Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Das Antlitz noch immer umwölkt, stieg der General aus dem Wagen. Noch immer war die Ziegelröte nicht völlig verflogen. – 182

Auch dieser Brief – er lag noch in demselben grüngebundenen Buch – auch dieser Brief gab keinen Aufschluß. Er bestärkte wohl gewisse Vermutungen, lüftete aber nicht den Schleier. Dieser Brief lautete:

»Geliebte Ruth! Frevelhaft erscheint es, in dieser entsetzlichen Verfinsterung an das persönliche Glück zu denken. Immerhin, ich unterliege der Versuchung.

Das Gebäude der menschlichen Glückseligkeit, Werk und Vermächtnis der Edelsten, Kühnsten, Reinsten aller Völker, der Seher und Weisen, es scheint in seinen Grundmauern erschüttert.

Verzweiflung erfaßt uns, Dich, mich, alle, die wir an die Sendung der Menschen glauben.

Unzahlen leichtfertiger Gedanken, anscheinend völlig belanglos, Unzahlen leichtfertiger Worte, unscheinbar, leichtfertiger Wünsche, leichtfertiger Handlungen, nebensächlich im einzelnen betrachtet – sie haben diese entsetzliche Verfinsterung herbeigeführt.

Ich glaube – glaube unbedingt an einen Schatz des Guten auf Erden, die Summe aller guten Handlungen, guten Gedanken und guten Worte. Ich glaube, daß dieser Schatz, einzig wahrhafter Besitz der Menschheit, sich unaufhörlich mehren muß – sollen nicht Verfinsterungen wie diese eintreten. Die letzten Generationen und vor allem jene Völker, die sich zivilisiert nennen, haben aber diesen Schatz nicht vermehrt. Sie haben ihn verschleudert, vermindert. Die Schale sank und – wie immer, wenn sie sank – kam die Katastrophe.

Welch ein Irrtum: die Menschheit für den einzelnen!

Wahr ist: der einzelne für die Menschheit!

Jeder einzelne sei Mehrer jenes Schatzes des Guten, Gerechten und Schönen, oder er ist ein – Dieb! Hüten wir uns, die Mörder der kommenden Generation zu werden, wie die vergangene unser Mörder wurde . . .« 183

Hier brach der flüchtig mit Bleistift hingeworfene Brief ab. Seine Fortsetzung fand sich nicht im Buche. Keine Aufklärung also –

In diesem Augenblick schrillte die Klingel der Haustüre.

Der General erschrak. So heftig, daß er einen Stich in der Brust fühlte. Wenn er es auch als seine väterliche Pflicht erachtete – es wäre ihm peinlich . . .

Wieder schrillte die Klingel. Sie klang eigentümlich, hier in Ruths Zimmer – wie ein Signal. Hastig legte er den Brief in das grüngebundene Buch zurück – ein Werk Lassalles – und rasch, scheu, als habe man ihn auf verbotenen Wegen ertappt, eilte er über den Gang.

Es war indessen, Gott sei Dank, nur ein blinder Alarm.

Jakob übergab eine Karte.

»In dringender Angelegenheit. Herr General sind unterrichtet –«

Ein völlig unbekannter Name – Rentier. Unterrichtet? Wahrscheinlich der Hausverwalter; das Badezimmer sollte neu gerichtet werden.

Immer noch etwas verwirrt, ließ der General bitten – zu Jakobs maßlosem Erstaunen.

 

Der General wartete, aber nichts regte sich. Schon in dieser Verzögerung witterte er etwas Ungewöhnliches. Jeder Mann von Erziehung mußte längst eingetreten sein. (Diese Verzögerung entstand dadurch, daß Herr Herbst sich im letzten Augenblick umständlich die Nase putzte.) Übrigens – hieß dieser Hausverwalter nicht anders?

Plötzlich aber verdunkelte ein Schatten die Türe – und im gleichen Moment erbleichte der General . . .

Augenblicklich hatte er dieses Gesicht wiedererkannt!

Jenes Gesicht, das an Doras Geburtstag durch die Scheibe des Foyers spähte – nein, nicht jenes, sondern das andere, das er erblickt hatte, als er am Schreibtisch eingenickt war, als es so eigentümlich an die Scheiben pickte – das Drohung 184 und Kälte ausstrahlte . . . Augenblicklich erinnerte er sich an alles. Es war ja erst vor wenigen Tagen.

Scheu und blaß stand das Gesicht in der Türe, und ganz langsam und zögernd kam es näher. Nicht Drohung, nicht Kälte – Angst, Hilflosigkeit, Verwirrung.

Das Blut kehrte in das Gesicht des Generals zurück. Die leichte Lähmung wich aus seinen Händen.

