Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

He, Kutscher, sind Sie frei?«

Otto sprang in den Wagen. »Paradies-Bar!« Es war eine alte, in allen Fugen klaffende Droschke. Das Pferd lahmte und schnellte in merkwürdigen Sprüngen vorwärts. Mein Himmel, was haben sie aus dieser Stadt gemacht, dachte Otto, mit einem Gefühl von Schadenfreude im Herzen. Er war zuletzt im vorigen Sommer einige Wochen hier gewesen, um sich von einer Gasvergiftung zu erholen – damals erschien ihm der Verfall noch nicht so furchtbar.

Einsam klapperten die Hufe des Pferdes in der finstern Straßenschlucht. Es hatte aufgehört zu schneien, Schmutz floß in den Rinnsteinen. Ohne Aufhören ging ein schwarzer Aschenregen nieder auf die tote, verkohlte Stadt.

Und früher, ein wogendes Meer von Licht! Schimmernde Perlenketten, blitzende Diademe auf den Dächern, rasende Feuerräder am geröteten Himmel, geschmolzenes Blei quillt aus den Fugen der Häuser. Die Scheinwerfer 64 der brüllenden Autoherden, die gleißenden Lichtblöcke der Schaufenster – und fröhliche Menschen treiben im Licht, Damen, die Augen leuchten, und die Zähne blitzen. Lachen . . .

Da hielt die Droschke plötzlich. Das Pferdeskelett stand in seinem abgeschabten Fell und zitterte.

Erschauernd entfloh Otto diesen drohenden Finsternissen, wie alle Welt, die sich nach den Lichtinseln der verkohlten Stadt flüchtete, den Theatern und Konzertsälen, um vor den Schatten und Gespenstern der Dunkelheit zu fliehen. Wie Tiere bei einer Sintflut, die entsetzt dahinjagen . . .

Schon in der magisch beleuchteten Tropfsteinhöhle, die als Garderobe diente, fühlte Otto sich geborgen. Die Luft, die er liebte, schlug ihm entgegen – Parfüms, Lachen, Licht, Musik . . . Es war nicht das allerfeinste Parfüm, es war dick, legte sich mehlig auf den Gaumen, aber darauf kam es schließlich nicht an.

Trotz der frühen Abendstunde war die Rotunde der Paradies-Bar schon überfüllt. Aber Otto hatte Glück, ein kleines Tischchen an der Balustrade zu erobern – dicht neben dem giftgrünen und himbeerroten Jüngling, der die Gipsarme emporstreckte und von den farbigen Strahlen eines Springbrunnens umsprudelt wurde. Lackrot und Gold waren die Farben der Paradies-Bar. Bunte Blütenkelche hingen von der goldenen Decke herab und strahlten Begierde und Wollust aus. Giftgrüne Insekten schabten die Instrumente, hämmerten mit Klöppeln. Einer der Giftgrünen glitt zwischen den Tischen hindurch und spielte den Gästen ins Ohr.

Otto klemmte die Scherbe vors Auge, damit alle Welt sehen konnte, daß er Offizier war – und nicht etwa einer von den vielen hier, den vielen, die sich von den Kadavern auf den Schlachtfeldern nährten. Stimmen schwirrten ringsum.

»Vor zwei Jahren lieh ich ihm fünfzig Mark, er kam zu mir – seine Stiefel – überhaupt – Kellner!« 65

»Heute hat er Millionen. Ich schätze ihn auf vier Millionen.«

»Kaufen Sie Ware, Ware – einerlei – eine Pleite, nicht auszudenken. –

»Rudi ist immer gleich bekneipt.«

Zwischen einer Glatze und einem Blumenstrauß hatte Otto ein schwarzes schlankes Dämchen mit entblößten, entzückend runden Schultern entdeckt, das seine Blicke erwiderte. Unter ihm, etwas tiefer, neben dem Springbrunnen, saßen zwei befrackte Herren, mit zwei wie Fürstinnen gekleideten Damen in kostbaren Roben, mit Brillanten und Blumen geschmückt. Er roch den Puder, der von ihren entblößten Büsten aufstieg und die Essenzen ihrer duftigen kunstvollen Frisuren. Wie rosig, dieses kleine Ohr – Kokotten natürlich – aber immerhin Fleisch, Atem, Leben.

Am Nachbartisch hatten zwei Herren im Smoking Platz genommen. Ihre dicken, glattgeschorenen Schädel und schwammigen Trinkergesichter kamen Otto bekannt vor. Es waren zwei Rittmeister, die er immer in Stifters Diele Unter den Linden gesehen hatte, wenn er mit Papa dort zu Mittag speiste. Sie hatten sich zwei reizende kleine Damen mitgebracht, allerdings nicht erster Klasse, vielleicht Verkäuferinnen, die schon jetzt zu kreischen begannen.

Bunte Papierschlangen zischten durch die Luft.

Ja, hier war in der Tat das Paradies und da draußen in der finsteren Straße nichts als die nackte Wirklichkeit. Ein paar blaugefrorene Kinder mit Streichhölzern, ein altes Weib mit nassen Zeitungen – und der Portier der Bar steht wie ein Erzengel in seinem grünen Mantel! Berlin war im Aschenregen begraben, aber hier hatte sich, in einer Höhle, durch ein Wunder, ein letzter Tropfen seines geilen Blutes erhalten. Mit allen Sinnen sog Otto Gerüche, Stimmen, Fleisch in sich, er sammelte auf Vorrat, für die langen Monate, wo er nichts sehen würde als verrosteten Stacheldraht und Schrapnellwolken. 66

»Reformen – Sie glauben also nicht daran?«

»Schwindel, alles Schwindel. Eher wird der Himmel einstürzen –«

»Aber das wäre ja Betrug!«

»Betrug? Was sonst? Wissen Sie, wie man den neuen Mann nennt, der uns regiert? Den Fünfminutenbrenner! Er kann nur fünf Minuten wachbleiben, dann schläft er wieder ein.«

»Gott sei uns gnädig und barmherzig!«

Die Damen mit den Brillanten lachten laut auf. Er sagte es auch zu drollig, ergeben in sein Schicksal, und dabei stieß er mit der Zunge an.

