Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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5.

Ackermanns Blick fieberte durch die wimmelnden Uniformen und abrollenden Wagen. Verzweiflung schüttelte ihn.

»Dieses Parlament, welche Schmach! Der Fluch des Volkes wird die Schmachbedeckten treffen – einst, einst –!«

Er sah die hohen Offiziere nicht, nicht die Generale mit ihren roten Aufschlägen, nicht die Admirale mit den goldenen Tressen. Und niemand beachtete ihn in seinem abgeschabten weiten Mantel, von Entbehrungen und Qualen erschöpft – ein einfacher Soldat, einer von den Millionen, die niemand sieht.

Auf dem Straßendamm stand mitten im Qualm der Autos ein Berittener, regungslos wie eine Statue. Mit furchtbarem Ernst saß er im Sattel, quittengelb, mit spitzer 271 Nase, eingefallenen Wangen und violetten Augenhöhlen. Eine berittene Leiche hielt vor dem Parlamentsgebäude Wache, im Sattel verhungert, aber sie tat ihre Pflicht.

Plötzlich drehten sich die starren Metallkugeln in den violetten Höhlen, die Haut des quittengelben Gesichts straffte sich, der rostrote Schnurrbart zuckte.

Er hatte Ackermann entdeckt, und eine argwöhnische, drohende Falte spaltete die armselige Stirn.

Das Gesicht dieses gemeinen Soldaten war das Gesicht eines Mannes, der geheime Gedanken hegte, Gedanken ganz besonderer Art, unzufriedene Gedanken. Er kannte diese Gesichter vom Kasernenhof her und hatte sie vernichtet, wo er sie fand, bis sie aussahen wie andere.

Schon drängte er sein Pferd näher, und sein Blick wurde messerscharf und unbarmherzig. Er war aus der kaiserlichen Schule, auf den Mann dressiert.

In diesem Augenblick aber ging Ackermann wie ein Schlafwandler mitten durch die Uniformen und Wagen hindurch, schnurgerade über den Fahrdamm – ohne angestoßen, berührt, überfahren zu werden, sonderbar.

»Es ist Zeit!« flüsterte er. »Es ist Zeit!«

»Es ist höchste Zeit!« Er eilte.

Ihr Jungen, Wollenden, Wagemutigen, die Stunde schlägt! Ihr Sehnsüchtigen, Verzweifelten, Zielerfüllten, ihr Hassenden, Liebenden, Gesegneten, Boten und Verkünder des Menschenreiches – auf, auf, die Stunde ist da! Zögert nicht länger, ihr Gesandten mit den menschlichen Antlitzen!

Böse folgte der Blick des Berittenen dem grauen Soldatenmantel, der rasch zwischen den Bäumen verschwand.


Und schon – ja schon rüsten sie sich zum Aufbruch, die Läufer, die ihrer Zeit vorauseilen! Schon baden sie das Antlitz im Lichte einer neuen Sonne, die heraufsteigt.

Schon erheben sie sich von den elenden Pritschen der 272 Gefängnisse – sie werden durch hundertfach geschlossene Tore gehen wie durch Luft, keine Angst. Schon hebt sich ihre leuchtende Wimper in den Kasernenhöfen Europas – und sie werden das triumphierende Wort aussprechen, und die Kugeln werden von ihnen abprallen, keine Angst. Schon beten sie ihr Morgengebet bei den Kanonen, in den Erdlöchern der europäischen Schlachtfelder – sie werden die Kanonen zerbrechen, als ob sie Schilf wären, keine Angst. Schon wird ihr Schlaf in den Massengräbern Europas unruhig, schon hebt sich ihr Auge, sie werden auferstehen, stärker als der Tod, keine Angst.

Schon kommen sie, schon sammeln sie sich, in ganz Europa, sie, die Brüder sind und sich erkennen am Glanz des Antlitzes. Schon ertönen ihre Stimmen, da und dort, in ganz Europa, in der ganzen Welt!

Sie kommen!

Kommen sie? Kommen sie wirklich?

Ja, sie kommen! Horch! Schon wandert ihr Schritt im Tagesgrauen.

Und die Finsternis wird ein Ende haben?

Die Finsternis, die schreckliche, wird ein Ende haben.

Schon rötet sich der Himmel im Osten. Sie bringen das Licht. Sie kommen, und sie werden dahinschreiten, und das Paradies wird unter ihren Schritten erblühen.

Ihr Feldzeichen aber ist nicht rot, nicht blau, ihr Feldzeichen ist die Liebe.

 


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