Unsicher trat Herr Herbst in seinem verknüllten schwarzen Gehrock ins Zimmer, den Zylinder in der Hand. Er verbeugte sich tief, voller Ehrerbietung.

In dieser Verbeugung verharrte er ungewöhnlich lange. Er erwartete irgendein Wort. Dann richtete er sich verlegen auf und blickte dem General mit seinen entzündeten tränenden Augen ins Gesicht, ohne irgend etwas zu sehen.

Der General räusperte sich, und Herr Herbst beantwortete dieses Räuspern mit einer neuen, wenn auch weniger tiefen Verbeugung.

»Bitte«, sagte der General, etwas unsicher und mürrisch, und deutete auf einen Sessel. Rot funkelte die Sonne ins Zimmer.

Herr Herbst nahm auf der Kante des Sessels Platz, hielt den Zylinder in der Hand und begann zu zittern . . .

Ja, er zitterte. Seine Zähne schlugen aufeinander. Der Sessel schwankte, er fürchtete auf den Boden zu stürzen. Feuer blies aus der Wand.

Rot wie ein Gebirge bei Sonnenuntergang leuchtete das breite Gesicht des Generals im Schein der sinkenden Sonne. Riesenhaft wie ein Gebirge erschien der General Herrn Herbst in diesen Sekunden schrecklichster Angst.

Der – »Blut-Hecht!« Wie? Ja, er – so nannten ihn seine Soldaten . . .

Erst jetzt, da es zu spät war, begriff er, was er gewagt hatte, wem er sich gegenüber befand.

Der . . . 185

Was hätte er gegeben, alles, alles, wenn er nur wieder auf der Straße wäre.

Der General schnitt behutsam die Spitze einer Zigarre mit dem Federmesser ab.

»Ich bitte –?« sagte er leichthin, während er die Zigarre zwischen den Fingern rollte. »Was wünschen Sie?« Er hatte das Gleichgewicht völlig wiedergefunden.

Sein Blick glitt flüchtig über das zitternde Häufchen Hilflosigkeit in dem abgetragenen schwarzen Rock. Ohne sich dessen bewußt zu werden, genoß er die Angst, die er seinem Besuche einflößte, denn kein Mensch, er sei denn von seltener Güte, kann einen andern zittern sehen, ohne sich augenblicklich erhoben zu fühlen. Oben und Unten, Herren und Knechte, nie hatte der General eine andere Gesellschaftsordnung auch nur in Gedanken erwogen. Es waren Gesetze, von Gott gegeben, die man hinnahm, ohne darüber weiter nachzudenken. Bis zum jüngsten Tage wird es Oben und Unten, Herren und Knechte geben. Andere als dieser hatten vor ihm gezittert – Soldaten und Offiziere – und sie hatten gezittert wenige Minuten, bevor sie in den Tod gingen.

Herr Herbst bewegte die Lippen – aber in diesem Augenblick zwitscherte ein Vogel irgendwo, und erschrocken wartete er.

Wieder bewegte er die Lippen. Er mußte sprechen, Worte, irgendein Wort, es war höchste Zeit. Wie lange noch sollte dieser andere – dieser hier – schon sank die Sonne, dämmerte es im Zimmer – nur dieses breite starre Gesicht leuchtete noch.

Und plötzlich flüsterte er. Aber er erschrak bis ins Mark über die Worte, die von seinen Lippen kamen – keineswegs die Worte, die er sich zurecht legte und einübte, in den Nächten, auf der Straße, wenn er so dahinging.

Seine Lippen flüsterten, kaum vernehmbar:

»Geben Sie mir meinen Sohn wieder!« 186

Und schon hob er erschrocken die Hand, um die Worte zurückzuhalten.

Aber der General konnte sie gar nicht gehört haben, kaum, daß sie bis in seine eigenen Ohren drangen.

Das Gesicht des Generals wurde fahl und erdig. Die Sonne war fort. Starr stand er vor ihm, unerbittlich, schweigend, und die Augen forschten – kalt, ohne Erbarmen.

Hastig bewegte er von neuem die Lippen. Aber obschon er diesmal eine bestimmte Redewendung, die mit »Bitte gehorsamst« begann, auf den Lippen formte, flüsterten seine Lippen, ganz gegen seinen Willen, die gleichen furchtbaren Worte wie vorher:

»Geben Sie mir meinen Sohn wieder!«

Diesmal schon etwas vernehmbarer.

Er fuhr zusammen, erschauerte, suchte nach dem Taschentuch.

