Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

In der Tat, das Telegramm – das Dora lässig zusammenfaltete und in eine kleine japanische Lackschale legte – kam aus dem Felde. Hauptmann Dönhoff hatte es heute morgen abgeschickt, und eben jetzt dachte er, ob das Telegramm wohl schon angekommen sei. Beinahe nämlich hätte er Doras Geburtstag vergessen. Erst in der Nacht, als er durch einen dumpfkrachenden Einschlag geweckt wurde, war es ihm eingefallen und er hatte sich sofort eine Notiz gemacht. Sein Gedächtnis war im Laufe der Kriegsjahre völlig geschwunden.

Er saß mit seinem Adjutanten Kammerer in seinem Unterstand, zwei Meter unter der Erde, mitten in den Finsternissen des Argonner Waldes. Eine kleine Petroleumlampe, ein eiserner Ofen, der immer glühte, ein Telephon, zwei Pritschen und allerlei Gerümpel, das war die Ausstattung. Die Wände schwitzten von Nässe. Kammerer war eifrig damit beschäftigt, seine kurze Stummelpfeife zu reinigen. Er bediente sich einer Krähenfeder, die er – da draußen – gefunden hatte. Dönhoff, der Batteriechef, tat gar nichts, er gähnte zuweilen, gähnte. Er war nicht schläfrig, sondern nur müde, immerzu müde.

In der Ferne brummte ein schweres Geschütz. Ganz deutlich war sein tiefes mächtiges Raubtierknurren aus dem Lärm, dem Knacken und Donnern der fernen und nahen Geschütze herauszuhören.

Hauptmann Dönhoff hob horchend das gelbe Gesicht.

»Hören Sie? Da ist er wieder!«

Der junge Offizier blickte nicht auf, er war voller Andacht bei der Arbeit.

»Er schießt jetzt wieder öfter mit dem schweren Geschütz«, erwiderte er leichthin. »Sie haben mehr Munition.«

Die Erde zitterte, und ein lautes Krachen ertönte. 29 Hauptmann Dönhoff lachte belustigt. »Da, da,« sagte er, »er streut jetzt unsere Kuppe ab.«

Kammerer antwortete hierauf nichts mehr. Er blies voller Anstrengung in das verstopfte Pfeifenrohr. Der braune Tabaksaft quoll heraus, aber, der Teufel, immer noch mußte etwas im Rohr stecken.

»Sie sollten einen Draht nehmen, Kammerer.«

»Es muß auch so gehen –«

Wieder gähnte Hauptmann Dönhoff. Seine Zähne waren gelb und schlecht gepflegt.

Hier in diesem verfluchten Wald wurde man, mit Respekt zu sagen, langsam zu einem Schwein. Über ein Jahr lag er mit seiner Batterie an der gleichen Stelle. Neulich sah es so aus, als ob sie nach der Champagne kommen sollten – aber es war wieder nichts daraus geworden. Auch die Champagne war kein Paradies, aber es gab wenigstens Licht dort – hier war es immer düster.

Tag und Nacht hallte dieser finstere Wald wider von einem unheimlichen Dröhnen und Rasseln, Lachen, Niesen und Husten. Tag und Nacht strichen winselnde und klagende Stahlvögel über ihn dahin und das Rasseln der Maschinengewehre hämmerte hundertfach verstärkt in den Waldschluchten – bis plötzlich alle Lärme von einem einzigen großen Lärm sekundenlang übertönt wurden. Gestern ist die Eiche vor dem Unterstand zersplittert, heute stürzte eine hohe Tanne zu Boden. Die Splitter leuchten in der Finsternis. Der Regen rauscht, Ströme von Lehm fließen die schmalen Knüppelwege hinab, die die Soldaten durch das Dickicht geschlagen haben. Zuweilen trifft man auch ein menschenähnliches Wesen, bis an die Augen mit Lehm beschmiert. Zuweilen schleppen sich auch Trüppchen von Gespenstern, mit blutigen Binden an Köpfen und Armen, die Knüppelwege hinunter – nein, pfui, der Wald ist kein Platz für einen Gentleman!

Hauptmann Dönhoff denkt an Sonne – an eine Wüste, 30 in der Sonne, flimmernd von Licht, zitternd, vibrierend vor Hitze. Es würde ihm direkt Vergnügen machen, einmal tüchtig in der Sonne zu schwitzen. Und plötzlich kommt ihm Dora in den Sinn. Das Telegramm mußte nun wohl da sein. Langsam kriechen die Gedanken.

