Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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Drittes Buch

1.

Von Horizont zu Horizont rollt das Feuer.

Staub und Qualm – brennende Menschen stürzen aus dem Himmel, ein Hagelsturm von zerfetzten Menschenleibern fegt über die Erde.

Die Luft wettert von rasenden Donnerschlägen, die glühenden Geschütze taumeln voll Wut, ferne grollt das böse Raubtierknurren der schwersten Kaliber. Die Erde schwankt, das Gebäude der Atmosphäre gerät ins Wanken. Lawinen, Bergstürze, der Vulkan speit. Seit Wochen, seit Monaten.

Horch! Horch – horch! Schreie, damit ich dich verstehe –! Was sagst du? Es ist die Stimme Europas – sehr wohl! Es ist die Stimme der Habgier, des Geldes – noch besser . . .

Schiefergrau und rostbraun, in jeder Sekunde neu genährt von Qualm, wogt von Horizont zu Horizont, unendlich, die fürchterliche Wolke über der Walstatt. Die Landschaft selbst runzelt die Stirn, gealtert, zermürbt, zerknittert und vergrämt.

»Ungemütlich, lieber Otto« – schrieb Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze – »es beginnt ungemütlich zu werden hier außen! Heute morgen einige tausend Granaten auf unsern Abschnitt, die nicht von schlechten Eltern waren. Ringsum Leichen, auch die Lebenden, der Divisionär, vierzig Stufen unter der Erde, ebenfalls eine Leiche! Er stammelt nur noch, schwere Sprachstörung. Ich schreibe dir, um die Nerven zu behalten. Was ist los? Wir liegen hier in Granatlöchern, keine Gräben mehr und Drahtverhaue, die gemütlichen Zeiten sind vorüber – alle fünfzig Schritt ein Mann, schwere Maschinengewehre, leichte Maschinengewehre. Im Hintergelände weit und breit keine 368 Menschenseele – nur Feldküchen und Verbandplätze – kein Mensch, was soll das bedeuten? . . .«

Die schiefergraue und rostbraune Wolke flimmert, endlos, bis in den schwarzen Äther empor. Schwingen von aufgescheuchten Vogelschwärmen blitzen darin – das sind die Flieger. Qualm faucht auf, da oben in der flimmernden Wolke, Qualm schießt finster durch die Luft, stürzt zur Erde: ein Mensch, lichterloh brennend eilt über das Feld, taumelt, brennt, qualmt, kohlt –.

Horch, horch! Ja, schreie, sonst höre ich dich nicht! Stimme des Geldes, sehr wohl – die Mark, die Francs, die Pfunde, Dollars, sie brüllen – es sind auch die Millionenvölker Europas, die nach Nahrung brüllen, vergiß es nicht – und das trockene Schießpulver, der Aberwitz, er lacht aus den Feldgeschützen.

»Die gute alte Zeit, lieber Otto« – schrieb Hauptmann Falk in seinem Erdloch – »sie ist endgültig vorbei. Schade! Ringsum schreien Menschen, aber ich kann ihnen nicht helfen, bevor es Nacht wird. Ich sitze mitten im Rauch. Mein Leutnant übergibt sich, er hat Gas geschluckt, Gott helfe ihm, ich kann gar nichts für ihn tun. Ich schwitze entsetzlich in meiner Gasmaske. Gestern sollten wir fünfhundert Flaschen Sodawasser bekommen, aber ein Volltreffer hat sie auf der Chaussee vernichtet. Die Zungen hängen uns heraus. Was für ein Staub! Dank, alter Junge, für den Kognak! Es war ein Freude. Wir hatten zwei gefangene Engländer in unserem Granatloch, auch sie bekamen einen Schluck aus der Flasche, mußte schwören, sie nach dem Kriege in England zu besuchen. Hoffe in einigen Tagen in Berlin zu sein. Seit einer Woche sollen wir abgelöst werden, aber niemand zeigt sich, obwohl es uns feierlich versprochen wurde. Die Sache gefällt mir nicht, alter Junge. Stelle die Flaschen kalt, du erhältst Telegramm. Grüße Bussi! Hoffentlich kommt der Brief durch. Man braucht hier zwei Stunden für einen Kilometer.« 369

Bussi? Bussi? Wer ist Bussi? Niemand weiß es, offenbar eine Dame, aber es tut schließlich nichts zur Sache.

Wie ein blutüberströmtes Antlitz sank die Sonne hinter der endlosen flimmernden Staubwolke. Rasch kam die Nacht. Aber die Geschütze wüteten weiter. Schweiß badete die Gesichter der Kanoniere. Die Brandung aus Eisen und Blut rollte fürchterlich in der Dunkelheit.

Schon stiegen die Leuchtkugeln, da, dort, überall, glühend in allen Farben. Ein Netz von Blitzen geisterte. – –

 

Die Raketen zischten in die Höhe und zerplatzten mit einem leichten Knall am Himmel. Trauben von silbernen, violetten, lichtblauen und bengalisch roten Christbaumkugeln sanken mild durch das tiefe Blau der Nacht.

»Ein Feuerwerk!«

Die Kapelle spielte. Vor dem Kurhaus zerschmolzen die hellen Kleider und grellen Mäntel und Jacken im gleißenden Licht der Bogenlampen. Hier außen am Strand aber war es ganz still, dämmerig, nur der Mond und das glitzernde Meer. Der Geruch von Tang und Salz in der lauen Luft. Ohne Pause glitten lautlos die silberschäumenden Wellen über den Sand und breiteten ihr gleißendes Schleiergespinst aus. Klein und hoch der Mond, und schaukelnde Scherben von Silber sein Spiegelbild.

