Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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7.

Schon wird es Nacht.

Der Wind pfeift durch die Linden, die Fenster klirren. Qualm schlägt aus den Häusern, die Stadt raucht. Der Wind braust um das düstere Schloß, die Säulen wanken. Die Rosselenker am Portal knicken zusammen unter den Hufen der Rosse. Aber plötzlich wird es still, ganz still, der Wind schweigt, und ein eisiger Luftstrom schiebt sich über die Linden dahin, ein wandernder Block von Eis.

Dunkle Wolken fliegen über die Stadt, schwarz, eine hinter der andern – wie sie jagen! Gespenstisch!

Ja, gespenstisch, es sind die Toten, die Gefallenen, die über die Stadt dahinjagen und auf den Wolken stehen. Die Kälte des Grabes fällt aus ihren grauen, vereisten Soldatenmänteln. Denn sie lagen lange in der kalten Erde.

Der General erschauert, er zieht frierend den Mantel mit dem blutroten Aufschlag über der Brust zusammen. Er sieht die Toten nicht da oben auf den schwarzen Wolken, aber er fühlt die entsetzliche Kälte, die sie mitbringen.

Feuer spritzt vor seinen Füßen, ein Insekt schwirrt zischend an seinem Ohr vorbei. Schüsse knallen.

Nein, nicht der Mantel mit den blutroten Aufschlägen, er ist in Zivil, aber er hatte es für Augenblicke – wie lange? – vergessen.

Aus den finstern Straßenschluchten blasen Feuerfunken, aber der General fürchtet die Kugeln nicht. Er wendet ihnen die Stirn zu, er öffnet die Augen und blickt ihnen entgegen, er bietet ihnen die Brust dar und bleibt sogar stehen. Unbeirrt verfolgt er seinen Weg. Nur die 457 entsetzliche Kälte, die aus den jagenden schwarzen Wolken fällt, erfüllt ihn mit Schaudern.

Licht in einer dunkeln Straßenschlucht. Ein totes Pferd liegt auf dem Pflaster. Schatten umdrängen den Kadaver, Soldaten und Weiber mit Messern. Sie zerlegen das Pferd und wickeln blutige Fleischstücke in Zeitungsfetzen und Schürzen. Dort an der Ecke ein Auto mit dem Zeichen des Roten Kreuzes. Eine helle Bahre gleitet durch den Lichtschein.

Und wiederum Finsternis, ohne Ende. Die Straßen sind dunkle Katakomben, Riesenschatten tanzen über die verlassenen Plätze, Schrecken lauert in den finstern Haustoren. Manche Straßen sind wie mit Schnee bedeckt. Das sind die Massen von Zetteln und Aufrufen, die täglich auf die Stadt niedergehen. Der Fuß des Generals raschelt in ihnen. Da! Der Schrei eines getroffenen Menschen. War es eine Frau? Ja, eine helle Stimme. Und das Feuer prasselt. Der Widerhall klopft an den Häuserwänden. Der Widerhall klopft im Herzen des Generals. Jede einzelne Kugel trifft ihn ins Herz. Zu Ende! Alles zu Ende! Schon töten sie sich gegenseitig.

An den Straßenecken ist ein Plakat angeschlagen: Berlin, halt ein, dein Tänzer ist der Tod!

Ja, zu Ende –.

Der Schritt des Generals stockt. Mitten auf dem Trottoir liegt, Arme und Beine von sich gestreckt, in einer Lache von Blut, ein toter Matrose. Rasch geht der General auf die andere Seite. Aber schon wieder erschauert er. Etwas weht feuerrot in der Dunkelheit, etwas fließt schimmernd weiß dahin, blitzschnell. Sein Herz bleibt vor Schrecken stehen. Gespenster? Gespenster in Berlin? Nein, es sind Masken, Vermummte, die eilig die Straße entlang huschen.

Tanzmusik und der Lärm eines Balles hinter herabgelassenen Rolläden.

Und wiederum Finsternis, Leere, Stille, die Stadt ist 458 tot. Nur dann und wann klatscht ein Schuß. Das Gewehrfeuer prasselt in der Ferne.

