Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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2.

Auch der alte Portier, der Veteran von 70, war schon wieder auf seinem Posten. Zuweilen trat er aus der Loge und spuckte aus. Und da – ist es zu glauben? – da war auch schon wieder jener Aufdringliche, jener kleine, ältere Herr. Er zog den steifen Hut.

»Seht an – Sie? Schon wieder?« begrüßte ihn der Portier unfreundlich. Und vorwurfsvoll fuhr er fort: »Sie haben mich in eine hübsche Lage gebracht, das muß ich sagen!«

»Hübsche Lage –? Um Gottes willen –?«

»Ja, eine hübsche Lage, Herr – Herbst, nicht wahr? 96

»Jawohl, Herbst.«

»Etwas war offenbar nicht in Ordnung mit Ihrem Brief, Herr Herbst!«

»Nicht in Ordnung –?«

»Nein. Seine Exzellenz – Sie haben doch gutes Papier genommen? Jedenfalls haben Seine Exzellenz –.« Der Portier in seinem im Laufe der Kriegsjahre etwas schäbig gewordenen Mantel brach ab, öffnete die Glastüre der Loge und verbeugte sich. »Guten Morgen, Herr Oberst!« Säbel rasselten, ordenglitzernde Brüste schwebten am Glasfenster vorüber, Lackstiefel, rote Streifen, Pelzkragen. Die Soldaten und Schreiber huschten die Granittreppen hinauf. Der Dienst begann wieder, dieselbe Sache, wie seit Jahren.

»Jedenfalls war etwas mit Ihrem Brief nicht in Ordnung. Seine Exzellenz waren – hm – ungehalten.«

»Sie selbst haben mich doch ermutigt.«

»Höflich und richtig abgefaßt. Ich habe gesagt, versuchen Sie es. Reichen Sie ein Gesuch um eine Audienz ein. Haben Sie gehorsamst geschrieben?«

»Ja, gehorsamst habe ich geschrieben.«

»Der Umschlag, ich sagte Ihnen ja gleich, ein weißer wäre besser gewesen. Diese hohen Herren haben ihre Eigenheiten. Sie sehen auf Kleinigkeiten, wenn zum Beispiel auch nur ein ganz kleiner Schmutzfleck da ist – Guten Morgen, Herr Major, Herr Rittmeister! – Es ging ja noch gut ab, aber es hätte leicht ein Donnerwetter setzen können, schon fürchtete ich einen Blick zu bekommen, ja, wissen Sie, einen Blick –! Und nun ist heute nacht diese Sache passiert – wissen Sie – diese Sache –«

»Welche Sache?«

»Nun, der Sohn Seiner Exzellenz – der Herr Oberleutnant,« die Stimme des Portiers sank zu einem Flüstern herab, »er hat Malheur gehabt mit dem Revolver, beim Packen. Der Revolver hat sich geklemmt, und schon ging also der Schuß los – in die Hand.« 97

»Ist es möglich?«

»Nun können Sie sich vorstellen, was für eine Aufregung das hier im Hause ist! Der Adjutant war schon hier und gab mir einen Wink. Denn sehen Sie, wenn Exzellenz schlecht gelaunt sind, dann ist nicht zu spaßen mit Exzellenz. Für gewöhnlich sind Exzellenz ja ganz umgänglich – freundlich sogar . . . Aber« – plötzlich musterte der Portier seinen Besuch – »hören Sie – Sie sind ja ganz naß, völlig durchnäßt?«

»Ich bin in den Regen gekommen.«

»In den Regen? Und wie Sie aussehen, Herr! Als ob Sie auch nicht ein Auge zugetan hätten?«

»Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin zuweilen vollkommen schlaflos –.«

Der alte Portier, mit den weißen Haarsträhnen, den kleinen Medaillen aus Kupfer und Blech auf der Brust des zu weiten Mantels, schüttelte den Kopf – kritisch, mißbilligend. Hier in seiner Loge –

