Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Zuweilen glitt ein kecker Soldatenblick über das graue Gesicht, und ein keckes Auge versuchte in das Düster unter den grauen Brauen einzudringen. Ein paar Unverfrorene gingen sogar eine Weile neben ihm her und musterten ihn von oben bis unten. Das Düster unter den grauen 449 Brauen erhellte sich, und die Unverschämten entfernten sich schwatzend und lachend.

Das Gesicht des Generals flammte. Diese Verworfenen! Und doch – sonderbar: Furcht hatte ihn beschlichen, als sie ihn musterten.

Wieder war ein Blick auf ihn geheftet. Dieser Blick flog einem dahinfegenden Auto voraus. Er kam aus einem lachenden, heiteren Gesicht, ein neugierig forschender, gutherziger Blick, und trotzdem fühlte er ihn.

Dieser neugierig forschende Blick ging aus von einem kleinen Feldgrauen mit einer winzigen Mütze auf dem Ohr. Er saß, den Gürtel gespickt mit Handgranaten, auf dem Kühler des dahinjagenden Autos, das bis zum Rande gefüllt war mit Soldaten und Matrosen.

Es war Hanuschke, in der Tat – man erinnert sich, der um sein Leben lief, während der General in Stifters Diele Spargel aß – auch er jagte, der krummbeinige, kleine Hanuschke, mit der roten Narbe zwischen den Augen, auf diesen Donnerwagen durch die Straßen. Er war guter Dinge. Er lebte und konnte es noch nicht fassen. Und weil er lebte, lachte er. Niemand wünschte er etwas Böses – und dieses graue Gesicht, es war ihm nur so aufgefallen.

Aber er erkannte es nicht wieder, es schien ihm nur, als habe er es irgendwo gesehen. Und der General, er hatte diesen kleinen Feldgrauen mit der Narbe zwischen den Augen überhaupt nie erblickt.

Doch, was ist das?

Fahnen, Plakate, und die Fußgänger treten zurück. Durch die Linden gleitet und schwankt eine Prozession, die alle Blicke auf sich lenkt.

Seht!

Auf Krücken, auf Stelzfüßen schwingen sie sich daher, Dutzende ohne das rechte Bein, Dutzende ohne das linke Bein, Dutzende ohne Beine. Eine Anzahl wird von Kameraden auf Karren geschoben, sie sind gelähmt. Scharen 450 werden von Hunden geführt, sie sind blind. Sie haben keine Hände, keine Arme, leere Ärmel in die Taschen geschoben. Ihre armseligen Uniformen verbergen gräßliche Verstümmelungen.

Seht, seht, ihr Menschen!

Sie kriechen wie Insekten dahin, sie kriechen wie Krabben, seitlich, sie humpeln. Ihre Gesichter sind zerschmettert. Sie haben keine Nase, kein Kinn, ein roter Spalt ist der Mund. Ihre Gesichter sind schwarz und blaugebrannt, sie haben keine Ohren, die Hälse sind verdreht, die Köpfe stehen zur Seite.

Seht, seht, ihr Menschen! Fallt in die Knie!

Ihre Augenhöhlen sind Löcher, die Lider darüber genäht, weiße Kugeln im roten Fleisch. Treu und achtsam trippeln die Hunde, die sie führen. Seht ihr Menschen, es sind nur Tiere.

Auch sie sind auf die Straße gekommen. Was hat man ihnen nicht alles versprochen, in feierlichen Ansprachen, Proklamationen, Erlassen?

Hier also sind sie!

Die Fußgänger weichen gegen die Häuser zurück und erbleichen. Nur die Feisten, die im Kriege dick wurden, sie empfinden nichts.

Der General steht mit dem Hute in der Hand.

Wieder kochten die Straßen von Menschen und roten Fahnen. Wieder gerannen sie zuweilen, und es bildeten sich eine Menge Inseln von debattierenden Menschen.

Die Novembermänner jagten auf ihren Wagen dahin. Lastautos schoben sich durch das brodelnde Meer der Köpfe, mit Maschinengewehren, roten Flaggen und Rednern, die zur Menge sprachen.

Drehorgeln, Feldgraue, die Geige spielten auf einer Zigarrenkiste, blinde Soldaten, die sangen, Soldaten, die tanzten, auf den Händen liefen, wie Akrobaten Stühle 451 in den Zähnen trugen – und Scharen von Verkäufern in grauen Soldatenmänteln, mit Waren aller Art.

Plötzlich aber stoben die Menschen auseinander. Beine eilten, Arme ruderten durch die Luft, Hüte rollten über den Asphalt. Gewehrfeuer knatterte. Ein Maschinengewehr feuerte – und schon waren die Straßen reingefegt. Nur ein paar verwegene Feldgraue sprangen noch an den Häusern entlang, von Torweg zu Torweg.

Lautlos glitt ein graues Panzerauto über den Asphalt.

