Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Immer noch rannte der kleine Herr Herbst hinter dem Mantel mit den roten Aufschlägen einher, immer noch durch purpurne Finsternis.

Allmählich aber ging die Dunkelheit in Zwielicht über, er rannte nicht mehr, er ging langsam – und der General? Es war gar nicht der General, es war sein Zimmernachbar Hähnlein. An seinem abgenutzten Soldatenmantel, seinen abstehenden weißen Ohren, dem dünnen Hals erkannte er ihn. Er ging langsam, immer einige Schritte voraus, kreuz und quer durch die Straßen. Offenbar suchte er etwas. Endlich aber – ah, nun hatte er es gefunden.

Vor einem Laden mit Messern machte er halt. Messer, nichts als Messer, funkelnd und blitzend, ein Gebiß. Dieses Geschäft umkreiste Hähnlein, er las die Aufschrift, runzelte die Stirn. Dann trat er zurück an den Rinnstein, einen Fuß auf dem Fahrdamm, einen auf dem Bürgersteig, zog den Geldbeutel heraus und blickte aufmerksam hinein. Entschlossen betrat er den Laden. Aber bevor er die Türe schloß, warf er noch einen Blick auf die Straße, einen suchenden, kranken und traurigen Blick. Wonach sah er sich um? Nach Hilfe?

Wie, hier, zwischen den eilenden Menschen, die alle vor dem eigenen Elend dahinjagten, hier, wie? Nun, er sah es ja auch ein, daß es sinnlos war, gerade hier nach Hilfe auszuspähen und schloß die Türe hinter sich. (Herbst spähte 334 durch die Scheibe!) Er wählte ein langes solides Bratenmesser, lang, spitzig und scharf und verließ den Laden, ein schmales, langes Paketchen unter dem Arm. Rasch strebte er nun seinem Haufe zu, zuweilen lief er sogar eine Strecke, rasch eilte er die Treppe hinauf.

Aber was nun? Es war wieder dunkel im Zimmer nebenan, wieder war es plötzlich Nacht geworden, und nur Hähnleins Schatten war zu sehen, seine weißen abstehenden Ohren und seine böse glitzernden Augen. Er, Herbst, lag nun wieder in seinem Bett, schlief, hatte die Augen geschlossen, trotzdem sah er durch die Mauer hindurch alles, was Hähnlein nebenan tat. Nun beugte sich Hähnleins Schatten über die schlafenden Kinder, lange Zeit, dann über die schlafende Frau. Da blitzte plötzlich das lange Messer. Furchtbar blitzte es in der Dunkelheit. Die Frau regte sich, und Hähnlein versteckte hastig die Klinge unter seinem Rock. Lange stand er ohne jede Bewegung.

Dann aber, dann beugte er sich wieder über die schlafenden Kinder, das Messer funkelte – nun zeigte die Klinge dunkle Flecken. Lautlos stand er und atmete. Dann beugte er sich über die Frau, und abermals funkelte das Messer. Endlich richtete er sich auf. Kein Laut.

Plötzlich aber beschäftigte ihn etwas. Er heftete seine glitzernden tückischen Augen auf ihn, Herbst, der nebenan in seinem Bett lag und schlief. Sah er ihn? Es war ja unmöglich, die Wand war dazwischen. Aber doch schien er ihn zu sehen. Er tastete mit der Hand gegen die Wand – runzelte enttäuscht und zornig die Stirn. Da begann Herbst (weshalb eigentlich?) spöttisch zu kichern. Hähnlein lächelte verächtlich, wollüstig – und tastete sich an der Wand entlang zur Türe.

Herbst setzte sich plötzlich aufrecht, und sein Herz stand still vor Entsetzen. Wild schrie er auf.

Er kam! Er sah ihn kommen, das Messer zwischen den Lippen. 335

Schon öffnete sich langsam die Türe, seine Hand wurde sichtbar – wieder schrie Herbst auf – und er trat ein.

Aber er trug kein Messer, sondern eine Kerze. Und es war gar nicht Hähnlein, sondern – Ackermann.