»Kannten Sie nicht General v. Hecht-Babenberg, Kammerer?«

»Welchen Babenberg?«

»Nun, den, wissen Sie – man hat ihn nach Hause geschickt –«

»Nie gesehen. Weshalb fragen Sie?«

»Ich dachte gerade an ihn – nur so –«

Was will er? dachte Dönhoff und erinnerte sich an das, was man ihm berichtet hatte. Was beabsichtigt er? Dora? Erwachsene Kinder – man kann nie wissen. Dora drang darauf, daß er bald nach Berlin käme – es fehlte noch eine Unterschrift in der Urkunde – gut, an ihm sollte es nicht liegen.

Kammerer strahlte. Plötzlich pfiff die Luft durch das Pfeifenrohr. »So, das Kind hat Luft –«

Das Telephon tutete. Die Beobachtung meldete, daß der Feind in der neuen Sappe unverschämt arbeite.

Schon trillert Kammerers Pfeife draußen im Wald. Die Geschütze der Batterie Dönhoff sind über eine weite Strecke verteilt und erst zu erkennen, als die dunkeln Rohre sich plötzlich bewegen. Hier im Wald ist es schon ganz düster, aber draußen bei der Beobachtung sind im Scherenfernrohr noch deutlich die Nebelgestalten zu unterscheiden, die dicht am Waldrande bei Boureuille Erde aufwerfen.

Da donnern auch schon die Geschütze. Wütend, mit kurzen harten Schlägen, und das Echo rollt breit und drohend dahin. Die Petroleumlampe schwankt, während Hauptmann Dönhoff müde die Augen schließt und gähnt.

Nun rieselt es draußen im Wald wie Regen. Die welken Blätter, die noch an den Bäumen hängen, fallen, von den Luftwirbeln losgerissen, zu Boden. 31

 

Und Ruth? Wo ist Ruth?« fragte Gräfin Heller. »Weshalb ist sie nicht gekommen?«

»Sie hat immer mit ihrer Küche zu tun.« Ruth, die Tochter des Generals, arbeitete in einer Mittelstandsküche, ehrenamtlich natürlich, nicht gegen Bezahlung.

»Ruth war heute vormittag bei mir«, warf Dora ein.

Verführerisch war Doras Teetisch gedeckt, Blumen, Kuchen, Konfitüren.

»Wann wird die Hochzeit sein?« Ruth war mit einem Baron Dietz, einem der reichsten pommerschen Grundbesitzer, verlobt. Er war zurzeit in Bukarest bei der Verwaltung.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der General und schüttelte den Kopf. »Im Sommer wahrscheinlich. Ruth hat Lust, bis zum Frieden zu warten, wie mir scheint. Ich kümmere mich grundsätzlich nicht um die Angelegenheiten meiner Kinder –«

Butzi, einem alternden übellaunigen Löwen lächerlichen Formats ähnlich, saß auf dem Schoß seiner Herrin und betrachtete aufmerksam, mit nachdenklich gekräuselter Stirn den General, seinen Feind, dessen blanken Stiefeln nahezukommen gefährlich war.

Krieg, Nahrung, Politik – in jeder Gesellschaft, sobald nur zwei Menschen zusammentrafen, versank man rettungslos augenblicklich in das gleiche Thema. Verzweifelte Anstrengungen, die Blicke glitten in die Ferne, ein Lächeln versuchte die Mienen zu verklären – gewiß, es gab Himmel und Hölle im menschlichen Herzen, Engel und Teufel wandelten auf der Erde, bestechend durch ihre Liebe und ihre Kraft, ewig unergründliche Probleme bewegten unsichtbar die Jahrhunderte – immer noch flog die Sonne, ein Ball überhitzter Gase, samt ihren winzigen Planeten mit der Geschwindigkeit von zwanzigtausend Sekundenmetern, unfaßbar, dem Sternbild der Leier zu – immer noch war das Einfachste nicht ergründet, die Vergangenheit 32 rätselhaft, die Zukunft undurchdringlich, die Gegenwart unbegreiflich, immer noch schaukelte der Mensch, ein Atom, nicht einmal ein Atom, über den Abgründen der Mysterien, voller Entsetzen, voller Hoffen – immer noch war alles geheimnisvoll, unfaßbar. Noch immer versank der Mensch jede Nacht in einen erschreckenden Zustand der Bewußtlosigkeit. Noch immer war die Liebe, die mütterliche, unbegreifliche, offenbart im winzigen Insekt, in Doras Lachen und selbst in den ernsten Gesichtern der Damen Sterne-Dönhoff– noch immer war sie allgegenwärtig – gewiß!