Da erklang die Stimme des Generals. Ruhig und beherrscht – mit jener doppelten Ruhe und Überlegenheit, die sich ganz von selbst bei allen Menschen von nicht seltener Güte einem zitternden Menschen gegenüber einstellt.

»Sie haben mir neulich geschrieben?« sagte die ruhige und überlegene Stimme.

»Bitte gehorsamst, Exzellenz!«

»Sie haben mir geschrieben – Ihr Sohn, wenn ich mich recht erinnere –?«

»Mein Sohn Robert, Euer Exzellenz!« Prächtig ging es nun. Röte huschte über das bleiche, kleine Gesicht. Der Sessel hörte auf zu schwanken, die Gestalt des Generals nahm natürliche Maße an.

»Er ist –?«

»Gefallen. Am 5. August«

»Fünften, sagten Sie?«

»Fünften, Euer Exzellenz. Beim Sturmangriff auf Quatre vents. Am vierten hatte bereits ein Jägerbataillon gestürmt, vergeblich, am fünften . . . da fiel er.« 187

Der General ließ den Blick rügend auf Herrn Herbst ruhen. Dieses leicht kritische »vergeblich«, wahrscheinlich ohne besondere Absicht geäußert, mißfiel ihm.

»Er fiel für Kaiser und Reich!« sagte er mit etwas salbungsvoller, tieftönender Stimme.

Die kleinen entzündeten Augen blinkten. Herr Herbst leckte sich die schmalen Lippen, und ein paar gelbe Zahnstumpen wurden sichtbar. Einen Augenblick schien es, als ob sein Gesicht sich zu einer Grimasse von satanischem Hohn verzerren wolle.

»Wie Tausende und Hunderttausende, wie Millionen –!« fuhr der General fort, und seine Stimme hob sich.

Wieder verzerrte sich das kleine fahle Gesicht, dann aber zog er das Taschentuch heraus und preßte es an die Augen. Der Schmerz überfiel ihn. Er wimmerte leise.

Plötzlich aber knallte es – ganz wie heute vormittag im Foyer, als er mit dem Portier sprach – der Zylinder war auf den Boden gefallen.

»Bitte gehorsamst –« stammelte Herr Herbst erschrocken und hob den Zylinder auf. Schwindel ergriff ihn, als er sich wieder setzte und die Tränen abwischte. Das Zimmer drehte sich im Kreise, eine Faust preßte seinen Magen zusammen. Ah, wenn es ihm nun übel würde! Das wäre eine Sache! Er hatte ja die ganze Nacht hindurch getrunken, und plötzlich fühlte er die Betrunkenheit. Beschütze mich Gott! Mit Spitzbuben hatte er getrunken, richtigen Spitzbuben, die Werkzeuge in einem Brotbeutel bei sich führten – in einer Kneipe, im Hof, die die ganze Nacht offen war. Wenn der General nun bemerkte –

Aber der General war zum Schreibtisch gegangen und hatte ein Schubfach aufgezogen. Er drehte das Licht an.

»Verstehen Sie Karten zu lesen – Herr –?«

»Herbst.«

»Herr Herbst? Nun, ich hätte Ihnen sonst erklären können, was ich beabsichtigte. Wir haben am 4., 5. und 188 6. August gekämpft und die Höhe leider räumen müssen, weil man uns die Reserven versagte . . .« Versöhnlich klang plötzlich die Stimme des Generals. Auch er hatte ja einen Sohn im Kriege verloren. Auch er war ein Vater, der trauerte. Der Krieg hatte alle gesellschaftlichen Bande gelockert. Über manches mußte man in dieser Zeit hinwegsehen. »Hier ist die Höhe,« fügte er hinzu, »wo Ihr Sohn für die Größe und Ehre des Vaterlandes . . .«

Taumelnd erhob sich Herr Herbst. Ja, der Rausch kam, ohne Zweifel.

»Sie sind nicht von hier?«

»Aus der Provinz, Euer Exzellenz!«

»Beruf?«

»Früher Lehrer an einem Gymnasium.«

»Bitte, treten Sie ruhig näher.«

Auf der großen und ausgezeichnet scharfen Photographie sah Herr Herbst zunächst nichts. Ein Meer, wie, was war das? Wellen, Wogen. Ein Ozean in Aufruhr! Dann aber unterschied er Baumstrunke, die kreuz und quer aus diesen furchterweckenden Wogenbergen hervorstanden, und einen schmalen Erdgang der mitten in die Wogenberge aus erstarrtem Schmutz hineinführte – es war die Kuppe der Höhe selbst, von den Minen zerrissen.

Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit pflegte der General diese erschreckend realistische Aufnahme Besuchen zu zeigen.

»Das also ist Quatre vents!« sagte er.

Herr Herbst atmete schwer.

 


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