»Sind Sie krank? Weshalb schreien Sie?« fragte Ackermann und kam näher, den Leuchter mit einer kleinen Kerze in der Hand.

Herbst versuchte zu sprechen, doch die Zunge klebte am Gaumen.

Ackermann ging und kam mit einem Glas Wasser zurück.

»Trinken Sie. Sie fiebern ja. Sie glühen!«

»Ich friere«, entgegnete Herbst, und seine Zähne klapperten. »Ich fühle mich eiskalt. Gewiß bin ich schneeweiß.«

»Sie glühen. Trinken Sie! Weshalb schrien Sie so?«

»Ich habe von Toten geträumt.«

Ackermann lächelte. »Vor Toten brauchen Sie keine Angst zu haben.«

Herbst zitterte und heftete die fiebernden Augen auf Ackermann.

»Und die Schritte,« flüsterte er, »die ganze Nacht. Vor dem Hause. Haben Sie das grüne Hütchen nicht gesehen?«

»Trinken Sie noch etwas!«

»Fliehen Sie! Sie sind da!«

Frisch und jung erschien ihm Ackermann, eine Erscheinung aus einer andern Welt. Die finsteren Mächte, die diese Erde bevölkern, konnten ihm nichts anhaben. Seine Augen glänzten, sein Mund blühte tiefrot, er schien weder müde noch schläfrig, obschon es tief in der Nacht war. Er lächelte heiter, als er von den Schritten vor dem Hause hörte, nein, auch sie konnten ihm nichts anhaben. Er schwebte auf Wolken wie ein Engel. Er war ein Gesandter Gottes, der zu ihm gekommen war, um ihm zu trinken zu geben.

Die Kerze verschwand. Schon war es wieder dunkel.

Ja, ein Traum hatte ihn gefoltert, ein Traum voller Unheil und Schrecken. Hatte er von den verschütteten 336 Soldaten geträumt, die sich aus den Lehmbergen auswühlen, oder von Robert, aus dessen Wunden das Blut in Strömen floß? Noch jetzt schüttelte ihn das Entsetzen.

Ohne Zweifel, dieses Haus war ein Haus des Unglücks, ein verfluchtes Haus. Seine Mauern waren zermorscht von Jammer und Tränen. Selbst die Toten fanden hier keine Ruhe. Jede Nacht glitt der tote Briefträger durch das Treppenhaus und verbreitete seinen häßlichen Geruch. Er war gestorben, dieser alte Briefträger, ein Veteran mit den Denkmünzen des glorreichen Siebziger Krieges, ohne daß jemand es wußte. Erst als ein scharfer, süßlicher Geruch das Haus erfüllte, hatte man ihn aufgefunden, ausgestreckt auf dem Boden. Jede Nacht kroch er nun durch das Stiegenhaus, und zuweilen zog er die Klingeln, dann schrien die Frauen.

Ja, ein verfluchtes Haus.

Aber, gottlob, die entsetzliche Kälte hatte aufgehört. Schon begann er sich zu erwärmen, schon begann er wieder wohlig zu glühen. Ruhig atmete das Haus, deutlich hörte er hinter der Wand die Familie Hähnlein im Schlafe atmen. Feuer stieg in seine Augen. Sie wurden größer und größer, und mit feurigen Augen, so groß wie Wagenräder, saß er in der rauschenden Finsternis.

Plötzlich hörte er deutlich eine Orgel brausen, feierlich und tief. Und durch das volle Orgelbrausen rief eine Stimme:

»Heilig ist der Mensch! Sinn der Erde, unantastbar!
Heilig ist das Menschenleben, unantastbar!«

Und wieder brauste die Orgel.

Dann schrie die gleiche Stimme, laut und hell:

»Die Menschenwürde ist das oberste Gesetz!
Unantastbar ist die Würde des Menschen!
Heilig sein Gedanke, heilig sein Leib!
Liebet einander!«

Die Orgeltöne verbrausten in der Ferne. 337

 


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