Aber doch – gänzlich hoffnungslos. Es war wie die Verdammnis selbst! Das verklärende Lächeln erlosch, der Blick flüchtete erschrocken zurück – nichts blieb: Politik, Krieg, Nahrung.

Das politische Schicksal – die Summe der menschlichen Schwächen und Irrtümer – hatte die Gedanken versteinert. Die Staubschicht der Schlachtfelder, die bis an die Grenze der Atmosphäre hochstieg, lastete wie ein Gebirge auf den Gehirnen, vom Atlantik bis zum Pazifik – die Gehirne bewegten sich nicht mehr. Butzi allein führte sein eigenes geistiges Leben weiter. Weshalb, zum Beispiel, durfte man den Hosen mit den roten Streifen nicht zu nahe kommen? Weshalb zuckte die Stiefelspitze, wenn man mit der Zunge den Glanz der Stiefel berühren wollte? Antworte, gerechter Himmel! Wonach roch er? Nach, um es kurz zu sagen, Gleichgültigkeit und Verachtung. Er liebte Hunde nicht. Und plötzlich, ohne es selbst zu wollen, knurrte Butzi, ohne zu wissen, was er tat und weshalb plötzlich der Zorn in seinem kleinen Stahlherzen klopfte.

Butzi bekam sofort eine Ohrfeige. Aber das nahm er nicht übel. Denn es war ja seine Herrin, deren Lachen er liebte, deren Geruch er liebte – sie, die Freundschaft fühlte für die Hunde, Liebe. Die Wohltäterin und Heilige – obschon diese kläffenden Ungeheuer sie vielleicht für verworfen hielten – für schamlos – für . . . 33

Nein, Butzi verstand die unartikulierten Laute dieser kläffenden Ungeheuer nicht. Er begriff ihren Eifer nicht, ihre Erregung. Offensive, die bevorstehende große Offensive – der Entscheidungsschlag. Unbegreiflich! Der Herr mit den roten Streifen glaubte nicht an die Amerikaner, und die Damen lächelten. Wie beliebt? Bluff, mit einem Wort. Er gestand, daß er besorgt war – besorgt, nicht mehr! Hätten sie sich auf Spezialwaffen beschränkt – Fliegertruppen, Automobilkorps, Artillerie – er hätte vor Angst gefiebert. Aber eine Armee? Unmöglich! Woher das Offizierkorps nehmen? Nun, die Rüstungen galten ja gar nicht uns! Nein! Der größte und geschickteste Bluff der Geschichte.

Hier wollte Otto etwas einwerfen, aber der General wandte ihm den Blick zu, und er schwieg.

Und die Transportfrage, ich bitte? Willkommene Beute für unsere U-Boote, so sagte der Minister.

Die Damen hingen an den Lippen des Generals. Ihr Atem ging plötzlich leichter. Gräfin Heller beliebte die Zwischenfrage: ob das Volk – so ganz im allgemeinen –?

Der Herr mit den roten Streifen runzelte vorwurfsvoll die Stirn. Dann lösten sich seine Züge zu beschämender Zuversicht.

»Ein kleines Beispiel nur, wenn die Damen gestatten wollen – wie herrlich dieses Volk ist. Einer meiner Burschen, er begleitete mich durch den ganzen Feldzug, Jakob mit dem Familiennamen, ein Bauernsohn. Ich frage ihn, ob er nicht gerne wieder dabei wäre, da draußen, wenn es nun wieder losgeht? Natürlich möchte er das! Er strahlt über das ganze Gesicht! Sie sollten dieses Strahlen gesehen haben, Gräfin! Aber, sage ich, höre, wenn ich dich nun hier brauche? – Langes, tiefes Sinnen. Das echt deutsche tiefe Sinnen! – Dann bleibe ich bei Herrn General! – Gräfin, zwei der augenfälligsten deutschen Charakterzüge mögen Sie in dieser kleinen Szene erkennen: die dem 34 Deutschen angeborene Kampfesfreude und seine Mannestreue –«

Die Gräfin blinzelte lächelnd mit den gepuderten Wimpern. Immer noch spricht der General. Jedes seiner Worte atmet Zuversicht. Heute abend wird Gräfin Heller jede Einzelheit des Gesprächs jener einflußreichen Persönlichkeit berichten. Jedermann weiß das. Der hohe Würdenträger ist vorzüglich informiert über die Meinungen aller Persönlichkeiten, die eine Rolle im öffentlichen Leben spielen. Sein Lächeln ist tödlich. Ein anerkennendes Wort seiner schmalen Lippen mehr wert als eine gewonnene Schlacht. Sehr wohl weiß der General, daß man dort nur einen gesunden Optimismus liebt.

