Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Hedi hatte längst den Tee ausgetrunken. Sie hätte gern eine zweite Portion bestellt, aber sie mußte sparen. Ewig diese Geldmisere! 48

Ihr Vater war Geheimer Rat im Auswärtigen Amt. Da schlich er täglich in Gamaschen und Seidenhut an den beiden Sphinxfiguren des Vestibüls vorüber, die immer so eigentümlich lächelten. Dann knackte er in seinem Bureau mit den Fingern, zupfte an seinem dünnen Chinesenbart und vertiefte sich in die Zeitungen. Diese Tätigkeit war nicht besonders aufreibend, aber sie war schlecht bezahlt und die Westphals ohne Vermögen.

Trotz des lächerlich geringen Taschengeldes war Hedi ganz Lady – von den tadellosen Stiefelchen an bis hinauf zu dem kleinen Reiher auf dem silbergrauen Seidenhütchen. Sie trug einen weißen Schleier mit silbergrauer Stickerei. Sie war noch blonder als Klara, nahezu weißblond.

Den weißen Schleier mit den silbergrauen Ornamenten schob sie zuweilen über das Näschen und nippte, die Hand graziös geformt, an der leeren Teetasse.

Würdevoll war ihre Haltung, etwas lässig. Die Umwelt existierte nicht für sie. In vollkommenem Gleichgewicht schwebend saß sie da.

Die Musik wehte. Butterfly.

Ein älterer Offizier mit einer mächtig funkelnden Glatze beobachtete sie in auffallender Weise. Hedi wandte das Gesicht mit einem gelangweilten Blinzeln in eine andere Richtung. Nun aber hatte sich ein junger Herr in einem Klubsessel am Mittelgang niedergelassen. Er trug einen weiten Mantel von auffallend heller Farbe, tadellose braune Stiefel, nagelneu, eine Sehenswürdigkeit in diesen Tagen. Eine Zigarette im Mundwinkel saß er da und stieß mit einem dünnen Stöckchen im Takte der Musik auf den Teppich. Zuweilen ließ er seinen Blick über Hedi gleiten, aber in gänzlich unauffälliger Weise, so daß sie ihn niemals dabei ertappen konnte. Im letzten Moment huschte der Blick stets über sie in die Höhe zur Decke. Vielleicht hatte sie ihn schon gesehen? Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Nun brachte ihm ein Kellner ein kleines Glas und goß 49 eine rote Flüssigkeit ein. Der junge Mann nahm aus seiner Manteltasche einen Pack Papiergeld und reichte dem Kellner eine Note, um gleich darauf wegzublicken. Der Kellner verneigte sich tief. Hedi blickte auf die Armbanduhr, und ihre Miene sah enttäuscht aus. Es war einhalb sieben Uhr. Die Musik spielte einen Tango. Der Herr in dem weilen Mantel hatte die rote Flüssigkeit ausgetrunken, stand auf und ging. Aber nach wenigen Minuten kam er wieder zurück. Er trug einen Strauß weißer Rosen in der Hand, den er vor sich auf den Tisch legte. Er wartet, auch er! Wieder schwebte Hedi in vollkommenem Gleichgewicht.

Dann saßen da noch einige Damen, mit Brillanten, Perlen, Pelzen, Puppen mit einem Wort – Hedi sah sie überhaupt nicht.

Schon begann der Saal sich zu leeren. Die Kellner räumten die Teetische ab. Im Speisesaal flammten Lichter auf und die Kellner gingen hinter den Spiegelscheiben zwischen den weißgedeckten, mit Blumen geschmückten Tischen hin und her und legten die Kuverts auf. Der Herr im hellen weiten Mantel saß immer noch in seinem Klubsessel. Glattrasiert, blau ums Kinn, die gescheitelten Haare pechschwarz, sah er – wie es Hedi schien – wie ein Spanier aus. Er hatte sich bequem zurückgelehnt und starrte sinnend zur Decke empor, während seine Fußspitze im Takte der Musik wippte. Nur zuweilen, wenn er die Asche von seiner Zigarette streifte, glitt sein Blick über Hedi hin. Unbeachtet lagen die weißen Rosen vor ihm auf dem Tisch.

Hedi schob trotzig die Oberlippe in die Höhe gegen den Schleier – sie wurde ungeduldig. Aber in diesem Augenblick sah sie Otto hereinkommen. Er trat schnell durch den Mittelgang. Das Blut stieg ihr in den Kopf, und plötzlich schlug ihr Herz im Halse. Sein braunes Gesicht glänzte von der frischen Luft, und aus diesem braunen, glänzenden 50 Erzgesicht, das sie geliebt hatte, sprühten wild und verwegen die hellgrauen Augen der Hecht-Babenberg.

Welche Träume starben dahin, welche Träume versanken! Während der Tango kollerte, gurrte, kleine wollüstige Schreie ausstieß.

