Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Plötzlich erhob sich der General. Seine Hände griffen nach dem Geländer der niedrigen Balustrade. Hatte nicht eben die Empore geschwankt wie bei einem Erdbeben? Die Musik versank, der Ballsaal war leer, brodelndes Nichts. – 222

Ein unerklärliches Gefühl der Verlassenheit schnürte ihm die Brust zusammen. Eine fremde Welt, unverständlich! Aber plötzlich trieb ihn ein Verlangen, sich unter diese fremden, unverständlichen Menschen zu mischen, die sich in bunte Lappen hüllten und lachten. Ein paar Worte, Dora, ein paar Worte mit ihr sprechen!

Vorsichtig und tastend stieg er die wurmstichige Rokokotreppe hinab, die unter dem Gewicht seines schweren Körpers krachte. Nunmehr war es ja auch sehr unwahrscheinlich geworden, daß jene hochgestellte Persönlichkeit, mit der er gerne ein paar Worte gewechselt hätte, das Fest noch mit ihrem Besuche beehren würde. Der General bedauerte es aufrichtig. Jene hochgestellte Persönlichkeit war niemand anderes, als der Bruder der Gräfin Heller, dessen Name man nur ehrfürchtig zu flüstern wagte. Der General hatte die Gelegenheit begrüßt, in den Gesichtskreis einer Persönlichkeit treten zu können, die das Ohr des Allerhöchsten Herrn hatte und über Schicksale entschied. Denn, nunmehr war es offenbar: man hatte ihn vergessen, vollkommen vergessen.

Am Fuße der Treppe stand der General still. Der Blick seiner hellen, grauen Augen glitt über den Saal. Das breite, erdfarbene Gesicht zuckte bei der Bemühung, die Starrheit der Miene zu lösen. Es mißlang. Diese sorglosen, heiteren Menschen vermochten keine Teilnahme in seiner Brust zu wecken, kaum daß Doras Lächeln, das ihn traf, so oft sie vorbeitanzte, eine flüchtige Wärme in seinem Herzen anfachte.

Nein, fremd, unverständlich!

Er begab sich in das Speisezimmer, trank ein Glas Sekt und zerkaute gelangweilt ein belegtes Brötchen.

Der Erfrischungsraum war fast völlig leer. Ein Vermummter lehrte mit feierlichem Ernst einer Verschleierten einige schwierige Tangoschritte. Andächtig schob sich am Büfett ein befrackter Rücken entlang, von Schüssel zu Schüssel. 223

Dieser andächtige, befrackte Rücken war der Geheime Rat Westphal, den der Anblick der aufgestapelten Herrlichkeiten völlig hypnotisiert hatte. All die Kriegsjahre hindurch hatte er sämtliche Vorschriften und Gesetze, die die Ernährung betrafen, peinlich genau befolgt. Schon wurde es ihm beschwerlich, eine Treppe zu steigen, sein Gedächtnis schwand, er schlief vor Schwäche die Hälfte der Zeit in seinem Bureau im Auswärtigen Amt, schlief, schlief, aber befolgte die Vorschriften, denn schließlich gehörte er ja zur Regierung, die sie erließ. Und hier, war es möglich, hier gab es ganze Schinken, man denke sich! Es gab hier ganze Puten, ganze Gänse, man denke! Es gab hier ellenlange Braten, man denke! Das Fett troff von den Schüsseln, es gab hier Sardinen, woher denn, beim allmächtigen Gott, sogar Früchte, obgleich sie beschlagnahmt waren. Es gab hier Torten und Kuchen wie in einer Konditorei vor dem Kriege. Es gab hier Butter, und es gab sechs verschiedene Sorten von Käse. Der Geheime Rat hatte sich der Wollust des Kauens hingegeben. Er kaute, er nahm hier ein Stückchen Lachs, dort einen Putenschenkel, dann ein Stückchen gesülztes Fleisch, dann wiederum ein Schnittchen rohen Schinken. Auch ein Scheibchen Gänsebraten, von der Brust, eine Pfaffenschnitte dazu, so! Seit zwei Jahren hatte er nicht mehr ordentlich gegessen. Er knabberte ein Radieschen, und, wie gesagt, die ganze Reihe der Käse und der Kuchen lag noch vor ihm. Andächtig schob er sich an den langen Tischen entlang, den Blick durch die Brille gleichzeitig auf alle Herrlichkeiten gerichtet.

Plötzlich aber blitzten in seinen Gläsern Ordensauszeichnungen, Stickereien, das Rot des Generalstabes funkelte. Er prallte zurück.

»Herr General«, sagte er, sich verbeugend, und balancierte den Teller geschickt auf der Hand.

Der General machte eine kühle Bewegung mit dem Kopfe 224 und knarrte irgend etwas in der Kehle. Nichts haßte er mehr als Aufdringlichkeit.

»Geheimer Rat Westphal. Ich hatte bereits die Ehre, Herr General.«

Eine kleine Pause der Verlegenheit entstand, die immer eintrat, wenn Vertreter der hohen Generalität und Angehörige des Auswärtigen Amtes sich begegneten.

Der General hatte einen unüberwindlichen Argwohn allen Beamten des Auswärtigen Amts gegenüber, und der Geheime Rat seinerseits gebrauchte allen Militärs gegenüber – äußerste Vorsicht! Er hatte Angst vor ihnen, er fürchtete sie, offengestanden.