Butzi ringelte sich resigniert auf dem warmen Schoß der Herrin zusammen.

Reserven, ungeheure Reserven. Gestaffelt bis Frankfurt, Mainz, selbst Münster ist Etappe. Alles was in Rußland war – die neuen Mannschaften – eine Millionenarmee, furchtbar und stark wie am Anfang des Krieges. Wie eine unheimliche Flutwelle wird die Armee vorrollen, alles niederwerfend –

Eine andere, etwas hellere und weniger trockene Stimme sprach nunmehr. Es war der Mann mit den Krücken. Die Augen der Majorin Sterne-Dönhoff leuchteten. Die Gräfin schlürfte blinzelnd den Tee.

Ja, das Gas! Das Gas wird der Armee den Weg bereiten! Das fürchterliche Gelbkreuz und Blaukreuz. Es zerfrißt die Gasmasken, selbst Leder, jede Berührung, auch die kleinste, ist tödlich.

Die Gesichter strahlten, schon röteten sich die Wangen der Schwestern Sterne-Dönhoff und des jungen Heinz wie im Fieber. Der General blickte mißtrauisch zum gelbseidenen Vorhang. Ob nicht ein Lauscher in der Nähe sei, ein Dienstbote vielleicht. Er fand es im höchsten Grade unvorsichtig von Hauptmann Wunderlich, über diese 35 geheimen Dinge so unumwunden zu sprechen – obschon man ja, gewissermaßen, unter sich war.

Butzi war endlich eingeschlafen.

»Gebe Gott, daß es zu Ende geht«, sagte Gräfin Heller mit einem tiefen Seufzer. »Ich möchte reisen!«

»Aber Sie können doch, Liebste? Sie reisen ja ununterbrochen!«

»Ich möchte nach Paris reisen!«

»Nach Paris!«

Aber augenblicklich hatte der General seine Fassung wieder gefunden. Er beugte sich vor. »Sie werden nach Paris reisen, Gräfin!« versichert er mit Feierlichkeit in der Stimme. »Ich gebe Ihnen mein Wort!«

»Ich werde – Herr General?«

»Ja«, fuhr der General mit derselben Feierlichkeit fort. »Paris und Calais werden fallen, Gräfin, die Trümmer der englischen Armee werden ins Meer geworfen – im Sommer werden wir in Paris den Frieden diktieren. Dies ist meine heilige Überzeugung!«

»Gott segne Sie, General!« Gräfin Heller zog die kleine Hand aus dem Muff und streckte sie lachend dem General entgegen.

Diese kleine Unterbrechung – während sich der graue Scheitel über die kleine Hand beugte – benutzte Otto. Er erhob sich rasch, und auch Heinz schnellte in die Höhe. Die beiden jungen Offiziere verabschiedeten sich.

Butzi erwachte, überzeugte sich, gegen den General schielend, daß er noch blieb, und ringelte sich, ergeben in sein Schicksal, wieder zusammen.

 

Otto beugte sich über Doras Hand, die wie eine Koralle blühte, und seine hellen verwegenen Augen – doch Dora wehrte lächelnd seinen Blick ab.

»Leben Sie wohl, Otto – auf gesunde Wiederkehr!« sagte sie, und ihre Grübchen schimmerten. –

»Ich hatte noch gar nicht Gelegenheit, Gräfin – mich 36 nach dem Befinden Seiner Exzellenz zu erkundigen – ich darf doch hoffen, daß Seine Exzellenz –« Die Stimme des Generals sank zu einem ehrfurchtsvollen Raunen herab.

»Seine Exzellenz waren vor kurzem in ernster Lebensgefahr. Der Hofzug, wissen Sie – und ein feindlicher Flieger – eine Bombe – aber Gott sei Dank passierte nichts. Die Bombe traf, leider, einen Lazarettzug – die Armen –.« Die Gräfin aber hatte alles gefühlt. Zur selben Stunde erwachte sie, im Traum erschreckt durch einen Feuerschein. So geheimnisvoll innig war die Verbindung zwischen ihr und ihrem Bruder.

Das Gesicht des Generals zeigte äußerste Bestürzung.

»Ist es möglich – eine Bombe – und man erfährt es jetzt erst –? Wann?«

»Vor etwa zehn Tagen.«

»Vor zehn Tagen! Und man – haben Sie gehört, Dora?«

Der General konnte es gar nicht fassen.

 


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