Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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Viertes Buch

1.

Von heute auf morgen . . .

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden . . .

Die Depeschen fliegen, es ticken die Fernschreiber. Fahle Gesichter, flatternde Hände, erbleichende Augen.

Wie?!

Ist es möglich?!

Ein Keulenschlag! Der General ringt nach Luft und preßt beide Hände gegen den Brustkorb. Er befürchtet, sich übergeben zu müssen.

Ein Jeu – hm – Poker? Aber wir sind schließlich ja nicht in Monte Carlo? Letzten Endes ist ein Weltkrieg doch kein Manöver, wo der steigende Fesselballon das Signal zum Halten gibt?

Der General ist krank, die Grippe hat ihn gepackt, ja, auch ihn, ganz zuletzt – es gelingt ihm gerade noch im letzten Moment, ein Glas Wasser zu ergreifen, sonst wäre ein Unglück geschehen. Der Schweiß bricht ihm nun aus der Stirn.

Schon aber knattern die Lichtbogen, und aus den Antennen schwingen die Wellen durch den Äther. Es wanken die Empfangsstationen, die Beamten, die Hörmuschel am Ohr, erbleichen. Wer spricht? Eine Verhöhnung, eine Finte, ein schlechter Scherz? Die Station Nauen hat gesprochen.

Schon fliegen die Türen in den Ministerien, und in den Augen entzündet sich ein Leuchten –.

Der General kriecht durch die Zimmer, in den Schlafrock mit den roten Aufschlägen eingewickelt, hustet, keucht. Nun, also – nicht! Nicht diesmal! Rollen wir die Fahnen zusammen – das nächstemal! Blutiger noch und furchtbarer als dieser Krieg . . . Schon wieder nimmt er Aspirin 424 und hustet. Er sinkt in einen Sessel und starrt, starrt – er sieht nichts, die Gedanken sind stehengeblieben, vor dem Abgrund haben sie haltgemacht.

Krachend stürzt die Front, die Erde hört es – und noch immer kämpft die Armee, heute, morgen, übermorgen, Wochen! Längst ist es entschieden, daß alles verloren ist. Alles verloren: Blut und Gut, Millionen von Söhnen und Ernährern, Hoffnung und Sinn des Lebens, die Fruchtbarkeit des Ackers, die Viehherden, Schätze der Erde und Wälder, Schweiß und Fleiß von drei Generationen, Schweiß und Fleiß von drei kommenden Geschlechtern – alles verloren! Die Fruchtbarkeit des weiblichen Schoßes – dahin, Millionen von Säuglingen – eine Beute des Hungers. Alles – dahin! Das Gehirn unter der Schädeldecke, der Schlaf der Nächte – dahin! Ausgespielt die hohe Karte, gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit – und noch immer kämpft die Armee.

Die Angebeteten und Vergötterten – bis zum letzten Einsatz! – und dann, ja, dann beugten sie das Knie und boten den Degen an.

Auf Gnade und Ungnade.

Der Historiker, noch in tausend Jahren, wird hier eine Pause machen, Atem schöpfen, und noch einmal alle Dokumente prüfen. Ob ihm nicht doch etwas entgangen ist, nicht doch eine wichtige, überaus wichtige Urkunde. Er wird in den Archiven und Bibliotheken wühlen – nein, es ist Ihnen nichts entgangen, fahren Sie ruhig fort. –

 


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