»Ich bin allerdings etwas mager geworden«, sagte der Geheime Rat mit nachsichtigem Lächeln und schob den Finger zwischen Kragen und Hals. »Ich trug vor dem Kriege Kragen 42, aber nun könnte ich 38 tragen.«

»Es geht uns allen nicht besser«, antwortete der General. »Wie beurteilen Sie diese Sache?« Und der General langte nach einem Lachsbrötchen.

Der Geheime Rat griff nervös nach dem dünnen Chinesenbart.

»Ich bin,« begann er, »ich bin hoffnungsvoll. Es ist natürlich schwer zu sagen, aber ich halte die Lage, jetzt in Anbetracht der militärischen Situation für, ich möchte sagen, ganz vorzüglich, obgleich zu bedenken ist – England –.«

»Wie, bitte?« Der General beugte sein knorpeliges, rotes Ohr mit den kleinen Haarpinseln zu dem Chinesenbart herab.

Der Geheime Rat knackte verwirrt mit den Fingern und wich etwas zurück. »Ich spreche natürlich nur meine private Ansicht aus. Ich kenne keineswegs – ich weiß keineswegs, wie der Minister die Situation beurteilt. Ich habe den Minister seit einem Jahre nicht gesprochen.«

»Sie sprechen von der politischen Lage?«

»Ich meinte, Herrn General so verstanden zu haben.«

»Ich meinte nur, wie Sie diese Sache heute abend finden.« 225

»Oh – Verzeihung! Ich finde, es ist wie ein Delikatessenladen vor dem Kriege, genau so, eine Art, möchte man sagen, Schlaraffenland, hahaha!«

»Après nour le déluge!« sagte in diesem Augenblick ein heftig schwitzender Beduine zu einer zierlichen Schleierfee.

Rügend wandte sich das Auge des Generals auf den Beduinen. Gerade dieser Geist war es, der am Mark des Volkes zehrte. Mit einer Art von Bewunderung mußte er in diesem Moment an den französischen Ministerpräsidenten denken, der all diese Schwätzer und Kleinmütigen ohne viel Umstände – an die Wand stellte!

Wo aber war hier, hier in Deutschland das hypnotische Auge, das diese Hypnose des Schreckens, die unter allen Umständen nötig war, auf das Volk ausübte? Wo hier –?

In diesem Moment verbeugte sich ein Befrackter vor dem General, als wolle er ihn zum Tanz engagieren. Es war indessen nur Petersen, der meldete, daß Seine Exzellenz gekommen waren.

Eine flüchtige Röte huschte über das erdfarbene Gesicht.

Schon hatte der hohe Würdenträger den Saal betreten. Am Arme Doras trippelte er dahin, ein greisenhaftes, zerstreutes Gewohnheitslächeln auf dem langgezogenen, völlig glatten Wachsgesicht, das wächserne schmale Ohr aufmerksam gegen Doras gemalte Lippen geneigt. Ein Ordensstern blitzte auf seinem Frackhemd.

Augenblicklich dämpfte sich der Lärm des Festes.

»Wer ist es?«

Leises Wispern.

»Ah –?«

Ganz deutlich war plötzlich für alle der Abglanz der Allerhöchsten Gnadensonne, in deren Schein der hohe Würdenträger nach Fügung des Himmels seine Tage verlebte, auf dem wächsernen, glatten Gesicht zu sehen.

»Und was für einen Orden trägt er?«

»Wie alt er geworden ist! Nur seine Augen sind noch 226 die gleichen!« dachte Dora, während sie sich an ihn schmiegte, als sei sie seine Tochter. Sie durfte diese Vertrautheit wagen, denn er hatte in ihrem Hause verkehrt – damals! Er wußte alles. Aber damals war er noch nicht Exzellenz, damals wurde er von seinen Freunden noch Franz der Erste genannt, und die intim befreundeten Damen nannten ihn einfach Franzl. Auch sie nannte ihn so. »Was ist nun aus ihm geworden? Eine Ruine!«

Aber Dora strahlte.

Der hohe Besuch rief Erinnerungen wach in ihr an jene Zeit – an damals – da sie bewundert und auf den Händen getragen wurde, von aller Welt, da alle Welt wetteiferte, ihr gefällig zu sein, da täglich Geisterhände sämtliche Vasen und Schalen ihres Hauses mit den wunderbarsten Blumen füllten. Und das heutige Fest erschien ihr plötzlich als eine Fortsetzung jener blendenden Feste dieser Zeit. Wieder trug sie in einer Nacht ein Dutzend verschiedener Kostüme, wieder wurde sie stets neu entdeckt und stets neu bewundert. Wieder war sie von einem Schwarm von Anbetern umgeben. Da war dieser Hauptmann, mit dem drolligen Namen Feuerwalze – hoffnungslos verliebt in sie! Da war dieser Sonderbare, Unbekannte mit der rasselnden Schale, der sie auf Schritt und Tritt verfolgte – und da waren noch andere, die ihr Worte ins Ohr flüsterten, die beim Tanzen plötzlich – und ein eifersüchtiges Auge wachte über ihr – ganz wie damals.

»Hier ist er!« rief Dora mit heller Stimme und übergab den hohen Würdenträger auf der Empore dem General.

 


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