Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

Ein Fingernagel pickte an das Fenster der Portierloge. Keine Antwort. Kein Laut. Totenstille.

»Herr Portier! – Herr Portier?«

Der Portier, der dem alternden Moltke ähnlich sah– natürlich nur eine flüchtige Ähnlichkeit und nur unter besonderer Beleuchtung, es war dem General ja nur so nebenher durch den Kopf gegangen – der Portier schlief.

Aber hartnäckig pochte der Fingernagel. Und nun wurde eine schneeweiße Visitenkarte durch das offene Fenster geschoben – da erwachte der Portier.

Er erwachte und hob sofort beschwörend die Hände, und auch, sonderbar genug, der kleine Herr mit dem zu tief sitzenden Zylinder hob sofort beschwörend die Hände.

»Um Gottes willen – Sie – wieder?«

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Und heute dazu!«

»Weshalb – heute –?«

»Exzellenz ist heute – horchen Sie nur: das ganze Haus – totenstill! Exzellenz sind heute schlecht gelaunt, mit einem Wort. Und Sie – ich sagte Ihnen doch – ach, ach!«

»Gestatten Sie –«

»Ach! Ach!«

Das Aluminiumetui blinkte.

»Nein, nein, danke. Sie bringen mich noch in Ungelegenheiten.«

Plötzlich knallte es, als sei eine Bombe im Foyer explodiert. Aber es war nur der Zylinder des Herrn Herbst, der auf die Steinfliesen gefallen war, als er sich bemühte, den Kopf durch das Fenster zu stecken.

»Ich bitte Sie – ich fordere Sie hiermit ebenso höflich wie dringend auf –!« Geifer stand zwischen den Zähnen des alternden Moltke. 169

»Sie mißverstehen mich –« Herr Herbst hatte den Zylinder wieder aufgesetzt.

»Ich verstehe Sie recht wohl. Ungelegenheiten –« Das Fenster klappte zu.

Wieder pickte der Fingernagel, hartnäckig.

Der Portier setzte eine eisige Amtsmiene auf, öffnete das Fenster wieder und sagte in dienstlichem Tone: »Sie wünschen?«

»Ich wollte nur fragen –«, stotterte Herr Herbst, den die Amtsmiene augenblicklich in Verwirrung brachte, – »nur fragen – es ist wichtig für mich, weil ich entschlossen bin –«

»Entschlossen?« Ach, wie kalt die Stimme klang, ohne Teilnahme.

»Ja, entschlossen.«

»Bitte?«

»Es liegt wohl keine Antwort für mich hier?«

»Nein!« Das Fenster flog wütend zu.

Herr Herbst lüftete den Zylinder, obwohl ihm der Portier die weißen Haarsträhnen zudrehte, und ging. Nach einer Weile kehrte er zurück und legte, ohne ein Wort zu sagen, eine Zigarre auf das Gesims des kleinen Fensters. –

In der Tat, das häßliche rote Amtsgebäude mit seinen öden Korridoren lag heute noch stiller als sonst, totenstill.

Schweigen, Flüstern, halblaut geführte Telephongespräche. Die Türen waren Samt. Die Ordonnanzen und Drillichkittel schlichen auf den Zehenspitzen über die Korridore, jemand nieste, und sofort fuhr ein Kopf drohend aus der Türe. Die Offiziere, die zusammengedrängt an ihren Schreibtischen arbeiteten, wagten nicht aufzublicken. Jeden Augenblick konnte das graue Steingesicht im Türrahmen erscheinen. Major Wolff paffte eine dicke Zigarre und vergrub den Kopf in die Akten. Es war Windstärke 12, ohne jede Übertreibung.

»Hat er den Abschied bekommen, Weißbach?«

»Meine Herren –!«

»Oder die schöne Dora –?«

»Ich bitte doch dringend!« 170

Der Adjutant war vom Chef zurückgekommen und hatte nur beschwörend die Hand gehoben. »Windstärke 12.« Damit pflegte er einen bestimmten Zustand zu bezeichnen. Weiß Gott, wie er als Artillerist zu diesem Ausdruck kam.

»Aber erklären Sie doch!«

»Pst!« Zuweilen legte Weißbach lauschend das Ohr an die gepolsterte Doppeltüre.

Ein lautes, herausforderndes Räuspern, das Räuspern eines Menschen, der keine Rücksichten zu nehmen braucht und auch keine Rücksichten nimmt, drang aus dem Saal, der von dem Ölgemälde Seiner Majestät bewohnt war.

Plötzlich aber begann es in diesem Saal zu donnern, einmal, ein schwächeres Donnerrollen, zweimal – wiederum Stille. Der Adjutant wechselte die Farbe. War jemand in das Zimmer des Generals gekommen? Unmöglich! An der gepolsterten Doppeltüre im Korridor hing das Schild »Vortrag«. Und daneben das Schild: »Kein Zutritt! Anmeldung Zimmer 6!« Ganz unmöglich. Aber trotzdem: es klang, als spräche er mit jemand –?

 

Halt, Unglückseliger! Es war zu spät . . .

An der gepolsterten Doppeltüre, die zum Korridor führte, knackte es plötzlich höchst eigentümlich, und der goldene Kneifer glitt von der Nase des Generals.

Es geschah etwas geradezu Unfaßbares . . .