Plötzlich empfindet der General deutlich, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Er fühlt die Nähe eines Menschen.

Ein Schritt wandert hinter ihm! Immer hinter ihm her.

Und auch drüben, auf der andern Seite der Straße – ist es nicht auffallend? – schlürfen plötzlich Schritte. Zuweilen, wenn die Dunkelheit durch einen Lichtschein erhellt wird, sieht er drüben zwei kleine Gestalten dahinkriechen, die mit den Händen winken.

Und der Schritt knirscht hinter seinen Fersen her. Er überquert die Straße, der Schritt folgt ihm, er biegt um die Ecke, auch der Schritt biegt um die Ecke.

Da –nun spürt er den Atem seines Begleiters im Nacken. Eine tiefe, rauhe Stimme raunt dicht an seinem Ohre:

»Ich kenne dich!«

Der General zuckt zusammen. Er eilt weiter, er wagt nicht zur Seite zu blicken.

Und abermals raunt die Stimme:

»General Hecht-Babenberg!«

Drüben, auf der andern Seite, winken die Arme, winken zwei kleine, bleiche Hände.

Der General eilt, aber sein Begleiter eilt mit großen Schritten neben ihm her. Es macht ihm nicht die geringste Mühe mitzukommen. Schon beginnen die zwei Kleinen auf der andern Seite zu laufen.

Lauter beginnt die Stimme des Unbekannten zu raunen, und plötzlich zuckt der General zusammen. Die Stimme hat ein furchtbares Wort ausgesprochen, ein schreckliches Wort – unsägliche Beschimpfung.

Nun rufen die auf der andern Seite. Sie winken und schreien: »Komm doch, komm doch!«

Da bleibt der Schritt plötzlich hinter ihm zurück. Ein Lachen klingt durch die finstere, menschenleere Straße. Eine rauhe, häßliche Stimme schreit: »Licht aus, Messer raus!« 459

 

Der General hatte keine Angst vor der Kugel, nein. Aber während der Unbekannte ihm folgte, hatte er in der furchtbaren Angst gelebt, daß plötzlich eine Faust nach ihm schlagen könnte. Unausdenkbare Schmach! Nur aus diesem Grunde war er entflohen, aus keinem andern.

Wer war es, was wollten sie? Und weshalb dieser furchtbare Schimpfname? Nie, auf Ehre und Gewissen, niemals hatte er von seiner Truppe mehr verlangt, als das Interesse des Vaterlandes unbedingt erforderte!

In Schweiß gebadet, völlig außer Atem, kam er wieder in belebtere Gegenden.

Ein Eishauch entströmte dem dunkeln Tiergarten. Kein Licht, keine Laterne, nichts. Die Fensterläden der Häuser geschlossen, die Fensterscheiben schwarz. Und schwarze Wolken jagten über die kahlen Wipfeln des Parkes dahin. Ein Auto, besetzt von Schatten, flog die finstere Straße entlang. Unaufhörlich erscholl der warnende Ruf: »Straße frei! Straße frei!«

Die dumpfen Detonationen von Handgranaten ertönten drinnen in der Stadt, irgendwo.

Nacht ohne Ende, Nacht der Schrecken!

Auf der Treppe seines Hauses fuhr der General erschrocken zurück: Beinahe wäre er auf einen Menschen getreten!

Wer war hier? Zitternd stand der General.

Etwas wie ein großer, massiger Tierkörper schob sich schleifend die Treppe empor. Ein unerklärliches Geräusch, eine Vibration ging von der dunkeln Masse aus, wie wenn jemand vor Kälte zittert.

Der General lauschte, dann rieb er zögernd ein Streichholz an.

Auf der dunkeln Treppe kauerte ein Soldat mit zwei kurzen Krückstöcken unter den hochgezogenen Schultern. Der Körper des Krüppels wurde unaufhörlich von einem schrecklichen Zittern geschüttelt. Schmutz klebte an seinen Kleidern, seine Beinstumpen waren vollkommen vom 460 Straßenkot durchweicht. Ausdruckslos verschwamm der Blick seiner halbgeschlossenen Augen im erlöschenden Licht des Streichholzes.

Der General beugte sich zu dem Krüppel herab.