Es huschte die Straßen entlang und verschwand.

Und schon wimmelten die Straßen wieder von Menschen, die Drehorgeln leierten wieder, die Verkäufer waren wieder mit ihren Kästen und Schachteln zur Stelle, und die Akrobaten begannen von neuem mit den Stühlen zu arbeiten.

Schon bog ein neuer, unübersehbarer Zug von Menschen, Kopf an Kopf, brodelnd von Flaggen und Inschriften, in die Straße ein.

 

Aus diesem unübersehbaren Zug löste sich plötzlich ein rostfarbener Havelock, ein steifer Hut. Jemand rief, winkte.

»Herr Herbst!«

»Ah, Sie sind es?«

»Ja, ich! Um Gottes willen –!«

»Um Gottes willen? Und Sie rufen, schreien meinen Namen – als ob wir alte Freunde wären –? Und wie Sie aussehen, du meine Güte!«

»Ja, wie ich aussehe!«

Herr Herbst schob den steifen Hut aus der Stirn, denn er schwitzte vor Erregung. Sein Gesicht war gerötet, die Bäckchen gedunsen. Eine rote Schleife leuchtete an seinem Havelock.

Augenblicklich zerrte ihn Herr Kunze, der schmächtige, semmelblonde junge Mann eifrig abseits. 452

»Helfen Sie mir, um Christi willen!«

»Ihnen?« Herr Herbst trat zurück.

Kunze nahm den Kneifer ab, putzte ihn aufgeregt und sah sich furchtsam um. Sein Überzieher, sonst säuberlich gebürstet, war bestaubt und verknittert, der grüne Plüschhut voller Schmutz.

»Ja, mir! Seien Sie barmherzig! Nichts zu essen seit Tagen, kein Geld, kein Obdach, immer auf der Flucht. Wir sind ja gleich am ersten Tage geplatzt.«

»Geplatzt?«

»Ja, unsere Dienststelle. Die Fenster zertrümmert, die Schränke zerschlagen, alles verwüstet, die Akten auf die Straße geworfen. Wohin sollen wir uns wenden. Niemand wagt es, sich mit uns einzulassen. Sehen Sie, hier!«

»Eine Schramme!«

»Ein Schlag über den Kopf! Sie haben mich erkannt, die Gefängnisse sind ja geöffnet worden – und da haben sie mich erkannt. Sie haben mich mißhandelt und in den Kanal geworfen.«

»In den Kanal, hahaha!«

»Sie lachen? Ja, über die Brücke, aber ich konnte mich an einem Kahn festhalten – so saß ich im Wasser, bis sie fort waren. Und gestern, da haben sie mich wieder erkannt, andere, die Stadt wimmelt von ihnen, und verfolgt – durch ganz Berlin. Ich bin gelaufen, schrecklich, um mein Leben bin ich gelaufen. Ich flehe Sie an, auf den Knien. Helfen Sie mir.«

»Ihnen? Hahaha! Die Zeiten haben sich geändert. Die Gerechtigkeit ist wieder in die Welt gekommen. Ein jeder nach seinen Verdiensten.«

»Ach, auch Sie hartherzig! Und ich hoffte, Hoffnung erfüllte mich, als ich Sie sah. Ich habe keine Wohnung, kann nirgends bleiben. Ach, Sie ahnen es ja nicht! Wissen Sie, wo ich schon in diesen Nächten geschlafen habe?«

Kunze zerrte Herrn Herbst in ein Haustor und flüsterte. 453

»Ist es zu glauben, daß ein Mensch da schläft? Eine barmherzige, alte Frau. Erst morgens konnte ich wieder heraus. Gewöhnlich schlafe ich zwischen Bretterhaufen, klettere über Zäune. Dann kommen plötzlich Hunde – entsetzlich!« Wieder glitt Kunzes Blick furchtsam über die beiden Soldaten, die hinter dem kleinen Herrn Herbst aufgetaucht waren und ihm überallhin folgten.

»Schlimm, sehr schlimm!« sagte Herr Herbst mit einem spöttischen Zwinkern der kleinen entzündeten Augen. »Und ihn? Haben Sie ihn schon gesehen?«

»Ihn? Wen?«

»Nun ihn, den ihr vom Dache – da, am Anhalter Bahnhof –?«

»Wie? Wie? Was –?«

»Ja, ich habe ihn gesehen!«

»Wie? – Sie machen mich irrsinnig!«

»Ja, gesehen. Nicht er ist es, natürlich nicht. Ihr habt ihn ja getötet. Aber sein Bruder. Ein Jäger! Sieht genau so aus wie er – ich dachte es im ersten Augenblick. Nur etwas jünger. Und die Dame – Sie erinnern sich – jene Dame?«