Der General hatte, so alt er war, das heißt solange er einen höheren Rang bekleidete, so etwas nicht erlebt. Er hätte es, offen gesagt, für unmöglich gehalten.

In der Doppeltüre erschien – unter Umgehung des Schreibzimmers, der Anmeldung, unter Umgehung des Adjutanten, trotz der Aufschriften »Vortrag« und »Kein Zutritt! Anmeldung Zimmer 6!« – erschien, ganz als ob es eine selbstverständliche Sache sei, hier einzutreten, ein gewöhnlicher Soldat! Wie von einer höllischen Versenkung emporgehoben, tauchte er plötzlich auf. 171

Ein Drillichkittel, eine Ordonnanz mit einem großen gelben Brief in der Hand. Dieser Mann – ein Schneider von Beruf, klein, etwas krummbeinig, namens Hanuschke, den man hierher kommandiert hatte, so wie man ihn im Laufe der Kriegsjahre an Dutzend Stellen kommandierte – hatte sich einfach in der Türe getäuscht. Er wollte gar nicht nach Nummer 7, er wollte nach Nummer 6.

Dieser Schneider Hanuschke hatte, um nur etwas zu nennen, bei der Lorettohöhe gekämpft, er war einer der wenigen, die noch in der berühmten Zuckerfabrik bei Souchez waren, von der seinerzeit soviel die Rede war. Bei Souchez hatte eine schwere französische Mörsergranate dicht neben ihm den Kompanieführer und drei Kameraden mit in die Höhe genommen, gewiß kein geringer Schreck – er hatte sich am Roten-Turm-Paß und in Polen geschlagen, also manches erlebt – nun aber stand er wie vom Schrecken gelähmt: Vor seinen Augen schwebte urplötzlich in einer lichtgesättigten, hellblauen Rauchwolke ein General. Im ersten Moment glaubte er sich einer überirdischen, verwirrend funkelnden Erscheinung gegenüber, die zwei weiße Stichflammen auf ihn richtete.

Als alter Feldsoldat handelte Hanuschke augenblicklich. Er hatte ja auch gehandelt, als die schwere Mörsergranate bei Souchez dicht neben ihm einschlug. Wie der Blitz hatte er sich zu Boden geworfen und fortgerollt, mit solcher Eile, daß die herabkommenden Gliedmaßen ihn nicht mehr erreichten. Nur der Feldstecher seines Kompanieführers klatschte neben ihm in den Boden.

Also handelte er auch hier.

Automatisch und blitzschnell führte er alle die Akte der hohen Dressur aus, die man ihm beigebracht hatte. Soweit sein schwindendes Bewußtsein es zuließ, schätzte er die Schritte ab, und in der vorgeschriebenen Entfernung begann er sich vor der in einer Wolke schwebenden Erscheinung aufzubauen. Er schlug die Absätze seiner schweren 172 Kommißstiefel zusammen, schwang die Ellbogen nach außen, führte die Hände an die Hosennaht und fing an, so klein und krummbeinig er auch war, zu wachsen. Seine Gelenke streckten sich, die krummen Beine bogen sich gerade, der Oberkörper hob sich aus den Hüften, der Brustkorb wölbte sich, der Kopf stieg zwischen den schmächtigen Schultern empor, und endlich erstarrte er, den Blick in die weißen Stichflammen gerichtet.

Zweiundzwanzig Sturmangriffe hatte er mitgemacht, zweiundzwanzigmal war er mit dem Trillern der Pfeife dem Tod in den Rachen gesprungen – aber er fühlte deutlich, daß er sich diesmal in eine geradezu schreckliche Gefahr begeben hatte.

Die weißen Stichflammen sengten an ihm entlang.

Der Schneider Hanuschke wuchs abermals.

Seine viel zu weiten Hosen waren geflickt und hundertmal von Schmutz und Blut gereinigt, seine Halsbinde war unordentlich gebunden und fettig. Und dieser Drillichkittel! Aber in der armseligen, der Kleidung eines Zuchthäuslers ähnlichen Uniform, die man des Königs Rock nannte, stand der kleine Schneider wie eine Statue.

Donner schlug an sein Ohr. Donner trieb ihn zurück zur Türe und wieder zurück zur Erscheinung. (Das war das Donnern, das der Adjutant Weißbach nebenan hörte.)

Zweiundzwanzig Sturmangriffe – lieber die französische Mörsergranate – meinetwegen . . .

Wieder wuchs er. Seine Rippen drückten sich durch den dünnen Drillichkittel hindurch ab. Seine vorgestreckte aufgepumpte Brust bot sich irgendeinem unsichtbaren Messer dar. Alles, was die Schlachtfelder und Lazarette von ihm übriggelassen hatten, stellte er möglichst vorteilhaft zur Schau. Sein winzig kleines und unendliches Ich war konzentriert im Blick der ängstlichen Mausaugen, deren Pupillen der Schreck weitete. Kreidig grün war sein Gesicht, und zwischen den Augen glänzte violett eine fingerlange 173 Narbe, die von einem Querschläger herrührte, der ihm in Rumänien die Stirn zerschmettert hatte.

Abermals donnerte es, diesmal weniger drohend. Er war entlassen. Sein geflickter Hosenboden schaukelte durch die Doppeltüre. Auf dem Gang wischte er sich aufatmend mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, der plötzlich aus allen Poren hervorbrach. Genau so wie damals, als der Feldstecher des Kompanieführers neben ihm herunterkam.

 


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