldig waren. 198

Plötzlich, in einer Nacht im Bahnhofslazarett von Sedan – er erinnerte sich noch deutlich dieser entsetzlichen Nacht voller Stöhnen und Gejammer – sah er Europas wahres Gesicht! Es war das Haupt der Medusa!

Bis ins Mark entsetzt, starrte er in diese furchtbare Maske – Lüge, Lüge, Lüge! Jede Linie Lüge!

Verbrechen, Habgierde, Heuchelei, Schamlosigkeit, das war Europa, nichts sonst. Die europäischen Großstaaten hatten das Raubritterwesen ins Gigantische gesteigert. Gestützt auf ihre Heere und Flotten plünderten sie die Erde, versklavten sie alle Völker des Erdballs, gelbe, braune, schwarze – um sich endlich, argwöhnisch und gierig, gegenseitig selbst zu zerfleischen. Diese weiße Rasse war die verruchteste aller Rassen, die den Planeten bewohnte. Ganze Rassen hatten sie ausgerottet – aber in ihren zoologischen Gärten pflegten sie seltene Gazellenarten. Mehr als das: sie versklavten die eigenen Völker! In Schulen, Kasernen, Kirchen, Fabriken erzogen sie den willigen Söldling! In Schulen, Kasernen, Kirchen, Fabriken vernichteten sie den europäischen Menschen, täglich, stündlich, seit Hunderten von Jahren.

Ihre Priester standen auf den Kanzeln und predigten: Was nützte es dir, wenn du die ganze Welt gewännest und nähmest Schaden an deiner Seele? War es möglich? Ihr ganzes Tun ging ja darauf hinaus, die Welt zu gewinnen, und die Seele mochte zur Hölle fahren.

Entsetzliche Verwirrung der Geister! Wer förderte sie? Wer zog Nutzen aus ihr? Die herrschenden und die besitzenden Klassen.

Die Völker selbst, sie waren nur Verführte, verführt durch kunstvolle teuflische Systeme.

1914, im Spätherbst – deutlich erinnerte er sich dessen – begannen die Fronten zu fraternisieren. Man kam zusammen – plauderte, tauschte Kleinigkeiten, diese armseligen Kleinigkeiten des europäischen Sklaven – ganz 199 von selbst keimte in den Herzen der einfachen Soldaten die Kameradschaft und Liebe empor. Eine Versammlung einfacher Feldsoldaten hätte in drei Tagen Frieden geschlossen. Die Gewaltigen duldeten es – aber sobald Nachschub und Munition wieder gesichert waren, befahlen sie den europäischen Sklaven, sich wieder gegenseitig zu zerfleischen.

Schwarzweißrot, blauweißrot, der Union Jack – frech wehten die Standarten der Raubritter, und die weißen Sklaven beteten sie an.

Dunkelheit – Verfinsterung, kein Ausweg . . .

Menschen zitterten vor Menschen. War es möglich? Ackermann hatte Gefangene gesehen, die auf den Knien um ihr Leben flehten – wohin war es gekommen?

Er verhüllte vor Scham sein Gesicht.

Schreckliche Jahre, schreckliche Tage – ein Tag fürchterlicher als der andere!

Und kein Ausweg! Nein!

Weiter rollt die Lawine, in Bewegung gesetzt von Gehirnen, die längst in der Erde modern. Weiter rollt sie, zerschmettert Länder, Städte, Generationen.

Europa war ein eiterndes Geschwür, das die Erde vergiftete. Oft schien es Ackermann, als habe Gott sein Antlitz abgewandt: das einzige, was euch gebührt, vollzieht es: schlachtet euch gegenseitig. Haubitzen, Mörser, Gase, Fliegerbomben – geht unter – rasch, rasch, verschwindet . . .

Da begann – unerwartet – aus dem Osten ein Licht zu strahlen . . .

Seit den Somme-Schlachten war Ackermann nicht mehr für den Felddienst geeignet. Er hinkte und litt an Ohnmachtsanfällen. Er wurde in ein Gefangenenlager zur Bewachung von Menschen kommandiert. Hier schloß er Freundschaften mit Gefangenen, er versuchte seine Kameraden aufzuklären. Er wurde wegen »pazifistischer Umtriebe« angeklagt und entging mit knapper Not dem Gefängnis. 200 Und zwar nur aus dem Grunde, weil die Gefängnisse zu dieser Zeit schon überfüllt waren. Man schob ihn kurzerhand zum Regiment ab, und das Regiment kommandierte ihn nach Berlin, wo man Schreiber und Ordonnanzen zu Tausenden in den unzähligen Kriegsämtern brauchte.

Hier traf er in einer Speiseanstalt – – Ruth!

Wie? Wer war es? Wo hatte er sie schon gesehen? Wann?

Da erinnerte er sich: es war in einem Lazarett in Cambrai. Man hatte ihn abends dahin gebracht, und in der Nacht erwachte er – zu seinem großen Erstaunen – in einem Krankensaal. Er hatte an diesem Tage den Tod gesucht – besser getötet zu werden als zu töten. Da hatte ihn eine Handgranate zu Boden geworfen.

Da lag er nun in einem halbdunkeln Saal. Franzosen, Engländer, Kanadier, Farbige, hier waren sie nun alle vereint. Neben ihm saß ein Schwarzer im Bett, dem der Unterkiefer weggerissen war, und keuchte aus einem blutigen Watteklumpen. Stöhnen, Winseln, Fauchen, halblautes Lallen. Wie über alle Lazarette, war auch über diesen Saal jene unbegreifliche Ergebenheit gebreitet. Sie alle, die hier lagen, fühlten, daß es ihr Schicksal war, gegen das es keine Auflehnung gab. Die Schlacht war gekommen, weil es so sein mußte, sie waren verwundet worden, weil es so sein mußte, und sie würden sterben, wenn es beschlossen war.

Auch über ihn war diese gleiche rätselhafte Ergebenheit gekommen, die jeder Verwundete kennt, der im Lazarett aufwachte.

Da – plötzlich – sah er eine Gestalt, eine kleine Gestalt, eine Schwester. Sie stand mit dem Gesicht gegen die Wand, der Lichtschein streifte sie – sie preßte das Taschentuch gegen das Gesicht, ihre Schultern bebten – sie weinte. Lange beobachtete er sie. Sie weinte . . .

Auch Ruth erkannte ihn wieder. 201

Ruth sagte: »Sie schrien im Fieber immerzu – füsiliert mich! Die einzige Ehrung, die Europa bieten kann, ist füsiliert zu werden!«

»Sagte ich das?«

»Ja, Sie sagten noch ganz andere Dinge. Sie sagten viele Dinge, die schon lange in mir schlummerten.«

»Sie – ?? Aber Sie sind doch die Tochter eines Generals?«

»Ja! – Was hat das zu sagen?«

So wurden sie Freunde.

 


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