Die schmachtende Geige des giftgrünen Primgeigers sang in Ottos Ohr.

Was sah er? Was hörte er?

Doras strahlende Augen? Hedis helles Haar hinter dem Schleier mit Silberstickerei? Hörte er Doras Lachen? Nicht im geringsten.

Er sah: Nacht, Grausen, eine Kraterlandschaft, die Zone des Todes. Geschützfeuer geistert und die Granaten heulen. Durch die Dunkelheit schleppen keuchende Männer einen Verwundeten auf einer Zeltbahn. Beim Schein des Geschützfeuers erkennt er plötzlich – ja, er, er, er selbst ist es, den die keuchenden Männer schleppen. Sein Gesicht ist überströmt von Blut, und deutlich hört er den keuchenden Atem der Männer, die ihn tragen . . .

Sofort schlug Otto erbleichend die Augen auf. Seine Pupillen erweiterten sich, seine Augen wurden zu gähnenden Kratern voller Grauen – das also war es, was er sah und hörte, während der giftgrüne Primgeiger ihm ins Ohr spielte. Die grausige Vision verblaßte, und augenblicklich kehrte er wieder in die Paradies-Bar zurück. Nur ein leiser Schrecken zitterte in ihm weiter.

Mit bebender Hand füllte er das Glas und trank dem schwarzen, schlanken Dämchen mit den entblößten, 67 entzückend runden Schultern zu. Seine Dame lächelte huldvoll – und augenblicklich drehte sich die Glatze um.

Die Schultern dieses schlanken Dämchens erinnerten ihn an Hedi. Und während er sein Glas auf das Wohl der Schlanken leerte, gedachte er Hedi, mit der nun, Gott sei Dank, alles zu Ende war. Er dachte an sie ohne Haß, aber mit leiser Verachtung. Eine Dame – tut eine Dame so etwas – damals im Sommer, das Abschiedssouper –? Und doch war er gerade in diesem Augenblick, wo sich eine rote Papierschlange, von der schwarzen Schlanken geworfen, um seinen Kopf ringelte, geneigt, großmütig zu vergeben. Jeder Mensch hatte schwache Stunden.

»Nun also – diese Hedi, sie würde wohl schlecht schlafen diese Nacht?«

»Vielleicht weint sie auch?«

»So ein bißchen? – He, Kellner, Herr Ober –.«

 

Wie eitel diese Männer, wie töricht!

Es fiel Hedi gar nicht ein zu weinen. Sie dachte nicht einmal an ihn.

Sie dachte an den gelben Mantel! Ein Herr will einer Dame eine Huldigung darbringen. Nun wohl. Er kauft weiße Rosen, obschon sie ein Vermögen kosten, und läßt sie auf dem Tisch liegen. Kein Wort, kein Blick: ein Gentleman!

Ihre Paläste waren in Schutt zerfallen, die Paläste mit dem Wappenschild der Hecht-Babenberg: das rote Pferd im blauen Feld. Dahin! Schon aber baute Hedi neue Paläste! Weitaus herrlichere, kühnere!

Ach, sie hatte ihre Jugend vergeudet! Drei Jahre lang hatte sie auf Ottos Brief gewartet und selbst einige hundert Briefe ins Feld geschrieben. Und dieser Krieg endete ja nie, sie hätte alt werden können dabei. Wie töricht! Und diese Familie der Hecht-Babenberg, dieser hochmütige General, in dessen Augen ein Geheimer Rat ein Kanzlist 68 war, nichts sonst. Er hätte sie stets als ein Geschöpf zweiter Klasse betrachtet, ohne Ahnenreihe wie die der Babenbergs, die bis auf die Kreuzzüge zurückging.

Ja, morgen würde sie vielleicht wieder in den Kaiserhof gehen zum Tee. Erstens gefiel es ihr dort, die Musik, die Eleganz, die Sorglosigkeit – und zweitens konnte es ja sein, daß dieser Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel . . .

Da richtete sich Klara leise in ihrem Bett auf. Die beiden Schwestern schliefen zusammen in einem kleinen Hofzimmer. »Schläfst du, Hedi?« flüsterte Klara. »Guck' doch mal den Mond an, wie er fliegt.« Hedi antwortete nicht, und Klara beugte sich über ihr Bett. »Ah, du schläfst ja doch nicht«, sagte sie lachend. Ganz unerwartet erhielt sie eine klatschende Ohrfeige, denn Hedi war gar nicht in Laune, auf Klaras Geschwätz einzugehen. Die Kleine ahnte ja nicht, daß sie, Hedi, soeben in einem fünfzigpferdigen Tourenwagen dahinraste, eine Staubbrille vor den Augen, Ströbel steuerte – wenn ein Pneu platzte, konnte es eine Katastrophe geben.

Klara saß still und sah dem Mond zu. Ihr Gesicht war in Licht getaucht und ihre Augen gleißten. Schneeweiß und leuchtend war sie wie ein Gespenst. Sie atmete das Licht ein, sie war angefüllt vom Licht, und gleißendes Licht floß durch ihre Adern.

Das Paradies lag vor ihren Blicken ausgebreitet.

 


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