Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Immer noch sprach der freundliche Greis – mit leiser, feierlicher Stimme. Und immer noch verharrte das Haus in Totenstille.

Der kleine gütige Greis sagte Ja, und er sagte Nein. Er sagte Sofort und sagte Niemals. Vorsichtig und sorgfältig fügte er Wort an Wort zu kunstvollen Sätzen. Zuweilen huschte sogar etwas wie rethorischer Glanz über seine Rede, ein Glanz wie er über Reliquien in den Kathedralen liegt.

Die Erregung hat seine Greisenbäckchen gerötet wie die Bäckchen eines Kindes.

Er war nicht abgeneigt, Zugeständnisse zu machen, das 265 heißt nicht eigentliche Zugeständnisse, es wäre ihm natürlich unmöglich, irgendwie und in irgendeiner Form auch nur das geringste . . .

Er versicherte heilig seine Friedensgeneigtheit, ja, jeden Tag würde er Frieden schließen, aber natürlich, er bittet, nicht mißverstanden zu werden – er war entschlossen, fürchterlich entschlossen . . .

Und er schwingt die kleine hilflose Greisenfaust durch die Luft. So entschlossen war er.

Ja, entschlossen . . .

Der General setzte den Kneifer auf und warf den Kopf in die Höhe. Vor ihm glänzte die bedeutsame Glatze eines Admirals, neben ihm schimmerte nichtssagend das dünne gebürstete Haar eines Diplomaten.

Die Tribünen gegenüber lagen im Halbschatten. Kopf an Kopf, eine gesichtähnliche Nichtigkeit neben der anderen. Und doch . . . Er fühlte sich unbehaglich – früher war er ähnlichen Einflüssen überhaupt nicht zugänglich gewesen, indessen der Krieg – die Überarbeitung . . .

Da!

Ein glänzendes, bleiches Gesicht unter all den matten Nichtigkeiten und ein paar Augen voller Schrecken und Entsetzen auf ihn gerichtet. Vielleicht nicht auf ihn, eigentlich mehr auf den kleinen Greis, dessen Kinnlade sich ruckartig bewegte. Der General hatte das Gesicht schon irgendwo gesehen, vermochte sich indessen im Moment nicht zu entsinnen. Es war nicht Schrecken, es war Grauen, das von dem glänzenden, bleichen Gesicht mit den schwarzen rasenden Augen ausging. Dieses Grauen lähmte die Zunge des sprechenden Greises, lähmte seine Bewegungen. Sein erhobener Arm sank plötzlich herab, er schöpfte Atem, hastig, seine schmalen Schultern schoben sich in die Höhe – er beugte sich tiefer über das Manuskript und stotterte.

Das bleiche phosphoreszierende Gesicht aber wuchs in die Höhe – schon fiel es allenthalben auf. Der Diplomat 266 mit den dünnen, säuberlich gebürsteten Haaren blinzelte beunruhigt und runzelte die Stirn.

Die dünne feierliche Stimme des Greises erschallte wieder.

Die kleine eigensinnige Greisenfaust schlägt auf den Tisch, und eigensinnig wiederholt die tonlose und feine Stimme Ja und Nein, Niemals und Sofort. Nun sind es keine Worte mehr, nun sind es nur noch Laute, nur noch Luftwellen . . .

Nein, nein, nicht ein Greis sprach –

Deutlich sah Ackermann, daß dieser Greis eine Leiche war, die redete! Die Tribünen standen voller Leichen in den Uniformen von Generalen und Admiralen, mit Orden und Tand behängt, die Abgeordneten waren Leichen, die still dasaßen, die Stenographen, der greise Präsident, der den Kopf in die Hand stützte.

Leichen, ein Parlament von Leichen.

Und die Sonne umspielte sie. Die lebendige Stimme Gottes rief und donnerte, aber sie hörten sie nicht.