Sie krachten zusammen mit Donnergepolter wie Riesenschlösser, deren Fundament nachgibt, sie zersprangen wie Paläste aus Glas – in nichts!

Babenberg und Rothwasser, die Familiengüter der Hecht-Babenberg – mit den hundertjährigen Bäumen, dem Sommergeruch auf den endlosen Kornfeldern, dem Ziegelwerk, den brüllenden Viehherden bei den Weihern – die Erde verschlang sie! Der Besuch ihres kleinen Papas, den die Bureauluft zur Mumie ausgetrocknet hatte – dahin! Die Berühmtheiten, Feldherrn und Minister, die ihren Hausball besuchten – in Staub zerfielen sie. Ihre Audienz beim Kaiser, ihr Kniefall vor Seiner Majestät, wegen irgendeiner Sache – ein Nebelfetzen! Und all die Phantasien, gesehen in den Augenblicken, da der Blick bricht in Verzückung – nichts!

Während der Tango unter ihren Schuhsohlen im Parkett klopfte.

Er war entschlossen, an seinem Blick konnte sie es sehen –

Nichts blieb als die bescheidene Behausung in der Schaperstraße, wo Papa mit seiner dicken Mappe aus dem Amt kam und nicht gestört werden durfte. Wo man in Pfennigen dachte, wo Klara wie eine Närrin schwätzte –

Chaos umgab Hedi. Sie saß in der Staubwolke ihrer zusammengestürzten Paläste, auf dem Schutt ihrer Reichtümer, eine Bettlerin. Sie saß wie eine Lady, in idealem Gleichgewicht, und ihr Blick flog lächelnd Otto entgegen.

 

Der Herr im hellen Mantel, der Spanier, rief Otto an.

»Ich darf Sie doch heute abend erwarten, Otto?«

»Es kann allerdings etwas später werden.« 51

»Sie wissen, mein Lokal ist die ganze Nacht offen!«

Otto streifte die Handschuhe ab.

»Es schneit wohl wieder?«

»Ja, es schneit, ich bin etwas spät, verzeihe –«

Hedi lachte. »Ich bin vor kaum zehn Minuten gekommen.«

Schon kam der Kellner und brachte Tee.

»Ich habe dem Kellner gesagt, sofort Tee zu bringen, wenn du kommst«, sagte Hedi. »Du hast es gewiß sehr eilig.« Schon errötete Otto und runzelte die Stirn. Etwas gefiel ihm nicht.

Die Musiker packten ihre Instrumente ein und klappten den Flügel zu.

»Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist,« fuhr Hedi fort, »wir sehen uns nun vielleicht lange nicht, vielleicht nie mehr. Und ich wollte gerne . . .« Sie sprach leichthin – ganz Dame.

Ottos blanke, graue Augen waren fragend auf sie gerichtet.

»Ich reise wahrscheinlich.«

»Du reisest?«

»Ja. Nach Schweden. Es ist noch nicht ganz sicher. Man ist an Papa herangetreten.« (Welche Lüge, welch infame Lüge, aber sie war ihr plötzlich durch den Kopf geschossen!)

»So?« Ottos Neugierde war wach, aber er wagte nicht zu fragen.

»Ich werde der Mission attachiert. Wahrscheinlich muß ich nach Rußland. In besonderem Auftrag.«

»Ah!«

Der Herr im weiten hellen Mantel stand auf und grüßte. Er verneigte sich auch gegen Hedi, und während sie ihn kurz anblickte, lächelte sie unmerklich. Aber, sie konnte schwören, sie hätte nie, nimmermehr gelächelt, wäre ihr Herz in diesem Augenblick nicht so voller Bitterkeit gewesen. Der Spanier – er war übrigens nicht hübsch, eher häßlich – war ein Herr Ströbel oder ein Herr v. Ströbel, ein während 52 des Krieges reich gewordener junger Mann. Sie erinnerte sich seines Namens. In seinem Hause, das wußte sie von Otto, fanden jene berüchtigten Spielabende statt, die die ganze Nacht hindurch dauerten.

Verlassen lag der Strauß weißer Rosen auf dem Tisch.

»Ich freue mich übrigens, Hedi –« begann Otto.

»Ich meine – du begreifst ja wohl meine Motive? Es ist mir ja –«

»Bitte, Otto!« unterbrach ihn Hedi. »Ich bin doch keine kleine Verkäuferin« – scherzte sie – »wir wollen gute Kameraden bleiben. Kein Wort weiter. Hast du Zigaretten?«

Der Kellner stürzte mit einem Streichholz herbei. Er störte. Nur um etwas zu sagen, warf Hedi hin, daß das letztemal, als er zur Front reiste, diese furchtbare Hitze in Berlin war. Es lag keinerlei Absicht darin, auf Ehre, allein der dumme Kellner war Schuld daran. Schon stieg ihr die Röte ins Gesicht, und auch Otto errötete plötzlich.

Das letztemal – da war Hedis berühmtes Abschiedssouper gewesen.