»Was haben Sie – sind Sie krank?« fragte er. Er fragte nur, um dem zitternden Haufen Fleisch einen Laut, eine Äußerung seines menschlichen Wesens, zu entlocken. Hastig kramte er in seinem Überrock nach Geld, der Gedanke fuhr ihm sogar durch den Kopf, den Soldaten mit sich ins Haus zu nehmen.

Der Krüppel stieß Laute aus wie ein Taubstummer, ein Röcheln entstieg seinem krampfhaft geöffneten Mund.

»Wo sind Sie verwundet worden, mein Sohn?« fragte der General und beugte sich noch tiefer herab. Auch er, der Krüppel, strömte Kälte aus.

»Wo? Sprechen Sie doch. Wo?«

Mühsam schüttelte der Krüppel Silben aus dem Mund.

»Wo? Ich verstehe nicht.«

Aber plötzlich taumelte der General in die Höhe.

Er hatte verstanden!

Nun zitterte er genau wie der Soldat.

Hastig, ohne zu denken, ließ er ein paar Geldscheine fallen und stieß in aller Eile die Türe auf. Aber als er ins Haus treten wollte, fühlte er plötzlich, wie sein rechter Fuß von einer Hand umklammert wurde, die ihn festzuhalten suchte. War der Krüppel gefallen, suchte er Halt, suchte er seinen Dank auszudrücken? Der General stieß die Hand von sich und trat keuchend in die dunkle Diele.

»Therese!« Oder, was er sonst rief. Jedenfalls rief er etwas, und seine Stimme klang schrill, wie ein Hilferuf.

»Drehen Sie das Licht an, Therese, ich kann den Schalter nicht finden.«

Aber augenblicklich wankte der General aus dem Lichtschein.

Quatre vents! Quatre vents! 461

Von der Höhe kam er, der da draußen –.

Lange Zeit saß der General regungslos in irgendeinem dunkeln Zimmer.

Dann klingelte er dreimal. Das bedeutete: so schnell wie möglich servieren. Er hatte seit dem Morgen nichts genossen. Therese beeilte sich. Jakob? Wangel? Wohin? In der ersten Stunde waren sie von ihm gegangen, ebenso wie Schwerdtfeger. Ja, selbst Jakob, dieser biedere Bauernbursche, dessen Augen aufleuchteten, so oft er ihn ansprach. Trotzdem – in der ersten Stunde, mit einem völlig ungültigen Urlaubsschein, ausgestellt von irgendeinem Soldatenrat.

Als Therese eintrat, saß der General an dem großen, runden Speisetisch, in seinem weiten grauen Feldmantel, der bis zur Erde reichte, den Kragen hinaufgestülpt. Er war in sich zusammengesunken. Aber wie sah er aus? Nicht mehr grau – schneeweiß.

Seine Augen starrten.

Einer von der Höhe!

Quatre vents!

Seine starrenden Augen sahen Bündel von roten Leuchtkugeln in die Nacht steigen – wie damals, in jener Nacht, als er die Höhe verlor.

Einer von jenen! Wie war er hierher gekommen? Seine Zähne schlugen aufeinander.

»Sehen Sie nach, Therese,« flüsterte der General, und seine Stimme nahm bei jedem Wort eine andere Lage an, »vor der Türe ist ein Soldat. Bringen Sie ihn herein.«

Und wieder klapperten die Zähne des Generals. Aber Therese kam zurück. Niemand war auf der Treppe.

»Niemand?«

Ja, vielleicht hatte er sich getäuscht. Wie? Vielleicht war tatsächlich niemand da draußen gewesen?

Also wirklich niemand? – »Haben Sie geheizt, Therese?« 462

»Ich werde den Arzt rufen, Exzellenz sind krank«, sagte Therese.

Der General schwieg und brütete vor sich hin.

Erst nach geraumer Weile verstand er, was Therese gesagt hatte. Er drückte auf die Klingel. »Keinen Arzt, Therese. Ich bin vollkommen wohl. Nur müde.«

Aber die Gabel entfiel seiner Hand: er schlief am Tische ein. Seine kreidige Wange lag auf dem Kragen des weiten Feldmantels.

 


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