Der Havelock, das heißt der Herr mit dem Havelock, Herr Herbst machte allerdings einen jämmerlichen Eindruck. Sein rostbrauner Havelock, der viel zu lang war und bis an die schmutzigen Stiefel reichte, war zerknittert und dunkel vor Nässe. Der schwarze steife Hut, der bis an die abstehenden Ohren fiel, war glänzend schwarz vom Regen, das Band, das die Krempe säumte, einfach vollgesogen mit Wasser. Sein Gesicht war keineswegs stahlblau, sondern gelblich bleich, von ungesunder Färbung, mit merkwürdigen gelben Flecken, klein, hohlwangig und von tiefen Furchen zergraben. Öffnete er den kleinen, faltigen Mund mit dem weißgrauen Stoppelbärtchen, so wurden gelbe Zahnstumpen sichtbar – und seine Glatze zog bis ins Genick, nur einige Härchen, grauweiß gekräuselt, deuteten noch den Haarkranz an – und diese großen, abstehenden Ohren! Seine wasserhellen Augen waren entzündet und tränten, sie schwammen fortwährend in Wasser. Es war ein Mensch, 98 der nichts auf sein Äußeres gab – sich vernachlässigte, schlaflos, krank offenbar – sein Sohn – der alte Portier fühlte plötzlich Mitleid, obschon es ihm peinlich war, daß dieses durchnäßte Herrchen sich in seiner Loge befand. Wenn jemand hereinkäme, nicht ein Schreiber, vor ihnen hatte er keine Angst, aber, nehmen wir an, ein Offizier?

»Und, sagen Sie – lieber Herr – was wollen Sie nur wieder, schon so früh –?« fragte er, plötzlich aufs äußerste erstaunt.

»Ich wollte –« hier errötete Herr Herbst und wurde sehr unruhig – »nun, ich wollte doch nachsehen, ob keine Antwort –?«

»Antwort –?«

»Der General sollte Ihnen Bescheid geben, wann die Audienz –?«

Der Portier schlug erschrocken die Hände über dem Kopf zusammen. »Also auch mich ziehen Sie mit hinein – mich?«

»Es schien mir das Einfachste –«

»Das Einfachste – und Exzellenz werden nun denken –!« Und wieder schlug der Portier außer sich die Hände über dem Kopf zusammen.

Herr Herbst fühlte nur zu deutlich, daß seine Position hoffnungslos verloren war. Hastig fuhr er mit der kleinen, schmutzigen Hand in den zerknitterten Havelock und zog ein Zigarrenetui aus der Rocktasche, ein großes Etui aus Aluminium.

»Ich bitte«, stotterte er.

»Nun kommen Sie mir wieder mit Ihren Zigarren.«

»Nehmen Sie ruhig, mein verehrter Herr!«

»Ich will Sie nicht berauben. Heutigentags ist eine Zigarre eine Kostbarkeit. Danke. Also – keine Adresse, Sie Unglückseliger –?«

»Nein. Ich wußte auch nicht recht welche – ja, wie sollte ich es machen – ich habe – zwei Wohnungen.«

»Zwei Wohnungen haben Sie?« 99

»Ja, zwei. Ich weiß nicht, wo ich eigentlich wohne.«

»Zwei Wohnungen, und er weiß nicht – ja, eigentümlich – ein eigentümlicher Herr sind Sie –«

»Es kommt alles daher – alles daher, –« stotterte Herr Herbst zu seiner Entschuldigung.

In diesem Augenblick klappte draußen ein Wagenschlag. Es war fünf Minuten nach neun Uhr. Der Portier schrak zusammen und warf einen raschen Blick durch das Guckfenster.

»Seine Exzellenz! Seine Exzellenz!« rief er in höchster Aufregung aus. »Exzellenz darf Sie hier nicht sehen. Um Gottes willen – daß Sie mir nicht durch die Türe blicken!«

Und schon stürzte der Portier zitternd hinaus, um dem General seinen Bückling zu machen.

Der Mann im Havelock floh erschrocken in die Ecke der Loge. Sein Herz schlug vor unbeschreiblicher Angst. Er preßte das Zigarrenetui aus Aluminium vor die Brust. Er stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand – dann aber zwang ihn eine Macht, gegen die es keinen Widerstand gab, langsam, ganz langsam den Kopf zu drehen und durch die Glastüre zu lugen.