Da aber begannen die Leichen zu erbeben wie Schilf im Wind. Ein Sturmwind brauste durch das Haus. Die Leichen sanken zusammen, vermodert sanken Uniformen und glitzernde Ordenssterne dahin.

Gesang . . .

In der Ferne ertönte ein Schritt, der dröhnende Schritt von Hunderttausenden, Millionen – Gesang fliegt vor ihnen her. Und dieser Gesang ist der Sturmwind –

Da berührte jemand seinen Arm, eine knöcherne harte Hand, und eine trockene Stimme sagte: »Sie dürfen sich nicht so über die Brüstung legen.« Ackermann befand sich wieder auf der kleinen Tribüne, wo zusammengedrängt das Volk sitzt, das keine reservierten Plätze vorfindet. Er war nahe daran gewesen, eine seiner Ohnmachten zu bekommen. Im selben Augenblick wurde applaudiert. Die Ordenssterne und Uniformen rauschten durcheinander. Der 267 freundliche Greis setzte sich und träumte wieder von seinem Sarg, aus dem man ihn aufgescheucht hatte.

Die Abgeordneten betraten nacheinander die Rednertribüne. Worte und Gesten. Schon ist die Zeremonie zu Ende. Die Tribünen beginnen sich zu leeren.

Aber halt! Hier ist noch einer, der etwas zu sagen hat. Er hat die furchtbare Frage des Schicksals vernommen, das Antwort fordert. Er will zur Tribüne stürmen. Aber die Fettnacken und wehenden Bärte halten ihn zurück, die Rechtsanwälte und selbst die vom Hunger Ausgemergelten. Selbst sie! Die Journalisten auf ihrer Tribüne schütteln sich vor Lachen.

Flammend steht er, der einzige, zornrot, mit weißen Haaren. Seine rasende Stimme erstirbt im Lärm.

Schon sind die Tribünen leer. – – – – – – –

Die Pulse fliegen. Die Lider peitschen die Augen, das Blut donnert in den Ohren, und die Glieder schwingen. Die Erde hebt sich, bald wird sie zerreißen – Rauch, Feuer! Genug, genug!

»Genug und vorbei!«

Das blaue Himmelsgewölbe splittert, Finsternis. Das Rad der Geschichte vollendet krachend seine Umdrehung, es wälzt sich heran, zermalmend – Staub, Rauch . . .

 

Uniformen und Roben fluten die Treppe hinab in den herrlichen Tag. Ganz wie nach einem Pferderennen von den Tribünen. Die Rechtsanwälte schießen hindurch, mit ihren Mappen, sie haben es immer eilig. Eingläser funkeln, das Lächeln blitzt auf den Lippen einer schönen Dame. Sporen klirren und Säbel rasseln.

Wagen fahren heran, die Automobile qualmen.

Lautlos huscht die Limousine des kleinen freundlichen Greises am Wall der Schutzleute vorbei.

Schwerdtfeger hat seinen hohen Chef oben auf der Treppe erspäht und den Wagen herangebracht, ohne die 268 geringste Rücksicht zu nehmen. Er kennt nichts als seinen Dienst.

Der General braucht nur irgendwo aus einem Hause zu treten und über den Bürgersteig zu gehen, immer steht Schwerdtfeger bereit. Der General muß nur den Fuß heben, das ist alles. Aber er hat sich nie Gedanken darüber gemacht.

Oben auf der Treppe sprach der General einen Bekannten mit hohen Orden. Er drückte seine Befriedigung über den Verlauf der Zeremonie aus – die Rede, prachtvoll – und der Bekannte seinerseits versicherte, daß die Rede in der Tat eine staatsmännische Leistung ersten Ranges war.

Nun stieg der General die Treppe hinab.

Die Lackstiefel eines Husaren blitzten vor ihm. Ein schmaler, eleganter Rücken, ein vornehmes Profil, ein rascher, kühner Blick aus schönen, klaren Augen – der Husar weicht zur Seite und grüßt.

