Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

Der Nebel brodelte über Berlin. Über dem Nebel funkelten die ewigen Sterne, aber die Stadt, versunken im gelben Meer von Lehm, sah sie nicht.

Schrill heulten die Züge, in düstere Glutwolken gehüllt, tasteten sie sich langsam vorwärts. Die Bogenlampen fieberten in den dunstigen Bahnhöfen, Schattenriesen stießen mit den Köpfen gegen die Glasdächer der Hallen. Die Krankenwagen krochen in das gelbe Nebelmeer hinaus, und zuweilen stutzten die Chauffeure: klaffende Abgründe schienen plötzlich die Straßen zu spalten. Schlaff und schmutzig hingen Flaggen aus den Nebelwolken herab. 330

In nebligen Höfen wurden die Wagen entladen, und voller Erlösung starrten die Fieberaugen der Verwundeten in das Licht der Korridore, durch deren Karboldunst die Bahren schwankten.

Und die Züge heulten und winselten, wie seit mehr als tausend Nächten. Aber in dieser Zeit der großen Offensive kamen sie ohne jede Unterbrechung. Die Ärzte wechselten Blicke. – – –

Zur gleichen Stunde saß der General, den der kleine Herr Herbst im Fieberwahn verfolgte, mit zufriedener Miene in dem bequemen Arbeitssessel vor seinem Schreibtisch und beugte sich über eine große Generalstabskarte.

Er hatte neben sich ein Näpfchen mit blauer Farbe und ein Glas Wasser stehen und malte auf die Generalstabskarte blaue Linien. Hin und wieder suchte er mit der Lupe eine Ortschaft, die der letzte telephonische Bericht genannt hatte.

Unfaßbar! Flogen sie? War es nicht ganz wie seinerzeit beim Vormarsch 1914?

Schon wurde das strategische Bild klarer – kristallklar. Der General beugte sich! Seine Ansichten hatten nicht immer mit jenen dieser hohen Stelle harmoniert, zugegeben, es war ihm unmöglich gewesen, den bedingslosen Glauben der Allgemeinheit zu teilen, er vermißte kühne, strategische Gedanken, vermißte den genialen Blick, nun aber beugte er sich. Ja! Ohne Vorbehalt.

Und der General starrte in die weiße Karte, während draußen der Nebel zog. Bald beugte er sich dicht darüber, den Kneifer auf der Nase, bald lehnte er sich nachdenklich in den Sessel zurück, und wieder starrte er regungslos in die weiße Karte. Was sah er? Er sah Brigaden, Divisionen, Armeekorps, den Gürtel der Artillerie. Er sah wie Brigaden, Divisionen, Armeekorps sich vorwärts fraßen, die Kolonnen auf den Straßen, die schwere Artillerie wird nachgezogen, die Fliegerschwärme in der Luft, die Stäbe, all das sah er auf der weißen Karte. 331 Seine Hand schob die blaue Linie vorwärts – ja, schon erblickte er in der rechten Flanke das Meer – den Kanal, in der linken Flanke aber wurde die fadendünne Silhouette des Eiffelturms am Horizont sichtbar.

Heute schon fielen die Granaten auf die französische Hauptstadt, furchtbare Mahner, furchtbar pochte die Geschichte an die Tore von Paris – und London, bald würde die Geschichte auch an die Tore Londons pochen! Das Reich des großen Alexander, wo war es hin? Die Stunde schlug, und es sank in Trümmer. Das Weltreich der Römer und Spanier? Schutt! Unaufhörlich brauste der Strom der Geschichte, und neue Reiche stiegen aus der Flut empor.

Der General versank in Träumereien. Seine strengen Züge hatten sich gelöst. Schon heute stand fest, daß die feindlichen Reservearmeen aufgerieben waren. Sie hatten nichts mehr, fürchterliche Perspektive . . .