Soeben ging der General an der Loge vorüber. In Gedanken versunken, wie gewöhnlich, stieg er die Granittreppe hinauf.

 

Gott sei Dank, Exzellenz hat Sie nicht bemerkt!«

Aufatmend trat der Portier in die Loge zurück. »Und gar nicht schlecht gelaunt, ja, sonderbar. Wer soll sich bei diesen hohen Herren auskennen? Er sagte sogar: ›Guten Morgen, Heinecke‹.«

Der Havelock wagte sich wieder aus seiner Ecke hervor. Seine tränenden Augen forschten in dem alten Frauengesicht des Portiers. »Und –?«

»Was meinen Sie – und?«

»Kein Bescheid?« 100

Der Portier schlug verzweifelt die Hände zusammen.

»Sie glauben also, mein lieber Herr, Exzellenz hat an nichts anderes zu denken als an Ihr Gesuch«, rief er ärgerlich. »Um fünf Uhr haben Sie das Gesuch abgegeben! Um acht Uhr waren Sie schon wieder da! Kaum beginnt der Tag, so kommen Sie – ich bitte Sie, mein verehrter Herr –!«

»Verzeihen Sie –«

»Exzellenz hat natürlich den Kopf vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Exzellenz hat dreihundert Leute unter sich, verstehen Sie, was das heißt? Offiziere und Beamte und Mannschaften – dreihundert. Da gibt es Befehle und Schreibereien – täglich kommen über hundert Telegramme – jeden Augenblick ruft die Oberste Heeresleitung an – na und so zu – und da glauben Sie –! Ich muß offen mit Ihnen reden. Sie sind nie Soldat gewesen?«

»Nein.«

»Nun, da haben wir's. Dann können Sie freilich nicht wissen, wie es zugeht. Keine ruhige Minute. Seit vierzig Jahren mache ich das mit.«

»Sie selbst haben doch –«

»Ja, leider Gottes habe ich – aber bedenken Sie doch, was Sie verlangen! Eine Audienz! Hunderte warten darauf – wochenlang! Ich muß nun offen mit Ihnen reden. Gestern schreiben Sie und heute glauben Sie schon – Ein General! Bedenken Sie – und wer sind Sie? – Ich will Ihnen nicht zu nahe treten – aber wer sind Sie – oder ich –? Vielleicht wird Exzellenz überhaupt nicht antworten.«

»Überhaupt nicht –?!« rief der Mann im Havelock voller Schrecken aus und hob die Hände.

»Möglich, weshalb nicht? Ich spreche nun ganz offen mit Ihnen.«

»Aber mein Sohn – es handelt sich ja –« 101

»Möglich – alles möglich – Sie sind weltfremd, mein Herr, kennen das Leben nicht. Aus der Provinz –«

Herr Herbst nahm den Hut. Niedergeschlagen wandte er sich zur Türe: »Nun, dann werde ich ein neues Gesuch schreiben!« sagte er entschlossen.

»Um Gottes willen!«

»Wenn er aber auch darauf nicht antwortet – wissen Sie, was ich dann tue –?« Herr Herbst versank in Nachdenken.

»Nun, nun – wer sollte es für möglich halten –?«

Offenbar fand der Havelock aber keine Lösung.

»Nun jedenfalls ein neues Gesuch – ja ja – morgen schon! Ich kann doch wohl verlangen –. Als Vater habe ich doch ein Recht – ein Recht –«

Der Portier brach in ein heiseres Altmännerlachen aus und hustete. »Ein Recht! Ein Recht!« schrie er.

»Weshalb nicht, als Vater?« fragte Herr Herbst, schon wieder ganz zaghaft und entmutigt.

»Hahahaha – ehek, ehek!«

Der Mann mit dem Havelock war verschwunden. Als der Portier sich ausgespuckt hatte, war weit und breit von ihm keine Spur mehr zu sehen.

 


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