»Ah – gut bekommen?« Ja, wie hieß er doch nur?

Leutselig schüttelt der General dem Husaren die Hand.

»Danke, Euer Exzellenz!«

»Ein netter Abend – hm, etwas spät . . . wir haben ja – Sie haben mir ja von interessanten Dingen erzählt –?«

Der Husar blieb indessen völlig kühl und korrekt. Erstens war er kein Beduine mehr, sondern Husar, zweitens war er, mit Respekt zu melden, heute nacht völlig bekneipt, und als er aufwachte, fiel ihm (als erstes) voller Schrecken ein, daß er Dummheiten geschwätzt und sich beinahe auf Gott weiß welche Geschichten eingelassen hätte – drittens war man nicht mehr auf einem Ball, sondern im Dienst, und es wimmelte ringsum von Würdenträgern und Exzellenzen.

Er blieb also kühl, korrekt, entschlossen, sich auch durch nichts bewegen zu lassen. Seine schönen klaren Augen strahlten Offenheit.

»Leider vermochte ich nicht mit ganzer Aufmerksamkeit 269 zu folgen – es war plötzlich so heiß geworden – und dann brannte noch dieser Vorhang.«

Aber der Husar blieb zurückhaltend, entgegnete ein paar nichtssagende Redensarten. Er errötete sogar.

Schwerdtfeger warf den Wagenschlag ins Schloß, und der General erwachte erst aus seinen tiefen Gedanken, als die grelle Sonne in seinem Arbeitssaal ihn blendete.

Er zog die blauen Vorhänge zu, das Licht schmerzte seine Augen, jetzt erst machte sich der kurze Schlaf bemerkbar.

»Trotzdem – trotzdem –« murmelte der General vor sich hin. Mehr und mehr verfiel er der Gewohnheit, seine Gedanken laut zu äußern.

»Trotzdem – ja, er wich aus – nun, gewiß er ist ein Mann von größter Selbstkontrolle, ohne Zweifel. Aber er errötete etwas. Weshalb?«

»Oder errötete er nicht?«

»Vielleicht habe ich mich getäuscht, aber es sah tatsächlich aus, als ob er errötete.«

»Aber was, was hat er mir erzählt? Ja, wie ärgerlich, daß gerade diese Sache mit Dora – –«

»Aber weshalb erzählte er es mir?«

»Wie? Wie? Sogar Angehörige der besten Gesellschaft – und . . .«

»Deutlich erinnere ich mich – trotzdem . . .«

Der General starrte vor sich hin – das Blut wich langsam aus seinem breiten Gesicht. Plötzlich schüttelte er den Kopf. Welch absurder Gedanke!

Er berührte die Klingel.

Weißbach erschien, und der General berichtete kurz über die Reichstagssitzung – ein Zeichen des größten Vertrauens und Wohlwollens, das Weißbach, trotzdem er noch in Alkohol kochte, er war bis neun Uhr bei Ströbel gewesen, zu würdigen wußte. 270

»Sollten Sie Näheres über Hauptmann v. Dönhoff erfahren –?«

»Jawohl, Herr General!«

Weißbach zog sich zurück. Der General war ihm grün erschienen, leichengrün – die Beleuchtung natürlich, oder auch sein Zustand. Er trank wenig, aber er konnte nichts mehr vertragen, seit er in Rußland seinen Nervenchok erlitt. Damals waren sie alle verbrannt, durch einen Volltreffer, der den Unterstand in Flammen setzte – nur durch einen Zufall war er gerettet worden. Er wußte selbst nicht wie, er hatte es auch nie begriffen.

Sobald Weißbach den Saal verlassen hatte, ging der General zum Telephon und verlangte eine bestimmte Verbindung.

Erst nach geraumer Zeit ließ sich jemand hören.

»Ich hatte doch gebeten« – begann der General ungnädig –»mich umgehend informieren zu wollen – bereits acht Tage – wie, bitte –?«

 


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