Nur durch einen Korridor vom General getrennt, durch ein paar dünne Mauern, saß Ruth über ihren geliebten Büchern, die das Evangelium für sie bedeuteten, und las mit fiebernden Wangen, während an den Fenstern sich der Nebel ballte. Es war schon tief in der Nacht, sie schrieb, machte Notizen, ihre Augen glänzten. Ja, diese Bücher, diese Broschüren, sie sprachen die Wahrheit! Sie allein zeigten den rechten Weg. Untergehen mußte diese heute herrschende Gesellschaft, die sich nur durch Sklaverei, Plünderung und Tyrannei aufrechterhielt. Dieser Krieg war der fürchterlich logische Abschluß ihres Werkes – welch ein Abschluß! Heraufsteigen würde eine neue Gesellschaft, besser, reiner, edler. Schon waren ihre Boten unterwegs. Hier aber erschauerte Ruth.

Ja, schon! Ihr Blick glitt zum Fenster, das der Nebel verhüllte, ihr Blick füllte sich mit Unruhe und Qual. Ungewiß lag die Zukunft. Lange würde sie ihn nicht sehen, vielleicht Jahre! Aber es mußte sein, es mußte Mutige geben, die alles einsetzten für Idee und Glauben! Sie 332 liebte ihn, sie bewunderte ihn! Auch sie würde ihm nachfolgen. Auf alles würde sie verzichten, auf Geld, Bequemlichkeit, gesellschaftliche Stellung. Nichts wollte sie. Wie Millionen von Frauen, die ihr Brot verdienten, wollte sie sein, nicht anders. Langsam hatte sie sich zu diesem Entschluß durchgerungen. Tausend beglückende Gespräche gaben Helligkeit, Klarheit und Ziel!

Wenn sie Papa kränkte, sie konnte nicht anders, Otto, ihre Verwandtschaft – nein, es stand unabänderlich fest! Welche Albernheit, Oberflächlichkeit, welcher Dünkel, welcher Wahn – nein, fort fort.

Und doch, das Herz schmerzte. Sie erhob sich und begann auf und ab zu wandern, die Hände an den Hüften, immer hin und her, den Blick voller Qual – immer hin und her, die ganze Nacht. –

Und Dora, was tat Dora in dieser undurchdringlichen Nebelnacht? Sie schlief und lächelte im Schlaf. Auch Klara, die kleine unglückliche Klara, schlief, aber sie weinte im Schlaf, ihre Wangen waren ganz naß.

Hedi aber war noch wach in dieser Nebelnacht, sie war heiter und guter Dinge. Sie tanzte Tango mit Weißbach, in der Bibliothek, nebenan saß eine kleine Gesellschaft beim Spiel. Der Phonograph war kaum zu hören, da sie ihn geschlossen hatte, aber so fand Hedi es am stimmungsvollsten. Ströbel hatte ihr eben gesagt, er sei einer der wenigen Männer in Europa, die alles vertragen könnten – und so tanzte sie Tango mit Weißbach, ganz allein, und Weißbach, der heute wenig trank, hatte ihr erklärt, daß er sie liebe und sie auf der Stelle heiraten würde. Das belustigte Hedi, und zuweilen erlaubte sie seinem Blicke, in ihre Augen einzudringen, ganz tief. Sie hatte sich vorgenommen, den kleinen schwarzen Artilleriehauptmann völlig rasend zu machen. Und dann? Nun, wer weiß –?

Und Otto? In seinem Zimmer im Westen saß er, eine kleine anmutige Verkäuferin, die er auf der Straße 333 kennengelernt hatte, auf den Knien, eine Flasche Wein neben sich. Er küßte den vollen, bläulichweißen Nacken der Kleinen, und sie fragte ihn, wie das knallt, wenn eine Granate einschlägt. Ihr Bräutigam war ebenfalls im Felde. Otto lachte – herrlich diese Naivität. Er unterhielt sich ausgezeichnet. Was kümmerte es ihn, daß der Nebel um das Haus wallte?

 


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