Otto war ihr Gast!

Das Auto fuhr und fuhr – damals war Berlin ja noch nicht tot – es fuhr bis zu einem gänzlich entlegenen Hotel am Schlesischen Bahnhof – und Otto mußte sich fügen.

Hedi aber hatte schon alles vorbereitet. Sie hatte dem Besitzer des Hotels mit einem Schwall von Worten erklärt, daß ihr Mann auf Urlaub durchkäme, und daß sie aus der Provinz seien, kriegsgetraut, und daß er nur diese eine Nacht hier wäre, daß sie ihn am Bahnhof abholen und hierher bringen werde. Mit einem Schwall von Worten hatte sie, bebend vor Angst und Aufregung, die Zimmer ausgewählt und das Menü zusammengesetzt. Nichts war gut genug, und der Kellner bekam zwanzig Mark Trinkgeld im voraus, damit er wußte, mit wem er es zu tun hatte.

Die gesamten Ersparnisse eines vollen Jahres gingen darauf. Es gab Kerzen anstatt des elektrischen Lichts, obwohl 53 Kerzen schwer aufzutreiben waren, es gab Rotwein, obwohl Rotwein für die Lazarette beschlagnahmt war, es gab Sekt, obwohl er Unsummen kostete. Die kleine Tafel, die sie selbst deckte, war mit Blumen geschmückt. Er sollte sehen, daß es unsinnig war, den letzten Abend in irgendeinem langweiligen Weinrestaurant zu verbringen. Man mußte nur wissen, wie man es anpackte. Es ging alles in Berlin, aber man mußte etwas Unternehmungsgeist haben.

Und Otto – staunte! Über die Kerzen, den Wein, die ganze Aufmachung, wie er es nannte.

Es war heiß, und die elektrischen Bahnen brausten drunten vorüber. Es war Juli. Ein Bataillon zog zum Bahnhof, singend. Die Musik schmetterte und die Leute schrien begeistert. Berlin, das Berlin des Hochsommers brauste – drunten, tief drunten.

Die Kerzen, der Wein. Er war ihr Gast!

Sie entzog sich ihm nicht, weshalb denn? Sie legte das Kleid ab, sie öffnete ihr Haar. Sie schlüpfte in das dünne Seidenkimono, das sie für diesen Abend geschneidert hatte. Er sollte sehen, daß sie ihn liebte, und daß sie nicht ein albernes Gänschen war. Sie trug ihre kleinen himbeerfarbenen Pantöffelchen.

Berlin, das Berlin des Hochsommers und des Lebens brauste drunten, tief da unten – irgendwo.

Dann kam die Nacht.

Er sollte wissen, daß sie ihn liebte und Mut hatte. Ja, es gehörte Mut dazu, denn Papa würde sie auf die Straße werfen, wenn etwas passierte.

Sie war völlig außer sich vor Raserei. Ja, und sie konnte schwören, daß sie nichts bereute, daß sie es niemals bereute – trotz der fürchterlichen Angst, die sie ausgestanden hatte.

Hunderte von Pferdehufen trappelten auf der Straße – sie hörte sie immer noch – jetzt in dieser Sekunde . . .

Die Zigarette brannte. »Danke«, sagte sie, und der Kellner ging. 54

»Wo liegt dein Regiment jetzt, Otto?« fragte sie, während die Röte ihrer Wangen langsam verflog.

»Ich weiß es nicht genau. Wohl an derselben Stelle.«

Einige Belanglosigkeiten – und plötzlich sieht Hedi auf die Armbanduhr und springt auf. Mein Himmel! Sie reicht dem Kellner eine Note, zehn Mark, das macht drei Mark Trinkgeld, aber sie kann nicht warten bis er herausgibt.

»Nun will ich dir gute Reise wünschen, Otto. Nein, bleibe sitzen. Ich will allein gehen. Ich habe es sehr eilig. Auf Wiedersehen!«

Ihr Aufbruch kam so rasch, daß Otto völlig verblüfft war. Hedi ging, und sie sah die weißen Rosen, die verlassen auf dem Nachbartisch lagen, nicht an. Ganz Lady, schritt sie über die Teppiche.

Ein Nicken, ein Lächeln an der Türe, der Groom verbeugte sich.

Es ging gelinde ab, dachte Otto, der den Kellner ungeduldig herbeiwinkte und es plötzlich ebenfalls sehr eilig hatte. Da fiel ihm ein, daß sein General seinerzeit den gleichen Ausdruck ihm gegenüber gebraucht hatte – damals, als er dreißig Prozent seiner Leute liegenließ. Er hatte die Geschichte erst vorhin Heinz erzählt. Nun, jedenfalls hatte sie sich wie eine Dame benommen. Er fürchtete nichts mehr als Szenen.

Aber ein unangenehmes Empfinden blieb in ihm zurück. Was war es doch?

Er haßte sie in diesem Augenblicke bitter.

 


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