Plötzlich zischte es, eine Rakete fuhr zu den Sternen empor. Eine Gruppe von sprühenden Funken erschien am blauen Nachthimmel, trieb, heller als die Gestirne, im leichten Wind sanft dahin und erlosch allmählich.

Aus einem Strandkorb fuhr eine silberne Larve, eine Hand, blitzend von Steinen, erschien. »Brillant!«

Es war Herr Olsen aus Kopenhagen, zurzeit in einem deutschen Ostseebad, der den Zauber des fliegenden Sternhaufens bewunderte. Er streckte den blonden Kopf heraus, strampelte mit den weißen Hosen und erschien persönlich im Mondlicht. Er war nahezu zwei Meter hoch, und sein 370 Schatten ging vollkommen über die Sandburg »Lüttich« hinweg. Er war ein hübscher, junger Mann, frisch, kindlich und gutmütig. Mit strahlender Miene und blinkenden Zähnen verfolgte er die bunten Kugeln am Himmel.

Herr Olsen lebte noch in der Welt des Friedens. Er sprach nie vom Krieg, erzählte nichts von Schützengräben, las keine Berichte und quälte sich nicht mit Kombinationen – er studierte höchstens die Börsenberichte und kaufte deutsches Geld, wenn es Vorteil versprach. Wer den Krieg gewann, das war ihm höchst einerlei, zu welchem Zwecke er geführt wurde, berührte seine Seele nicht im mindesten. Herr Olsen war – nun, dies ist der etwas triviale Ausdruck seiner Begleiterin – durch und durch Friedensware. Seine soliden Schuhe, seine sechs verschiedenen Mäntel, der Ausdruck seines Gesichts, Augen, Sprache, Lächeln, Gedanken – alles Friedensware, selbst Farbe und Glanz seiner Haut und seiner Haare, unwiederbringlich dahin bei den deutschen Männern. Er war mit einem Wort eine Sehenswürdigkeit.

Seine Begleiterin, im Schatten des Strandkorbes gegenüber, lachte. Ihre Augen sprühten im Mondlicht.

Dieses Lachen?

Dieses Lachen! Dora –?

Ja, Dora! Und nun streckte sie ihr Silberlärvchen in das Mondlicht, und ihre etwas runde Hand tauchte in die gleißende Helligkeit. Ihr heller Haarschopf flimmerte.

Sie lachte über Olsens kindliche Freude an den bunten Christbaumkugeln da oben. In seiner Nähe atmete sie leichter, er hatte eine ganz andere Atmosphäre um sich wie andere Männer. So zum Beispiel Otto, der einige Tage hier gewesen war.

Herr Olsen streifte seine Dame mit einem fragenden Blick. Weshalb mochte sie nur lachen? Selbst die Strahlen des Mondes, die nach Doras Augen zielten, vermochten nicht ihr tiefes, seltenes Blau zu dämpfen.

Herr Olsen kroch wieder in den Schatten des 371 Strandkorbes zurück und begann sogleich voller Eifer die unterbrochene Unterhaltung fortzusetzen. Es handelte sich darum, ob Dora ihm, Herrn Olsen riet, sich ein Gut in Deutschland zu kaufen. Das deutsche Geld war ja jetzt so lächerlich billig. Herr Olsen sprach nur von seinen eigenen Angelegenheiten, fremde Schicksale, das Schicksal des deutschen Volkes, das Schicksal Europas, das Schicksal des Planeten, das war ihm alles höchst einerlei. Herr Olsen war der Mittelpunkt der Erde.

»Aber Sie müssen mir versprechen, mich dann zu besuchen? Ach, es wird ja so schrecklich langweilig sein.«

»Wenn Sie artig sind?«

»Artig? Ich will wie ein kleines Hündchen sein, so artig!« beteuerte Herr Olsen, und wieder fuhr sein Silberkopf aus dem Strandkorb.

Ja, nun war es also Herr Olsen, der sich, Dank der Gnade des Himmels, seine Friedensseele bewahrt hatte.


Feuerbalken schossen über den Horizont, und das fürchterliche Wetterleuchten setzte nicht eine Sekunde aus. Hauptmann Falk konnte ganz gut dabei schreiben. Die Leuchtkugeln sprühten wie Leuchtfeuer, die plötzlich über dem Meer erglühen. Aus der Höhe beim Nachbarregiment fuhren Bündel von roten Signalen, und die Artillerie wirbelte. Ein Feuerloch glühte auf, das waren die Einschläge.

Ein Gespenst kroch über das Feld, versank, kroch, huschte. Es war Hauptmann Falk. Obschon gefeit – er glaubte es – nahm er sich doch in acht, denn es konnte ja durch einen Zufall ein Unglück geschehen. Er glitt die Schützenlinie entlang. Hier schüttelte er Schlafende – aber sie erwachten nicht mehr. Aber er traf auch Gruppen, deren Augen hell wie Sterne im Schein des Geschützfeuers sprühten. Es waren wunderbare Menschen! Ohne einen Tropfen Wasser seit drei Tagen! 372

Da duckte er sich zusammen. Pechschwarz, von roter Lohe durchglüht, stieg der Einschlag in die Höhe. Ja, ungemütlich, höchst ungemütlich.

Die Blitze geisterten.

Auf allen Straßen knarrten jetzt die Wagen. Hier und drüben bei ihm. Munition, Verpflegung, Verwundete, die ganze Nacht hindurch. Hunderttausende von Wagen knarrten durch die Dunkelheit. Der Himmel erdröhnte, die Bombengeschwader waren unterwegs. Die Mützen über die geschorenen Schädel gezogen, die Nase im Wind, jagen die Befehlsempfänger die Straße hinab. Klein und hoch geht der Mond, Blitze wehen, Feuer sprüht im Walde.

 


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