Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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2.

Der Tiergarten fröstelte. Unerträglich heiß war es am Tage gewesen, und nun war es plötzlich kühl geworden. Irgendwo in der Nähe von Berlin mußten schwere Gewitter niedergegangen sein, aber man hatte nur zuweilen das tiefe Donnerknurren gehört.

Vor der roten Backsteinvilla in der Lessingallee, mit Efeu überwuchert, hielt eine Droschke.

Händeklatschen. »Petersen! Petersen!« Eine helle Stimme.

Schon öffnete sich die Türe, und Petersen in seinem Zebrakittel eilte auf die Straße.

Ein Offizier stand bei der Droschke, mit einer schwarzen Brille, eine kleine Reisetasche in der Hand.

»Nun, Petersen, alter Knabe, Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Eine hohe, fremde Stimme.

»Herr Hauptmann?« rief Petersen erstaunt und erschrocken aus. Was tat er hier, was wollte er hier? Schon vor dem Kriege hatte er ja nicht mehr hier gewohnt.

»Welche Überraschung, Herr Hauptmann!« 373

»Ja ja, Petersen – so geht es – wenn man sich lange nicht sieht. Meine Frau –?«

»Im Bade, Herr Hauptmann. Kommt morgen!«

»So? Nun, ich werde nicht stören. Nur ein paar Tage, bis ich eine Wohnung gefunden habe. Na, und es geht immer gut, alter Petersen?«

»Danke, Herr Hauptmann, sehr gut, danke!«

Petersen nahm die Reisetasche, und Hauptmann v. Dönhoff stolperte die Treppe hinauf.

»Ah, wie dunkel! Ihr habt wohl eine Kleinigkeit zu essen für mich? Den ganzen Tag im Zuge –.«

Wie leer diese Stadt, wie ausgestorben! Hauptmann Dönhoff roch die Stille und Ausgestorbenheit. Berlin war tot, ohne Zweifel. Hier und da ein Schritt, ein zögernder, nachdenklicher, mutloser Schritt. Ja, mutlos gingen alle diese Schritte in den dunkeln Straßen dahin, mutlos und bestrebt, keinen Lärm zu machen.

Und früher, früher!

Auch dieses Haus, sein früheres Haus – totenstill. Welche Feste hatten sie hier gefeiert. Er hörte sein früheres Lachen! Zweihundert schöne Frauen hatte er besessen, siebzig Rennen gewonnen, zwei Elefanten und ein Nashorn geschossen, als einer der ersten war er in Deutschland geflogen, einer der Entdecker des deutschen Himmels – ja, es hatte sich manches geändert.

Aber den Geruch des Hauses erkannte er sofort wieder. Doras Parfüm und eine gewisse Schwüle.

»Hoppla, Petersen –.« Er stieß gegen ein Tischchen in der Garderobe. »Ich sehe etwas schlecht, bis man sich wieder eingewöhnt.« Immer sprach er mit einer hohen, fremden Stimme, hastig, unsicher, wie ein Mensch, der sich schämt.

Petersen eilte in die Küche und machte Zeichen mit den Fingern vor der Stirn.

»Er ist – so wahr mir Gott helfe, nein, was wird die 374 Gnädige sagen? Was will er hier? Sie sind doch getrennt. Aber sehen Sie doch selbst. Er ist, mein Himmel, wie merkwürdig –.«

Mina also, neugierig wie sie war, mußte sich ihn selbst ansehen.

Sie fand Hauptmann v. Dönhoff auf einem Sofa, eine Zigarette rauchend. Er richtete, als sie eintrat, die dunkle Brille auf sie, lächelte, und sie konnte vor Schreck keinen Ton hervorbringen. Der Gruß blieb ihr im Halse stecken. Sie hätte ihn – bei Gott – nicht wieder erkannt: grau, völlig grau, fast weiß, gelb, alt, um zwanzig Jahre älter mindestens! Und dieses Lächeln des welken Gesichts, diese Falten um den Mund – nur solche Leute konnten so lächeln, nur solche – Petersen hatte recht.

Mein Gott, welche Angst sie hatte! Weshalb mußte sie auch gleich hereinlaufen.

Hauptmann v. Dönhoff gähnte. Er blickte sie durch die dunkle Brille an, verfolgte jede ihrer Bewegungen. Dann sagte er lächelnd: »Na, also, Petersen, alter Knabe, erzählen Sie doch, was es Neues gibt in Berlin?«

Petersen! Er hielt sie für Petersen!

Vor Schrecken hätte Mina beinahe einen Teller fallen lassen.

 

Und das Feuer rollte.

Wie ein blutüberströmtes Antlitz stieg die Sonne aus der endlosen Staubwolke empor. Die in der Nacht fielen, waren jetzt schon kalt. Auf den Chausseen lagen in Stücke zerrissene Pferde und Männer, zertrümmerte Wagen und zerschmetterte Bäume; ihr grünes Laub rauschte im Morgenwind. Die Mütze über die geschorenen Schädel gezogen, kamen die Befehlsüberbringer im Auto angefegt und setzten über die rauschenden grünen Äste, die quer über der Straße lagen, hinweg.

Der Himmel stand voller Schrapnellwolken, Schwärme 375 von Fliegen brausten im Frühlicht. Die Geschütze stampften, pochten, knackten – die rasende Erde beschoß aus ihren Kratern das aufgehende Gestirn der Sonne.

Wie gestern, wie vorgestern, wie alle Tage stürzten brennende Menschen aus dem Himmel. Ein Hagelsturm von zerfetzten Leibern fegte über die Erde. Millionen Herzen verkrampften sich in Todesangst.

Und die Wolke, die rostbraune, schiefergraue Wolke stand unendlich über der Walstatt.

 


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