»Natürlich. Wir hatten wenig solch interessante Fälle«

»Ja, auch sie habe ich gesehen. Hier, sehen Sie, dieser Zettel. Hier.« Kunzes Spitzelaugen funkelten. »Sie fuhren zusammen auf einem Auto – auf einem Auto mit roten Flaggen – und warfen diese Zettel auf die Straße.«

»Gott stehe mir bei –.«

»Ihm dürfen Sie nicht in die Hände fallen! Auch ihr nicht!«

»Helfen Sie mir um Christi willen. Retten Sie mich!«

»Hahaha!«

»Geben Sie mir Geld, damit ich entfliehen kann.«

»Und einmal wollten Sie mich verhaften!«

»Ich weiß es!«

»Meine Wohnung haben Sie an sich gerissen und 454 entweiht. In eine Irrenanstalt wollten Sie mich bringen lassen – drohten mir, verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Sagten, ich sei geistesgestört.«

Kunze wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Alles Befehl«, stammelte er, und hielt Herrn Herbst am Mantel fest. »Es wurde befohlen, und ich mußte gehorchen. Man hätte Sie ja sofort in ein Irrenhaus gebracht, weil Sie diesem hohen Offizier lästig wurden – ich aber bürgte für Sie, setzte mich für Sie ein, aus Mitleid . . .«

»Und in die Zwangsjacke wollten Sie mich stecken lassen! Ja, jedem wird gemessen werden nach seinen Verdiensten, Gerechtigkeit herrscht wieder in diesem Lande. Ich darf wohl bitten!«

»Auf den Knien, Herr Herbst, verehrtester –!« Kunze klammerte sich an den Havelock.

Da aber wandte Herbst den Blick auf die beiden Soldaten, die nicht von seiner Seite gewichen waren. Ein Blick nur, aber er genügt!

Augenblicklich trat einer der beiden Trabanten vor.

»Was will er denn?« fragte eine tiefe, rauhe Stimme.

Kunze preßte den Kneifer auf die Nase, lüftete den grünen Plüschhut, und schnell, schnell verschwand sein dünner Überzieher in der Menge.

Schon schwang Herr Herbst wieder den steifen, verschwitzten Hut und schrie, rot vor Erregung: »Hoch! Hoch! – Nieder! Nieder!«

Schon waren er und seine zwei Trabanten wieder mit dem endlosen Zuge verschmolzen, der sich breit durch die Straße wälzte.

»Hoch! Hoch! – Nieder! Nieder!« schrien seine Trabanten. Tag für Tag trotteten sie schwitzend und aufgeregt durch die Straßen. Jedem Zug, einerlei welcher politischen Partei, schlossen sie sich an.

Seine beiden Trabanten waren: ein kleiner, stämmiger, etwas ausgewachsener Infanterist, eine Grabentype mit 455 weitem Mantel, Transportarbeiter von Beruf, der einen Konzertflügel auf den breiten Schultern trug, und ein hagerer Artillerist mit schwarzem Schnurrbart, schwarzen Brauen, schwarzen, wirren Haaren und schwarzen Augen, einer kleinen, runden Mütze und einem braunen, gestrickten Wollkittel mit Perlmutterknöpfen. Herbst hatte die beiden auf der Straße gefunden und sie adoptiert, mit einem Wort. Sie waren seine Gäste im »Löwen von Antwerpen«, er ernährte sie, sie tranken, und er bezahlte.

Dafür waren sie ihm aber auch blind ergeben. Sie lasen die vergilbten Briefe, die er in seiner Tasche trug – lasen – verstanden – sofort! Sie kannten ja das alles, kamen selbst von da draußen und wußten, wie es zuging. Aufmerksam hörten sie zu, wenn er von Robert erzählte – von dem Sturmangriff am 5. August, und schon am 4. war kein einziger zurückgekommen. Stundenlang hörten sie zu und immer wieder. Die Augen quollen aus ihren Schädeln.

Der schwarze Artillerist erhob sich, ergriff die Flasche und schlug damit auf den Tisch.

»Sage ein Wort – ein Wort genügt! Du brauchst nur zu sprechen!« Und er warf lässig ein feststehendes Messer mit Hirschhorngriff auf den Tisch.

Auch der stämmige Infanterist erhob sich und schob den breiten Nacken vor.

»Du kannst dich verlassen auf uns. Soll es morgen sein?«

»Ich werde schon – wartet nur, Geduld.«

Und der hagere, schwarze Artillerist tanzte auf seinen langen Beinen, schwang das Glas und sang mit rauher, tiefer Stimme seinen Trinkspruch: »Licht aus, Messer raus! Haut ihn!«

Und nun tranken sie alle drei die Gläser leer.

Ja, blind ergeben.

Vorläufig aber trotteten sie geduldig in diesem endlosen Zug unbekannter Menschen. 456

»Hoch! Hoch!« schrie Herbst und hob den steifen Hut.

»Hoch! Hoch!« schrien die Trabanten und schwangen die Mützen.

 


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